Nico

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Ein rassistisch motivierter Überfall reißt die junge Deutsch-Perserin Nico aus ihrem Alltag. Mit dem Training bei Karate-Weltmeister Andy versucht sie, ihre Wut in den Griff zu bekommen und das Trauma zu überwinden. Richtig gelingt ihr das aber erst, als sie die Mazedonierin Ronny kennenlernt, die heftig mit ihr flirtet. In „Nico“ zeigen Regisseurin Eline Gehring, Hauptdarstellerin/Produzentin Sara Fazilat und Kamerafrau Francy Fabritz, die zu dritt auch das Drehbuch geschrieben haben, wie sich Nico ihre Stärke zurückerobert. Angelika Nguyen über einen authentischen Film aus Berlin voller Energie, der ohne Kitsch auskommt und Queerness lebt, statt sie zu thematisieren.

Foto: UCM.ONE

Egal, wie schlimm es war …

von Angelika Nguyen

Leicht beginnt der Film. Nico schmiert einer blöden Autofahrerin, die sie beleidigt hat, einen Donut auf die Windschutzscheibe. Fernandez, der erste ihrer zu betreuenden Menschen, ist gut drauf, Brigitte, die zweite Hauspatientin, genießt die umfangreiche Körperpflege. Die ersten Szenen zeigen Nico bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin und wie liebevoll und fröhlich der Kontakt zwischen ihr und ihren Klienten ist. Mit wenigen Strichen erzählt der Film das. Dann wechselt er zu Nicos Freizeit, in der sie mit ihrer besten Freundin Rosa umherzieht, die wie sie Deutsch-Iranerin ist. Mühelos wechseln sie zwischen Deutsch und Persisch hin und her, streiten sich: über Verschleierung muslimischer Frauen und die Schädlichkeit von Jointrauchen. Sie tanzen mit Fremden im Park, sie lachen viel.

Nach diesem fröhlichen Intro passiert der Überfall. Nico ist gerade allein auf dem Heimweg. Minutiös zeigt der Film den Ablauf. Erst glaubt Nico noch, sich verbal rausziehen zu können, sie ist eigentlich eloquent, furchtlos und kontaktfreudig. Dann schlagen die Angreifer zu, immer weiter, auch noch, als sie am Boden liegt. Die rassistischen Kommentare sind deutlich. Vor allem eine blonde Frau fällt auf. Deren scharfe Verbalattacken, die die Schläge begleiten, werden Nico noch lange im Kopf hinterherhallen.

Das alles geschieht in dem ersten 15 Minuten. In der folgenden Stunde erzählt der Film, wie das Trauma Nicos Leben verändert. Wie ihr Verhalten sich ändert, gegenüber Fernandez und Brigitte, die ratlos sind, und gegenüber Rosa, die sie zu trösten versucht. Wie sie fortan mit Basecap und Kapuzenpulli das immer noch blau verschwollene Gesicht verhüllt, nicht gesehen sein will. Wie die Straße für Nico sich in einen Gefahrenraum verwandelt hat. Die Kamera folgt ihr dicht. Erinnerungsfetzen vom Angriff tauchen wieder auf. Sie meidet Menschenansammlungen, kauft nur rasch ein. Sie zieht sich zurück, lässt sich von Rosa bei der Arbeit vertreten, antwortet schließlich auf deren Anrufe nicht mehr. Sie ist am Tiefpunkt, ab dem es eigentlich nur noch aufwärts gehen kann.

Dann der Aufbruch. Rasch, mit einem Schnitt, ist Nico in der Karateschule von Andy. Auch wenn man nicht weiß, dass der Darsteller des Andy auch im wahren Leben Karate-Lehrer in Neukölln ist und selbst einen schweren Weg hinter sich hat, spürt man den authentischen Nachdruck solcher Sätze wie: „Ick bin nicht dein Feind. Dein Feind ist da draußen. (…) Die hätten dich totmachen können.“

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Auf dem Rummel, zu dem Rosa Nico endlich überreden konnte, treffen sie das mazedonische Mädchen Ronny – und sind beide hin und weg. „Ich könnte sterben für ihren Hintern“, sagt Rosa auf Persisch zu Nico. Der Besuch im Spiegelkabinett wird zum visuellen Spiel zwischen Regisseurin, Kamerafrau und den drei Darstellerinnen: der kokette Tanz von Rosa, das Facing von Nico mit sich selbst, als fixiere sie ihre Karate-Gegnerin, und Ronnys blondes, junges Lachen. Und dann gibt es da noch diese seltsame Spannung zwischen dem Mädchen und Nico, die nicht nur erotisch ist. Irgendwie scheint Ronny Nico wieder zu erkennen… doch dieses Geheimnis wird noch eine Weile unentdeckt bleiben.

