Minjan

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David stammt aus einer russischen Einwandererfamilie und nimmt als guter Sohn regelmäßig an den Gottesdiensten seiner jüdischen Gemeinde teil, um das nötige Quorum zu erreichen. Doch als Junge, der auf andere Jungs steht, fühlt er sich von den strengen Regeln seiner Community mehr und mehr eingeengt. Ausgerechnet die Nachbarn seines Großvaters, ein älteres schwules Paar, lassen ihn die Möglichkeiten homosexueller Liebe erahnen – aber auch die plötzliche Vergänglichkeit allen Lebens. In seinem vielschichtigen Regiedebüt erzählt Eric Steel vom sexuellen Erwachen und einem Glaubenskonflikt inmitten eines noch nicht gentrifizierten New Yorks Ende der 80er Jahre. Für unseren Autor Manuel Schubert kollidieren in „Minjan“ zudem die Erinnerungen an den Holocaust mit den Erfahrungen der Aids-Epidemie. Über einen Film, der zeigt, wie scheinbar Unaussprechliches doch sagbar gemacht werden könnte.

Foto: Salzgeber

Woher Du kommst

von Manuel Schubert

David ist ein Teenager, gerade noch so. Er lebt mit seinen Eltern in Brighton Beach. Ein Stadtteil mit der Metropole New York im Rücken, der lärmenden Hochbahn mittendurch und dem Atlantikstrand nach vorne raus. Ein urbanes Paradies, wie es das glatt gentrifizierte Manhattan schon lange nicht mehr ist. Erst recht, wenn die filmische Erzählung an der Zeit dreht und uns in eine längst vergangene Epoche transportiert: 1986/87.

Diese besondere Zeit – schon fast Ende der 80er, aber doch noch in sicherer Entfernung zum Epochenwechsel 89/90 – spiegelt Filmemacher Eric Steel in seinem Spielfilmdebüt „Minjan“ in mehrfacher Hinsicht. Da wäre zum einen besagter David, erster Sohn jüdischer Emigrant:innen, die wie so viele andere Juden auch in den 1970ern aus der Sowjetunion nach Brighton Beach kamen. Und dem Stadtteil zeitweise den Spitznamen „Little Odessa“ einbrachten. Da wäre zum anderen der Autor James Baldwin, der am 1. Dezember 1987 verstarb und dessen Literatur im Film einen wichtigen Platz einnimmt. Und schließlich markiert diese Zeit die Hochphase der Aids-Epidemie – mit New York als Epizentrum einer Katastrophe, die ganze Generationen schwuler Männer auslöschte. Und in deren Zeichen nun auch das sexuelle Erwachen von David steht, der sich gerade zum ersten Mal verliebt hat, in einen seiner Klassenkameraden.

Was ist „Minjan“? Coming-out-Film? Drama? Dramödie? Milieustudie? Kammerspiel? Die formale Uneindeutigkeit korrespondiert mit den uneindeutigen Suchbewegungen von David. Wohin will er in seinem Leben, wohin in seinem Glauben und was soll er mit seinem Begehren anstellen? David steht für eine neue Generation schwuler Männer, aber auch für eine neue Generation Juden, die fernab jener mit den Schrecken des Holocaust gefüllten Orte Osteuropas aufwachsen. Und die doch vom allgegenwärtigen Klammern der vorherigen Generationen an den Traditionen des Glaubens und deren Erinnerungen an Heimat und Holocaust bestimmt werden.

„Minjan“ beginnt mit einem Tod. Die erste Sequenz zeigt uns eine eher schmucklose Trauerzeremonie in einer schmucklosen Wohnung: hässlicher Teppich, hässliche Couch, hässliche Tapete. Davor die Trauergemeinde in Schwarz und auf Socken. Davids Großmutter ist verstorben, die hinterbliebenen Familienmitglieder stehen zusammen. Der Großvater Josef spricht das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Kaum ist er verstummt, löst sich die Gruppe auch schon wieder auf. Davids Mutter stürzt sich unverhohlen auf Papiere. Die Wohnung ist zu teuer, murrt sie, Josefs Rente allein reicht nicht für die Miete. „Hör nicht auf sie“, versucht David seinem Großvater beizustehen. „Ich hab schon vor langer Zeit aufgehört, auf sie zu hören“, entgegnet der lapidar.

