Kim Hye-Jin: Die Tochter

Buch

Entfremdung, Generationenkonflikte, Homophobie – das sind die Themen von „Die Tochter“, der jüngsten Literatur-Sensation aus Südkorea. Kim Hye-Jin erzählt in ihrem Roman vom Alltag einer traditionsbewussten Sechzigerin, die ihr kleines Haus in Seoul notgedrungen mit ihrer lesbischen Tochter und deren Freundin teilen muss. Die Autorin formt aus dem  Aufeinandertreffen der drei grundverschiedenen Frauen vor allem eine sensible Charakterstudie der Mutter. Anja Kümmel über einen Roman, der Leser:innen aufgrund seiner provokanten Erzählperspektive einiges abverlangt, die Widersprüche innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft aber umso deutlicher macht.

Bloß nicht aufmucken!

von Anja Kümmel

Die tiefe Kluft zwischen Mutter und Tochter wird bereits in der ersten Szene deutlich: Beim wöchentlichen gemeinsamen Mittagessen, das beide lustlos absolvieren wie eine lästige Pflicht, hört die Mutter so gut wie nichts von dem, was ihre Tochter ihr erzählt. Stattdessen fixiert sie sich auf unliebsame Details in deren Erscheinungsbild: die schief gelaufenen Sohlen ihrer Turnschuhe, den ausgefransten Saum ihrer Jeans. „Warum stellt sie all die Dinge, die niemanden etwas angehen, wie ihre prekäre Lage, ihre Nachlässigkeit und das mangelnde Feingefühl, einfach so zur Schau?“, fragt sie sich indigniert. Gleichzeitig ist sie sich ihres eigenen Äußeren überbewusst – ihrer Falten, ihres krummen Rückens, ihrer Altersflecken. Und rechnet stets damit, dass jemand eine abfällige Bemerkung über sie machen könnte.

Die Erzählperspektive, die Kim Hye-Jin, 1983 geboren in Südkorea, in ihrem von Ki-Hyang Lee ins Deutsche übersetzten Roman „Die Tochter“ einnimmt, ist so riskant wie herausfordernd. Instinktiv wollen wir uns auf die Seite der Tochter schlagen, von der wir im Laufe des Romans erfahren: Sie ist Mitte 30, studiert, politisch aktiv und – zum großen Leidwesen ihrer Mutter – lesbisch. Doch Hye-Jin verwehrt uns den einfachen Weg der Identifikation. Stattdessen zieht sie uns hinein in die engstirnige, neurotische und homophobe Gedankenwelt einer über 60-jährigen, verwitweten Arbeiterin, die geprägt ist von der Sorge, was wohl die Nachbarn denken, und einer regelrechten Panik vor der drohenden Einsamkeit im Alter. Doch auch wenn man beim Lesen gelegentlich verärgert den Kopf schüttelt, gelingt es der Autorin, uns diese Frau ein Stück weit näherzubringen, ihre Ängste und Abwehrhaltung zumindest nachvollziehbar zu machen.

Kim Hye-Jin – Foto: Minumsa

Der Kunstgriff besteht darin, dass Hie-Jin uns in nüchterner Sprache und dennoch voller Empathie teilhaben lässt am beschwerlichen Alltag ihrer Ich-Erzählerin: Sie arbeitet in einem Pflegeheim, in dem permanente Überforderung, Personalmangel und eine menschenfeindliche Profitlogik herrschen. Kein Wunder also, dass ihr davor graut, irgendwann selbst in eine solche Einrichtung abgeschoben zu werden, oder sich ihre Tochter in einer solchen vorzustellen. Ihre Schlussfolgerungen allerdings sind zweifelhaft: Nur die heterosexuelle Ehe und eigene (biologische) Kinder, so ihr Mantra, können einen vor diesem Schicksal bewahren.

Als Folie dieser Überzeugung dient ihr eine Patientin, mit deren persönlicher Pflege sie betraut ist: Tsen, eine ehemalige politische Aktivistin ohne eigene Familie, die nun allmählich in die Demenz abdriftet. „Eine bedauernswerte, unglückliche Person, die allein dem Lebensabend entgegendämmert, nachdem sie ihre besten Jahre damit verschwendet hat, sich für andere, die Gesellschaft und höhere Ziele aufzuopfern“, so das unerbittliche Urteil der Erzählerin.

Zugleich macht das Buch deutlich, dass nicht allein persönliche Paranoia die Mutter umtreibt: Im patriarchal dominierten Südkorea haben alleinstehende oder verwitwete Frauen tatsächlich kaum Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Gleichgeschlechtliche Ehen sind verboten, und queere Menschen müssen sich im Alltag verstecken, um Diskriminierungen zu entgehen. Den impliziten und expliziten Druck, der auf all denjenigen lastet, die einen anderen als den vorgezeichneten Weg gehen, flicht Hye-Jin immer wieder in die Geschichte ein: mal sind es harmlose Beiläufigkeiten, wie etwa die Vorgesetzte, die auf ihrem Handy Fotos von ihrem Enkelkind herumzeigt, mal drastische Szenen, wie etwa die gewaltvollen Übergriffe auf Uni-Angehörige, die gegen die Entlassung homosexueller Dozent:innen protestieren.

