Gleichung mit einem Unbekannten

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Ein Mann cruist mit seinem Motorrad durch Paris. Heimlich beobachtet er zwei Fußballer in einer Umkleidekabine beim Sex. Er driftet von einer Gruppenorgie zur nächsten. Realität und Traum verschwimmen. Nachdem der Kunstporno „Gleichung mit einem Unbekannten“ jahrzehntelang nicht mehr zu sehen war, hat Yann Gonzalez Dietrich de Velsas Film bei der Recherche zu seinem eigenen erotischen Psychothriller „Messer im Herz“ wiederentdeckt – und direkt restaurieren lassen. Jetzt kann man den sinnlichen Solitär des queeren Hardcorekinos im Salzgeber Club sehen. Unser Autor Sascha Westphal über eine berauschende Huldigung jugendlicher Schönheit, in der zugleich das Wissen um die Flüchtigkeit aller Lusterfüllung mitschwingt.

Foto: Salzgeber

Sperma oder: Die Essenz des Seins

von Sascha Westphal

Es könnte so einfach sein … und so romantisch: Boy meets boy. Unter einer ziemlich tristen Brücke irgendwo in einem Industrie- und Baugebiet am Rand von Paris kommen sie zusammen. Zwei Jungen in engen Blue Jeans und weißen Unterhemden, der eine blond, der andere schwarzhaarig. Ein paar kurze Blicke reichen, schon machen sie sich auf den Weg ins Abenteuer oder in eine gemeinsame Zukunft. Später sind sie zu zweit auf einem Fahrrad unterwegs. Der Dunkelhaarige fährt, der Blonde sitzt quer auf der Stange. Sie albern herum, pfeifen eine Melodie, genießen die Freiheit der Jugend, den Rausch ihrer Verliebtheit.

Diese beiden von sommerlichem Licht durchfluteten Szenen rahmen Dietrich de Velsas Porno „Gleichung mit einem Unbekannten“ aus dem Jahr 1980 ein. Die Möglichkeit ungetrübten Glücks deutet sich kurz an und wird schließlich noch ein vielleicht letztes Mal beschworen. Für die Dauer einer ausgelassenen Fahrt durch die Straßen eines vergessenen Arbeiterviertels wird die Welt zum Idyll und die Liebe zur Gewissheit. Es gibt keine Zweifel und auch kein unbezähmbares, von einem zum anderen Körper wanderndes Begehren.

Dieser Rahmen ist in vielerlei Hinsicht so rätselhaft wie de Velsas einziger Film insgesamt. Es gibt keinen eindeutigen Bezug zur restlichen Erzählung. Vielleicht sind es jüngere Versionen der „figure principale“, der zentralen Figur des Films, und ihres Freundes, den sie, wie sie einmal voll Trauer gesteht, gerne als Einzigen lieben würde. Vielleicht aber auch nicht.

Dass wir uns nach beinahe 40 Jahren diese und andere Fragen über diesen Solitär des queeren Hardcorekinos stellen können, verdanken wir dem französischen Filmmacher Yann Gonzalez. Gonzalez ist im Rahmen seiner Recherchen über die französische Schwulenporno-Szene der späten 1970er Jahre im Zuge der Vorbereitungen zu seinem Film „Messer im Herz“ (2018) auf „Gleichung mit einem Unbekannten“ gestoßen. Zuvor galt de Selvas einzige Regiearbeit als verschollen. Gonzalez hat den Film in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque française restaurieren lassen und damit erstmals einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wie sehr ihn „Gleichung mit einem Unbekannten“ beeindruckt und beeinflusst hat, spiegelt sich beinahe in jeder Szene von „Messer im Herz“ wider.

„La figure principale“ cruist auf seinem weißen Yamaha-Motorrad durch die Peripherie von Paris. Der lange weiße Schal und sein etwas distanzierter Blick verleihen dem jungen Mann etwas Dandyhaftes, obwohl er sonst eigentlich eher proletarisch wirkt. Es ist, als ginge ein Riss durch den von Gianfranco Longhi verkörperten Charakter. Er scheint selbst nicht genau zu wissen, in welcher Welt er eigentlich zuhause ist. Und gerade das macht ihn  für die anderen jungen Männer, denen er in der Kabine eines Vorort-Fußballplatzes, auf der Toilette einer kleinen Bar, an einer Tankstelle und in einem nächtlichen Industriegebiet begegnet, so verführerisch.

