Hugh Nini & Neal Treadwell: Loving

Buch

Der Bildband „Loving“ gibt Einblick in die umfangreiche Sammlung des New Yorker Ehepaars Hugh Nini und Neal Treadwell. 350 bisher unveröffentlichte Fotografien zeigen Männer, die sich lieben – über ein Jahrhundert hinweg, von 1850 bis 1950, von den USA und Kanada bis hin zu den europäischen, südamerikanischen, asiatischen und australischen Kontinenten, oft vor ländlichem Hintergrund oder in proletarischem Ambiente. Unser Autor Marko Martin über selbstbewusste, vielsagende Blicke voller Zuneigung in einer Zeit nahezu weltumspannender Homophobie.

Rastignacs der Liebe

von Marko Martin

Vor etwa zwei Jahrzehnten stießen die Amerikaner Hugh Nini und Neal Threadwell in einem Antiquitätengeschäft in Dallas/Texas zufällig auf eine alte Fotografie: Zwei junge Männer, die in einer bürgerlich-vorstädtischen Gegend vor einem Haus stehen und sich umarmen. Was war daran sensationell? „Der Blick, denn sie sahen einander an, wie nur Verliebte einander ansehen“, schreiben Nini und Treadwell, seit knapp dreißig Jahren ein Paar, im Begleitessay des voluminösen Fotobandes „Loving“, der jetzt – nach einer englischen, spanischen, italienischen und französischen Ausgabe – auch auf Deutsch vorliegt.

Der Erstfund der Fotografie barg dabei noch eine zweite Sensation: Das Bild war in den zwanziger Jahren aufgenommen worden – und zwar offensichtlich jenseits einer New Yorker Bohéme-Welt, innerhalb derer Homosexualität ja bereits damals toleriert wurde. Die Fotografien, die sie danach aufstöberten, auf Reisen in den USA und nach Europa, zeigten ähnlich Verblüffendes: Junge Schwule, die vor ländlichem Hintergrund oder in einem proletarischen Ambiente die Umarmung vor einer Kamera wagten. Nicht allein die geografische und soziale Perspektive weitete sich hier, sondern die heutigen Betrachter wurden in eine Art sinnliche Zeitmaschine hineingezogen: Die jüngsten der aufgefundenen Bilder stammten vom Beginn der fünfziger Jahre, die ältesten – sogenannte Ferrotypien, später dann Daguerreotypien – jedoch bereits aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit der tatkräftigen Hilfe von Online-Antiquaren aus New York, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Estland und Russland entstand dann im Laufe der Jahre die „Sammlung Nini-Treadwell“, aus der ausgewählte 350 Bilder nun in Buchform erscheinen.

Fotos: Elisabeth Sandmann Verlag

Was für eine Entdeckung! Zurecht weist der in Paris lehrende Sexualgeschichtsforscher Régis Schlagdenhauffen in seinem Vorwort auf die Horizonterweiterung hin, die dieser charmierende Wälzer bietet: Eine visuelle Geschichte von Zuneigung und Liebe über die Zeiten hinweg – und zwar in Milieus, die zuvor hauptsächlich Projektionsflächen hauptstädtischer Maler oder Literaten gewesen waren: Von den Schwärmereien über die „Liebe der Matrosen“ bis zur Eloge auf den vermeintlich unverbildeten Wildhüter in E.M. Forsters posthum erschienenem Roman „Maurice“.