Beim Scooterfahren lacht Nico zum ersten Mal wieder. Sie ist ein bisschen verliebt. Der Film erzählt, wie sie in einem schmerzhaften Zick-Zack-Prozess zum Widerstand findet – und auch zu sich selbst ein neues Verhältnis bekommt. Körperlich, aber vor allem psychisch. Da geht es noch durch einige Krisen: mit Rosa, die Nico anschreit: „Denkst du ernsthaft, wir fallen nicht auf in dieser scheiß-weißen Welt!“; mit Andy, der sie einmal aus der Schule wirft, weil sie ihre Wut nicht im Griff hat; mit Brigitte, die plötzlich die Rollen mit ihr tauscht und ihr etwas kocht und ihr zuspricht: „Dit Leben ist zu kurz für so‘n langet Jesicht!“.

Foto: UCM.ONE

Drei Frauen haben diese Filmgeschichte geschrieben: Eline Gehring (außerdem Regie), Sara Fazilat (außerdem Hauptrolle und Produktion) und Fanny Fabritz (außerdem Kamera). Ein ungewöhnliches Schauspielensemble aus Laien, die unter ihren echten Namen auftreten, (Isidoro Fernandez, Brigitte Kramer, Andreas Marquardt) und gelernten Schauspielerinnen (auch einprägsam als Rosa: Javeh Asefdjah) bestimmt die Atmosphäre des Films. Ein Wagnis, das gelingt. Jede einzelne der Hauptfiguren hat irgendwann mal ihre eigene Verletzung davongetragen, das weiß der Film als Unterfutter zu setzen, ohne dass es konkret erwähnt wird.

Zentral im Ensemble ist die Darstellungskraft von Sara Fazilat, die zuvor vor allem in TV-Filmen aufgetreten war. Auch wenn sie oft nur in komischen Nebenrollen besetzt wurde, kam da eine ungewöhnliche Präzision rüber. Aufgefallen war sie schon als kleine Schwester in „Die Füchsin“. Zum Schreien sarkastisch war sie im Werbevideo für Frauen-Selbstverteidigung im Frankfurter Tatort. „Nico“ ist Fazilats Abschlussfilm an der DFFB, im Fach Produktion. Sie bekam mit „Nico“ den Preis als Beste Nachwuchsschauspielerin auf dem Max-Ophüls-Festival, wobei man die Vorsilbe „Nachwuchs“ getrost weglassen könnte. Und soeben wurde sie sogar für den Deutschen Filmpreis in der Kategorie „Beste weibliche Hauptrolle“ nominiert.

Foto: UCM.ONE

Welche Farbe Nicos Karategürtel am Ende haben wird, ist nicht wichtig. Das ist keine „Million-Dollar-Baby“-Geschichte. In „Nico“ geht es darum, dass der Hauptfigur niemals mehr jemand weh tut. Es geht darum, wieder leicht über die Straßen gehen zu können, vielleicht mit Ronny, auf jeden Fall mit Rosa und zu Brigitte und Fernandez – und es die Treppe zum S-Bahnhof hinaufzuschaffen, ohne Angst.

„Nico“ ist ein Film, der ohne Kitsch bestärkt und ohne Tragik erschüttert, der Queerness lebt, statt sie zu thematisieren. Und nicht zuletzt ist es ein Film, der das geballte Potential typisch Berliner Vielfalt in sozialer, erotischer, ethnischer, sprachlicher Hinsicht zum Antrieb seiner Geschichte macht. Und das, wie Andy sagen würden: Egal, wie schlimm es war.




Nico
von Eline Gehring
DE 2021, 75 Minuten, FSK 12,
deutsch-englisch-persische OF, teilw. mit deutschen UT,
UCM.ONE

Seit 12. Mai im Kino.

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