Zaia Alexander: Erdbebenwetter
Buch
Zaia Alexanders literarisches Debüt „Erdbebenwetter“ ist ein moderner Hexenroman: Die orientierungslose Lou wird in Los Angeles in einen magischen Zirkel eingeführt. Ihr Alltag gewinnt schlagartig elektrisierende Intensität. „Erdbebenwetter“ bringt Hierarchien zwischen Tier und Mensch ebenso ins Wanken wie zwischen Kindern und Eltern. Unsere Autorin Anja Kümmel über eine ungewöhnliche Geschichte der Selbstbestimmung an einem flirrenden Ort zwischen Apokalypse und Utopie.
Beständiges Zittern
von Anja Kümmel
Wer schon mal in Los Angeles war, ist vielleicht nicht allzu überrascht zu lesen, wie Lou in einem Kino in der Century-City-Mall sitzt, Toblerone knabbert und einen chinesischen Film anschaut, während der Platz neben ihr für einen Geist freigehalten wird. Denn L.A. ist nun mal genau das: hypermaterialistische Enklave der Reichen und Schönen, mehr Schein als Sein, und zugleich eine Hochburg des magischen Denkens und der New-Age-Spiritualität.
Zwischen diesen beiden Polen spannt Zaia Alexander ihren Debütroman „Erdbebenwetter“ auf und macht ihrer Heimatstadt damit eine so ironiegesättigte wie melancholische Liebeserklärung. So manch biografisches Detail hat Alexander mit ihrer Protagonistin gemein: Wie Lou wuchs sie in Los Angeles auf, studierte Germanistik an der UCLA und verbrachte lange Zeit in Deutschland. Seit nunmehr 12 Jahren lebt Alexander als Literaturübersetzerin (u.a. von Antje Rávik Strubel) in Potsdam. Dass sie ihren ersten Roman parallel auf Deutsch und Englisch verfasst hat und die deutsche Version nun zuerst erschien, ist ein veritabler Glücksfall für die hiesige queere Literatur.
Anders als ihre Schöpferin kehrt Lou in ihre Heimatstadt zurück und versucht dort als Filmemacherin Fuß zu fassen. Ihren erfolglosen Kampf gegen despotische Regisseure, arrogante Produzenten und nervige It-Girls weiß Alexander scharfzüngig zu porträtieren; ebenso Lous Motto „Ich hatte nichts zu verlieren“, das sich in ihrer „Projektentwicklungsfirma“ manifestiert, die in Wahrheit ein angemieteter Abstellraum mit nur einer Mitarbeiterin (nämlich ihr selbst) ist.
Mehrmals wird erwähnt, dass Lou mit einer bekannten Comedian zusammenlebt; aus der Beziehung allerdings scheint Lou (zumindest mental) schon lange ausgecheckt zu haben. Ihr Lesbischsein ist eine Tatsache, die zunächst keine große Rolle spielt, zumindest nicht im Sinne romantischer Zweisamkeit oder einer Sehnsucht nach sexuellen Abenteuern. Dennoch zieht sich eine queere Sensibilität durch das Buch, die spätestens dann voll zum Tragen kommt, als Lou durch einen alten Freund auf einen Hexenzirkel stößt. Was zunächst wie ein etwas seltsamer Yoga-Kurs über einem Radio Shack in Santa Monica anmutet, wird Lou im Lauf der Geschichte nicht nur eine neue Identität bescheren, sondern ihr – und uns Leser_innen – zudem ungekannte Pforten zu ganz neuen Ebenen der Wahrnehmung öffnen.
„Geh lieber ein romantisches Verhältnis mit Wissen ein“, so der Rat einer der Hexen – was Lou schließlich auch beherzigen wird. Ebenso zentral sind allerdings die wechselseitig befruchtenden Dynamiken zwischen ganz verschiedenen, meist weiblichen Figuren, die weit hinausgehen über jedes heteronormative Verständnis von Beziehung und Familie. Auf einer zweiten Zeitebene, die Alexander kunstvoll verwebt mit der Erzählgegenwart, erlebt Lou, was Verantwortung, Urvertrauen und bedingungslose Liebe bedeuten – Qualitäten, die sie in ihrer Herkunftsfamilie kaum erfahren hat.
