Sigrid Nunez: Sempre Susan

Buch

In den 1970er Jahren teilten sich die US-amerikanische Autorin Sigrid Nunez und Susan Sontag in New York eine heruntergekommene Wohnung voller Bücher. Jetzt setzt Nunez ihrer einstigen Mentorin Sontag ein literarisches Denkmal. In „Sempre Susan“ erinnert sie sich an die Schatten- und Sonnenseiten der gemeinsamen Zeit. Axel Schock über eine knappe, aber komplexe Charakterstudie.

„Intellektuell betreutes Wohnen“

von Axel Schock

Sie war verletzlich und widerspenstig, egozentrisch und herrisch. Hochgebildet und doch voller Selbstzweifel. Dabei galt sie bereits zu Lebzeiten als eine der wichtigsten Intellektuellen der USA. Vor allem ihre Essays, die Aufsätze zu Camp, Fotografie, zu Krankheit als Metapher oder zu Aids haben die Zeit überdauert. Sie bilden jenen Werkekanon, mit dem die 2004 ihrem Krebsleiden erlegene Susan Sontag lebendig und in der Diskussion bleibt. Ihr ambitioniertes literarisches Werk konnte mit diesen essayistischen Arbeiten dagegen nicht so recht mithalten.

In diesen Tagen ist Susan Sontag so präsent wie schon lange nicht mehr. Der Carl Hanser Verlag veröffentlichte eine Auswahl ihrer Erzählungen, inklusive der titelgebenden Geschichte „Wie wir jetzt leben“ – eine erste Auseinandersetzung mit der Aidskrise, ausgelöst durch die Erkrankung und den Tod eines engen schwulen Freundes. Benjamin Moser wiederum hat im Penguin Verlag mit „Sontag“ eine bereits mit dem Pulitzerpreis gewürdigte kiloschwere Biografie vorgelegt, in der seine Recherchen und Interviews mit mehreren Hundert Zeitzeug_innen auf knapp 1000 Seiten kumuliert sind.

Eher bescheiden wirkt da im Vergleich „Sempre Susan“, der 140-seitige Band von Sigrid Nunez. Es sind die ganz privaten, bisweilen auch intimen Erinnerungen der damals 25-jährigen Studentin, die Mitte der Siebzigerjahre zwar nur für eine kurze, doch sehr intensive Zeit mit Sontag in deren etwas heruntergekommenem Apartment auf der Upper Westside von New York City zusammenlebte: zunächst als Sontags Privatsekretärin, dann auch als Partnerin von Sontags Sohn David Rieff.

Sigrid Nunez – Foto: Marion Ettlinger

Nunez’ Erinnerungen verfolgen keine stringente, offenkundig erkennbare Struktur. Sie sind vielmehr ein Patchwork aus Fragmenten, in denen Stichworte und Aspekte umkreist werden – von Sontags Essgewohnheiten über ihre nur widerwillig absolvierten Vorträge und Vorlesungen bis zu ihrer Kinoleidenschaft. Ein Zettelkastenprinzip, das Nunez bereits in ihrem sehr erfolgreichen autobiografischen Roman „Der Freund“ (deutsch 2019) angewandt hat.

Nunez’ Erinnerungen mäandern durch die gemeinsame Zeit in der Wohnung am Riverside Drive und man spürt, welchen inneren Konflikten sich Nunez beim Schreiben ausgesetzt sah. Die allroundgebildete Sontag, die Bücher systematisch verschlang (davon zeugen die endlosen Leselisten in ihren Tagebüchern), die keinen Tag ohne Kino-, Ausstellungs- oder Theaterbesuche verbrachte, drängte ihren Mitmenschen das eigene Verständnis von Kultur und Bildung förmlich auf. Wie auch ihre Art zu denken. „Intellektuell betreutes Wohnen“ bezeichnet Nunez dies an einer Stelle sehr treffend. Sontag mischt sich aber auch in die ersten literarischen Versuche und das Studium ihrer Sekretärin ein. Selbst das Schlafzimmer von Nunez und David Rieff ist nicht tabu. Sontag ist ein Kontrollfreak und zugleich, was ihr Sozialverhalten angeht, ein nicht immer angenehmer Mensch. Und doch war sie für Sigrid Nunez eine entscheidende Mentorin und ein weibliches Rollenvorbild – und so viele gab es in dieser Generation noch nicht. Diese Ambivalenzen prägen „Sempre Susan“.

Die Beziehung zu David Rieff klammert Nunez völlig aus; Sontags Affären, Partnerschaften und Liebschafen hingegen thematisiert sie. Mit Robert Kennedy soll Sontag ein kurzes Techtelmechtel gehabt habe, ebenso mit Jasper Johns und Warren Beatty (prominent mussten die Männer wohl schon sein). Mit Joseph Brodsky hatte sie eine demütigende Liebesgeschichte durchlitten. Die intensiveren Beziehungen aber hatte sie mit Frauen. Mehrere Jahre pendelte sie zwischen New York und Paris zu der Schauspielerin Nicole Stéphane, die Jean Cocteau durch seine Klaus-Mann-Verfilmung „Die schrecklichen Kinder“ berühmt gemacht hatte. Stéphane wirkte auch in Susan Sontags Essayfilmen „Promised Lands“ und „Waiting for Godot in Sarajevo“ mit. Diese wie auch eine Beziehung zu der in Rom lebenden Charlotta aber scheitern letztlich. „Susan war allein, und sie wollte nicht allein sein. Sie wollte verliebt sein“, schreibt Nunez. „Sie glaubte an die Liebe, und wenn sie sich verliebte, dann heftig, und in ihren Gefühlen war ein Element des Terrors.“

Ihren oft auch widersprüchlichen Ansprüchen konnte wohl kaum ein Mensch wirklich gerecht werden. Ihr Jähzorn, ihre Arroganz und Überheblichkeit, die sie offenbar auch in die Partnerschaften trug, waren sicher nur schwer auszuhalten.