Foto: Salzgeber

Großvater und Enkel sind sich eng verbunden. Die Beziehung zur Generation dazwischen, zu Davids Eltern, ist indes schwierig. Als Josef einen heißbegehrten Platz in einer jüdischen Seniorenresidenz ergattert, ist es selbstverständlich, dass David seinem Großvater hilft. Als es darum geht, das Quorum von zehn gläubigen Juden – Minjan genannt – zu erfüllen, das Heimleiter Zalman für die Gottesdienste im Haus benötigt, verpflichtet sich David, regelmäßig bei den Gottesdiensten dabei zu sein. Was ihm nicht schwer fällt, ist er doch in seinem Glauben neugierig und wartet zu Hause doch nur seine überfürsorgliche Mutter, die nicht sehen will, dass ihr Ehemann heimlich andere Frauen vögelt.

Die Seniorenresidenz wird für David indes bald zu einem Fluchtraum in noch ganz anderer Hinsicht: Die Nachbarn seines Großvaters wecken seine Neugierde. Alle im Heim sagen, Itzik und Herschel seien nur zwei alte Witwer, die sich eine Wohnung teilen. Doch mit Zahnbürsten im selben Zahnputzbecher und nur einem Ehebett im Schlafzimmer? Ohne viele Worte erkennen sich hier bald drei schwule Männer gegenseitig.

Foto: Salzgeber

„Minjan“ ist ein filmisches Nachdenken über die Dinge, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht gesagt oder nur zwischen den Zeilen formuliert werden können. Eric Steel skizziert mit großer Empathie, wie eine Alltagskultur aussieht, die von schmerzhaften Erinnerungen, von Tabus, Traumata und unheilbaren Narben bestimmt wird. Steel vermeidet dabei klug die großen Gesten. Es sind die kleinen Details, mit denen er ganze Welten zeichnet. Jede Figur hat eine eigene Geschichte, oft nur durch eine Nuance angetippt und doch tiefgreifend und in Erinnerung bleibend.

Wo Worte nicht taugen, dringen andere Kommunikationsformen nach vorne. In „Minjan“ erzählen die Augen, was los ist. Blicke, mal abschätzend, mal prüfend, mal nach Sicherheit tastend, manchmal auch einfach nur den Versuch einer Selbstvergewisserung unternehmend – mit ungewissem Ausgang. Häufig blicken die Augen in Spiegel, manchmal auf die halb entblößte Hüfte eines jungen Männerkörpers oder einen nackten Po auf der Couch. Manchmal blicken die Augen ins nur scheinbar Leere. In diesen stillen Momenten tastet sich die Kamera sachte an die Gesichter heran, versucht das Unaussprechliche doch irgendwie verständlich zu machen. Versucht in den Menschen zu lesen, in Menschen wie Büchern.

Foto: Salzgeber

Vordergründig verhandelt Steel in „Minjan“, auch wenn der Film auf einer Erzählung des kanadischen Autors David Bezmozgis basiert, seine eigene Geschichte als junger schwuler Jude im New York der 1980er. Der Film legt aber zugleich auch eine Parallele zwischen den emotionalen Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden und den Überlebenden der Aids-Epidemie nahe. Sie haben nicht dasselbe erlebt, denn es gibt zum Holocaust keine Entsprechung, jeder Vergleich verbietet sich. Und doch scheint Steel dafür zu plädieren, dass die Verheerungen, die zigfaches und willkürliches Sterben in den Seelen jener anrichtet, die zurückbleiben, eine unleugbare Wesensverwandtschaft aufweisen. Das ist durchaus ein streitbarer Standpunkt. Und doch, er ist legitim.

An einer Stelle in „Minjan“ wird David von Bruno, seinem ersten und viel älteren Lover, wütend gefragt, ob er denn überhaupt nichts wüsste. David hatte darauf insistiert zu erfahren, was die Namensliste in Brunos Küche bedeutet. Es ist eine Liste von Brunos verstorbenen Freunden. Von Aids wusste David bis dahin tatsächlich noch nichts. Dafür weiß er um die anderen Schrecknisse, die sein Leben als Jude seit seiner Geburt überschatten. Und er weiß, und wir wissen es am Ende dieses faszinierenden und leisen Films ebenso, wie wenig es bringt zu schweigen. „Minjan“ ist kein Coming-out-Film, zum Glück. Es ist ein Plädoyer für die Macht der Empathie.




Minjan
von Eric Steel
US 2020, 118 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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