Zunächst begegnet ihr ein zehnjähriges mexikanisches Mädchen, das ihre Adoptivtochter wird; wenig später läuft ihr eine Katze der Rasse „Russisch Blau“ zu. „Sie war eines Tages in meinem Leben aufgetaucht, und von diesem Tag an kümmerte ich mich um sie“, heißt es über das Mädchen Lola. „Vielleicht war es auch umgekehrt.“ Ähnlich ambivalent ist das Verhältnis zwischen Lou, Lola und der Katze Sophie, der eigentlichen Hauptfigur der „Blau“ betitelten Kapitel, deren Rolle beständig changiert zwischen Findelkind, Beschützerin und weisem Wesen aus einer anderen Dimension.
Beinahe unmerklich, durch kleine sprachliche Mittel, die unsere bekannte Wahrnehmung und Leseerwartung durchkreuzen, hebt Alexander die Hierarchien zwischen Menschen und Tieren, Eltern und Kindern auf. Dabei begegnen ihre Figuren einander nicht als Gleiche, sondern in ihrer Verschiedenheit auf Augenhöhe. Implizit schwingen hier die Ideen queerfeministischer Theoretikerinnen wie Donna Haraway oder Karen Barad mit, die den Menschen nicht im Zentrum der Schöpfung – nicht einmal der Wissensproduktion – verorten, sondern inhärent verbunden mit allen anderen Lebewesen und Kräften dieses Planeten.
Auf subtile Weise queer ist auch die Praxis emanzipatorischer Identitätsstiftung, die im Roman eine zentrale Rolle spielt: Ihren Namen etwa bekommt Lou nicht qua Geburt, sondern sehr viel später verliehen (ebenso wie Lola und Sophie). Nicht nur Menschen aus dem LGBTQI-Spektrum wird somit eine selbstbestimmte Fluidität hinsichtlich geschlechtlicher und sexueller Identität zugestanden – vielmehr entpuppen sich alle Wesen in „Erdbebenwetter“ auf die ein oder andere Weise als „Gestaltwandler“.
Einigen eher nüchtern und rational denkenden Leser_innen mögen Sätze wie „Energetisch gesehen ähnelst du einem Spiegelkabinett“ oder „Du reflektierst ihr Blau“, die Alexander en passant einflicht, vielleicht ein wenig verschroben erscheinen. Ebenso gewöhnungsbedürftig sind Delphine und Bettler als „Traumboten“; eine Frau, die mit den Worten „Du brauchst meine Energie“ vor Lous Tür steht und sie dann unerwartet küsst, um einen Energiepunkt auf ihrer Zunge zu aktivieren; und nicht zuletzt Lous Adoptivtochter, die behauptet, ein vierundachtzigjähriger Chinese zu sein.
Allerdings existiert bei Alexander dieses mystisch aufgeladene L.A. so natürlich Seite an Seite mit permanent verstopften Highways, vom Verschwinden bedrohten kleinen Buchläden und gigantischen Einkaufszentren, den glitzernden Kulissen und dreckigen Ecken Hollywoods, dass der Roman nie seine Bodenhaftung verliert. Im Gegenteil – er zeitigt eine unprätentiöse Welthaltigkeit, die sich im titelgebenden „Erdbebenwetter“ bündelt: ein beständiges Zittern, das sowohl das Flirren erhitzter Luft über dem aufgeweichten Asphalt als auch eine allgemeine Anspannung meint, die sämtliche Krisen der Gegenwart einfängt wie die Schnurrhaare einer Katze.
Immer wieder streut Alexander apokalyptische Bilder ein, die vielerorts bereits Realität geworden sind, während sie anderswo noch auf ihre Erfüllung warten: Flächenbrände und sintflutartige Regenfälle, Polizeigewalt gegen Schwarze und blutige Krawalle, Kojoten, die in Wohngebiete vordringen und dort Haustiere erlegen. Vor diesem dystopischen Hintergrundrauschen entfaltet sich Alexanders Utopie von Selbstfindung und Solidarität jenseits biologischer Zugehörigkeiten auf eine Weise, die unser komplexes Miteinander nie aus dem Blick verliert. Gabriel García Márquez meets Haruki Murakami meets Judith Butler – „Erdbebenwetter“ bietet Magischen Realismus im besten Sinne, versehen mit postmoderner Ironie und einer dezidiert queerfeministischen Ausrichtung.
Erdbebenwetter
von Zaia Alexander
Gebunden, 320 Seiten, 22,00 €
Tropen Verlag