Foto: Salzgeber

Er ist der Unbekannte, der jede Situation, jede Gleichung, noch einmal durcheinanderbringt und in Frage stellt. Mehr noch als die übrigen Protagonisten, die sich von Begegnung zu Begegnung, Blowjob zu Blowjob, Fick zu Fick, treiben lassen, ist er ein Rätsel, eine Leerstelle: Er liebt seinen Freund. Es zieht ihn aber auch fortwährend zu diesen kurzen, intensiven Momenten mit Fremden. Und selbst in diesen Augenblicken des Begehrens bleibt er gespalten: Er verliert sich in den Körpern der anderen und scheint sich zugleich dabei zu beobachten. Er kann sich nicht ganz fallen lassen. Nur in seinen Gedanken, seinen Träumen, die schließlich in einer großen Orgie kulminieren, ist er wirklich bei sich. Aus dieser Distanz, die auch eine Distanz zur Wirklichkeit ist, die nie dem gerecht werden kann, wovon wir träumen, erwächst eine ganz eigene Stimmung, die „Gleichung mit einem Unbekannten“ einzigartig in seinem Genre macht.

Aber nicht nur dieser Motorradfahrer ist ein Unbekannter. Auch sein Schöpfer, der Regisseur und Drehbuchautor Dietrich de Velsa ist „un inconnu“. Nicht wegen dieses Pseudonyms, denn das ist kein Geheimnis: Hinter ihm verbirgt sich der Maler und Kabarett-Besitzer Francis Savel, der als Frantz Salieri an „Monsieur Klein“ (1976) und „Don Giovanni“ (1979), zwei Filmen von Joseph Losey, mitgearbeitet hat. De Velsa/Savel ist ein Enigma, weil er sich wie „la figure principale“ wieder und wieder denen entzieht, die er mit seinen Gemälden und seinen Filmbildern verführt.

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„Gleichung mit einem Unbekannten“ ist eine gloriose Huldigung jugendlicher Schönheit. „La figure principale“ und die, die er auf seinen Fahrten durch die Stadt und dem Umland trifft, gleichen mit ihren weichen Gesichtszügen, ihrem welligen Haar Engeln. Sie erzählen von einer Zeit, die uns nun, 40 Jahre später, unendlich fern scheint. Einer Zeit, in der die Lust keine Angst kannte und schwuler Sex eben nicht stets vom Tod überschattet wurde. Kurz bevor Aids alles verändern sollte, hat Savel mit seinem Film eine Ära absoluter Freiheit ein berauschendes Denkmal gesetzt.

Aber neben der Schönheit und der Freiheit schwingt noch etwas anderes in Savels so perfekt komponierten Filmbildern mit: ein Wissen um die Flüchtigkeit der Erfüllung, die in der Lust liegt. Seine Figuren werden noch nicht vom Tod bedroht, aber sie bleiben doch jedes Mal alleine zurück wie der tätowierte Tankwart, den „la figure principale“ nach den Ausschweifungen der Nacht einfach auf einer Landstraße stehen lässt. Oder wie der junge Mann in der Bar, der, von seinen Liebhabern verlassen, in sich zusammengesunken auf der Toilette sitzt und sehnsüchtig darauf wartet, dass jemand kommt, dem er einen Blowjob geben kann oder der ihn nimmt. Selbst in der großen Traumsequenz steht er lange Zeit nur mit dem Gesicht zur Wand. Er hat sich und seinen Körper verschenkt, nun bleibt ihm nichts mehr.

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Dieses Bild von einem jungen Mann, der an der Wohnungswand lehnt und niemanden ansehen kann, weckt Erinnerungen an ganz andere Filmbilder. 1964 hat der französische Filmemacher Guy Gilles in seinem Kurzfilm „Le journal d’un combat“ Francis Savel dabei beobachtet, wie er ein großflächiges Gemälde erschafft. Im Lauf dieses von Alain Delon erzählten Essaysfilms sieht man Savel meist nur von hinten oder leicht angeschnitten im Profil. Er verweigert sich den Blicken der Kamera. Wie später seine Protagonisten in „Gleichung mit einem Unbekannten“ existiert er einzig und allein in dem, was aus ihm herausfließt. Die Formen und Farben, die nach und nach die Leinwand füllen, sind größer und wahrer als ihr Schöpfer. Und so ist es auch in „Gleichung mit einem Unbekannten“. Das Sperma, das seine Protagonisten verspritzen, ist mehr als nur Samenflüssigkeit. In ihm liegt die Essenz ihres Seins, ihrer Freiheit, die so vergänglich ist wie ein Orgasmus und immer in einer bittersüßen Leere gipfelt. Einer Leere, die kaum ein anderer Filmemacher je so präzise und so poetisch eingefangen hat wie Francis Savel.




Gleichung mit einem Unbekannten
von Dietrich de Velsa
FR 1980, 99 Minuten, FSK 18,

französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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