Da auch die Tochter der Ich-Erzählerin zu diesen Protestierenden gehört und damit ihre ohnehin prekäre Beschäftigung als Lehrbeauftragte aufs Spiel setzt, kann sie schon bald ihre Miete nicht mehr zahlen. Sie zieht temporär zurück zu ihrer Mutter – und bringt ihre Lebensgefährtin gleich mit. Man könnte meinen, dass nun Bewegung in die starre Gedankenwelt der Mutter kommen müsste, doch Hye-Jins Erzählerin ist eine Meisterin in Sachen Realitätsverweigerung. Weiterhin nennt sie die Partnerin ihrer Tochter nur „das Mädchen“, um sie auf Distanz zu halten. Obwohl die beiden seit sieben Jahren ein Paar sind, macht sie sich immer noch Hoffnungen auf eine Kehrtwende: „Vielleicht ist der Spuk in einigen Tagen oder Monaten vorbei, als wäre nichts passiert?“

Den abweisenden Blicken und vernichtenden Worten ihrer Schwiegermutter wider Willen begegnet „das Mädchen“ mit stoischer Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und nicht zuletzt ihren vorzüglichen Kochkünsten. Wer jetzt allerdings ein kitschiges „Liebe geht durch den Magen“-Narrativ erwartet, an dessen Ende eine Hollywood-mäßige Versöhnung steht, hat sich getäuscht. Stur hält die Erzählerin an ihrem Glauben fest, wer so vorbildlich einen Haushalt zu führen weiß, soll sich gefälligst endlich einen tüchtigen Mann suchen, mit dem sie Kinder bekommen kann.

Erst ganz allmählich bekommen ihre festgefahrenen Meinungen Risse, beginnen ihre Vorurteile zu bröckeln. Eine weitere Erkenntnis, die wir dieser ungewöhnlichen, stellenweise frustrierenden Erzählperspektive verdanken: Je öfter die Mutter ihr Mantra wiederholt, desto dissonanter und unwahrhaftiger beginnt es zu klingen. Auch wenn sie es selbst noch nicht benennen kann oder will, ahnen zumindest wir Leser:innen, dass sie nicht mehr wirklich überzeugt ist von dem, was sie von sich gibt. Geschickt streut die Autorin immer wieder kleine Widersprüche in den Text, die der Erzählerin anscheinend nicht als solche auffallen. „Nur wenige Kinder besuchen ihre Eltern regelmäßig, nachdem sie sie in ein Pflegeheim gegeben haben“, heißt es etwa in einem Nebensatz, obwohl vorher immer wieder darauf beharrt wurde, dass eigene Nachkommen vor Vereinsamung im Alter bewahren. Gegen Ende erfahren wir auch, dass ihr Ehemann die meiste Zeit arbeitsbedingt abwesend war, sodass die Kindererziehung allein an ihr hängenblieb. „Mein Ehemann war ein emotionsloser Eisklotz und hätte unsere Tochter wahrscheinlich aus unserer Familiengeschichte radiert“, heißt es an anderer Stelle. Wie weit her war es also mit den viel beschworenen „Freuden, die eine Frau mit einem Mann empfinden kann“, wenn sie auf ihr eigenes Leben zurückblickt? Und wie verlässlich sind Blutsbande, eine heterosexuelle Ehe wirklich? Zwar stellt sich die Protagonistin diese Fragen nicht explizit – im Text jedoch sind sie angelegt.

Hye-Jin hat für ihren Roman einen nüchternen, schnörkellosen Stil gewählt, der selbst in dramatischen Situationen distanziert-beschreibend bleibt. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig, da Emotionen größtenteils außen vor gelassen werden. Zugleich trifft diese Erzählweise perfekt die Lebenshaltung der Ich-Erzählerin: Nicht aufmucken, so widrig die Umstände auch sein mögen, bloß keine Regung zeigen.

Gegen Ende allerdings kippt der rigide Duktus. Als Tsen auf eine andere Station verlegt werden soll, beginnt die Erzählerin gegen die Verhältnisse im Pflegeheim aufzubegehren, erst zaghaft, dann immer lautstärker und tatkräftiger. Ihr selbst ist es wohl noch nicht bewusst – doch die Worte ihrer Vorgesetzten, gegen die sie nun rebelliert, sind beinahe dieselben, mit denen sie eben noch an ihre Tochter appellierte: „Sag nichts. Verhalte dich ruhig. Es ist so, wie es ist. Fang nicht an zu diskutieren.“ Und genau dazu ist die Mutter nun nicht mehr bereit. Sind sich die beiden Frauen in ihrem Wesen doch ähnlicher als sie vermuten? Diese Ahnung deutet der Text zumindest an, auch wenn sich Mutter und Tochter (noch) nicht darüber austauschen und dadurch aneinander annähern können. Dramatische Durchbrüche und 180-Grad-Wendungen hält „Die Tochter“ also nicht bereit – dafür bleibt die Erzählung authentisch und glaubwürdig, indem sie eindrücklich die Ambivalenzen, kognitiven Dissonanzen und innerlich widerstreitenden Gefühle ihrer Ich-Erzählerin dokumentiert. Wenn sie sich im letzten Kapitel fragt: „Wo in diesem ganzen Chaos stehe ich?“, dann begreifen wir, dass sie bereits einen weiten Weg gegangen ist.




Die Tochter
von Kim Hye-Jin
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Hardcover, 174 Seiten, € 20,00
Hanser Berlin

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