Was wir indessen jetzt sehen, sind nicht halluzinierte Objekte, sondern Subjekte, wagemutige junge Herren ihres Schicksals, verwegene oder auch schamhaft-schüchterne Selbsterfinder, die sich ganz offensichtlich nicht nach den Vorgaben eines unsichtbar bleibenden Fotografen-Regisseurs richten, sondern selbst zu bestimmen scheinen, wie sie zu zweit abgelichtet werden wollen: Arm in Arm auf einem Schiffsdeck, die Hände ineinander verschränkt vor einer Fabrikwand, mit Krawatte, aufgekrempelten Hemdärmeln und keck hoch in die Stirn geschobenem Strohhut auf einem Boot. Die maskuline Haltung: Keineswegs ein toxisches showing-off, kein verkrampft-aggressives Sich-etwas-beweisen müssen. Und auch das Spielerische in den Blicken, Gesten und angedeuteten Posen alles andere als ein sarkastisch-gewolltes Ironisieren heterosexueller Paar-Konvention. Wie weltneugierig und gleichzeitig in sich ruhend diese Rastignacs der Liebe wirken, wie bergend ihre Blicke zueinander, wie selbstbewusst ihre Augen in Richtung Kamera!

Fotos: Elisabeth Sandmann Verlag

Wobei, Ironie der Geschichte, die Bilder aus den fünfziger Jahren – junge Elvis- oder Rock-Hudson-look-alikes in Jeans und weißen T-Shirts auf Strandliegen, Bungalowtreppen oder vor den Kühlerhauben schnittig-wuchtiger Wagen – dann sogar weniger berühren als die Bilder zweier schüchtern verliebter amerikanischer Weltkriegssoldaten, eines selbstbewussten afroamerikanischen Paars auf einem New Yorker roof top oder die unzähligen Aufnahmen, die junge Arbeiter von sich machen ließen. Eines der Fotografien zeigt sogar zwei, die unter einer riesigen sowjetischen Propaganda-Banderole wie selbstvergessen auf einem Parkgeländer sitzen, einander bei den Händen haltend, ein Fahrrad an ihre Knie gelehnt.

Wie hatte wohl ihr Leben vor und nach dem Kamera-Klick ausgesehen, kamen die Fotografen aus ihrem Freundeskreis, und auf welche Weise konnten die Bilder entwickelt werden zu einer Zeit nahezu weltumspannender Homophobie? Wie vieles sich, vor allem in den Gesellschaften des liberalen Westens, geändert hat, macht jetzt nicht allein der deutsche Publikations-Ort deutlich – der Münchner Elisabeth Sandmann Verlag ist kein schwullesbisch-queeres Haus –, sondern auch das Schlusswort von Hugh Nini und Neal Treadwell: „Unser Dank gilt unseren Freunden und unserer Kirchengemeinde, der Cathedral of Hope in Dallas, Texas.“

Fotos: Elisabeth Sandmann Verlag

Was in Trödelläden und vergessenen Schuhkartons lagerte, was „unverheiratet gebliebene Onkel“ kurz vor ihrem Tod entweder jüngeren Familienangehörigen zur Aufbewahrung übergaben oder es noch inmitten von Dachboden-Krempel versteckten: Es ist nun im doppelten Sinn wieder als Licht gekommen, fern jeglichen Voyeurismus. Die beiden Herausgeber weisen darauf hin, dass selbst von den jungen Paaren aus den 1950er-Jahren heute wohl kaum noch jemand am Leben ist, ganz zu schweigen von den Generationen, die uns inzwischen von den Verliebten des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts trennen. Aufbewahrt jedoch sind deren Blicke, tatsächlich stärker als der Tod, bei manchen sogar die Namen, einst in Schönschrift oder auch in robusten Krakeln auf die Rückseite der Fotografien geschrieben. Und wer weiß, vielleicht findet sich im Internetzeitalter vereinfachter Ahnenforschung zum einen oder anderen Foto ja auch die Hintergrundgeschichte, vorstellbar als ein veritabler Roman. Obwohl doch bereits ihre von Empathie überstrahlten Gesichter Bücher sind, in denen sich mit immensem emotionalem Gewinn lesen lässt.




Loving
Männer, die sich lieben. Fotografien aus den Jahren 1860-1950.
von Hugh Nini/Neal Treadwell
Gebunden, 336 Seiten, 49,00 €
Elisabeth Sandmann Verlag

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