Anders als Moser, der akribisch und mit psychoanalytischem Besteck jede Lebensstation, jede Liaison und das Schaffen Sontags dekonstruiert, versucht sich Nunez gar nicht erst an einer tiefgründigen Entschlüsselung ihres Wesens. Erstaunlicherweise sind es viele der zunächst banalen, eher zum Klatsch tendierenden Details, die einen tieferen Einblick in den komplexen Charakter Sontags geben: Was es mit ihrer ikonografischen weißen Haarsträhne auf sich hatte. Wie oft sie ihre Unterwäsche wechselte. Dass sie lieber Büchsensuppen aufwärmte, weil für „richtiges“ Kochen Zeit vernichtet würde, in der man auch lesen könnte. Mit welcher Vehemenz sie etwa Handtaschen verachtete und überhaupt weiblich konnotierte Accessoires und Mode ablehnte.

Sie wusste um ihre eigenwillige Schönheit und ihre damit verbundene Präsenz, doch sie hatte keine Angst, als maskulin zu gelten – im Gegenteil. Ein einziges Mal nur trug sie keine Hosen, sondern einen „langen, schwarzen Faltenrock aus Seide“, eigens in Paris gekauft für Bayreuth. „Für Wagner kleidete sich Susan als Dame“, schreibt Nunez mit süffisantem Unterton. Dann gibt es bruchstückhafte Erinnerungen von Sontag, die Nunez aus ihrer Kindheit referiert, deren langfristige Auswirkungen auf ihre Psyche man nur vermuten kann. Susan litt an Anämie und starker Migräne. Linderung sollte frisches Tierblut bringen. Jeden Tag stand ein Glas davon, das ihre Mutter vom Metzger holte, auf dem Tisch, welches Susan bis zum letzten Tropfen trinken musste.

In solchen konzentriert geschilderten Passagen stellt sich Sigrid Nunez schützend vor ihre Mentorin, deren dominantem Einfluss sie sich entziehen musste, weshalb sie aus Selbstschutz die Wohngemeinschaft wie den Job aufgab. Sie schildert ihre Härte und Eitelkeit, aber sie schreibt auch: „Im Rückblick wünschte ich nur, dass ich mehr Freude empfinden könnte – oder mich zumindest auf eine Weise erinnern, die nicht so schmerzhaft ist.“

Für den Rückumschlag der Originalausgabe hat Edmund White einen One-Liner beigesteuert, der sich auch in der deutschen Übersetzung findet: „Das Beste, was es über Susan Sontag zu lesen gibt.“ Darüber kann man freilich geteilter Meinung sein, aber es ist wenig überraschend, dass sich White so stark für Nunez’ Buch einsetzt. Auch er gehörte einmal zum engeren Kreis um Sontag. Sie war regelmäßig Gast bei seinen Dinnerpartys, und er war mit ihrem Sohn eng befreundet. Ihre Würdigung für den Buchumschlag seines autobiografischen Romans „Selbstbildnis eines Jünglings“ dürfte maßgeblich zur öffentlichen Wahrnehmung und Whites’ Durchbruch beigetragen haben.

„Susan könnte unglaublich eitel und herrschsüchtig sein, aber sie war auch fürsorglich und großzügig“, schreibt White in seinen Erinnerungen „City Boy“. Sie verhalf ihm zum Preis der American Academy of Arts and Letters und zu einem Guggenheim-Stipendium – und dann fiel er in Ungnade. Susan Sontag und David Rieff fühlten sich in Whites im Venedig des 18. Jahrhundert angesiedeltem Roman „Caracole“ unvorteilhaft porträtiert. „Ich war von meinen negativen Gefühlen ihr gegenüber und meiner Verletztheit selbst überrascht“, schreibt er in einem Gastbeitrag für The Guardian. „Sie konnte so selbstherrlich und abweisend sein, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass sie ihr ganzes Leben lang so berühmt war. Für jeden alten Freund, der auf der Strecke blieb, folgten hundert neue Kandidaten nach“.

Wie Sigrid Nunez ist auch Edmund White dennoch nicht nachtragend. In seinen Erinnerungen an Sontag, der er in „City Boy“ lange Passagen widmet, ist diese Verletzung zwar zu spüren, aber auch die Dankbarkeit für die kulturellen Welten, die Sontag ihm eröffnete, und die Begegnungen, die sie ihm ermöglichte. Um die von Selbstzweifeln und eigenen Ansprüchen stets zerrissene Popikone Sontag zwischenmenschlich zu erden, hätte seiner Ansicht nach nur eines wirklich helfen können: „Sie hätte den Nobelpreis bekommen müssen, dann wäre sie netter geworden.“




Sempre Susan
Erinnerungen an Susan Sontag
von Sigrid Nunez
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Gebunden, 141 Seiten, 18,00 €
Aufbau Verlag

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