Kanarie

TrailerDVD/VoD

Südafrika, 1985. Der 18-jährige Boy-George-Fan Johan Niemand wird in den Soldatenchor „Kanaries“ aufgenommen – und merkt schnell, dass er dort, wie überall, eine bestimmte Rolle spielen muss: Der Chor hat die Aufgabe, die Werte des Staates und der katholischen Kirche anzupreisen. Als sich Johan während einer Tournee in einen singenden Kameraden verliebt, stellt er bald das repressive Ordnungssystem um sich herum infrage. Die mitreißende musikalische Coming-of-Age- und Liebesgeschichte „Kanarie“ von Christiaan Olwagen, die es jetzt als DVD und VoD gibt, zeigt vor dem historischen Hintergrund des Apartheid-Regimes die Verwundungen, die Nationalismus und Religion jungen Menschen antun können – aber auch, wie man in der Allianz mit anderen Außenseitern seine eigene Stimme zu finden vermag. Unser Autor Stefan Hochgesand hat sich gemeinsam mit den Chorjungs durch Widrigkeiten zu den Sternen begeben.

Foto: Edition Salzgeber

Vom Niemand zum Jemand

von Stefan Hochgesand

Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid. Aber bleibt ein Brautkleid auch ein Brautkleid, wenn ein Junge es trägt? Oder wird es dann zwangsläufig zu einem Kostüm der Schande? So sieht es nämlich der Pastor, der, ziemlich überrumpelt, aus seinem Auto heraus Johan Niemand beschwört, nur ja sofort nach Hause zu eilen und dieses Ding auszuziehen, bevor der Vater es sieht. Den irdischen Vater meint er wohl. Gott Vater dürfte die ketzerische Performance ja wohl schon erblickt haben; die unheilige Prozession, die Johan Niemand in seinem Heimatstädtchen Villiersdorp bei Kapstadt in Südafrika just veranstaltet hat, 1985.

Und dabei war das Brautkleid, mit dem sich Johan nur einmal kurz wie Lady Di, die Prinzessin der Herzen, fühlen wollte, womöglich nicht mal der größte Part der Blasphemie: Die Schwulenikone Boy George oder vielmehr dessen Musik, also die Musik der britischen Popband Culture Club, war nämlich auch noch im Spiel, als Johan durch die Kleinstadtstraßen prozessierte, mit strotzender Lust und allem Mut, den er zusammennehmen konnte – und mit einer Gruppe gestriegelter Schuljungens im Schlepptau. Wenn auch nur ein paar Minuten lang.

Kurz später beruft das Militär ein. Dort wären Bräute vielleicht gern gesehen; Jungs in Brautkleidern aber eher nicht. Doch zum Glück gibt’s die „Kanaries“, den Christlichen Chor, YMCA quasi, bei den südafrikanischen Streitkräften, wo sich all jene Softies tummeln, die Menschen lieber den Ton als den Tod bringen. Was sind das bloß für Gestalten? Johan ist so einer; und Ludolf, der im selben Zugabteil sitzt, auch. Ludolf ist leicht pummelig und hat das, was man landläufig eine „feminine Ader“ nennt. Opern sind sein Ding, aber fürs erste, für die Zugfahrt, tun es auch Kekse, Eier und Würste. Ludolfs exaltierte Redeweise, ja seine ganze Art „erregt viel Aufmerksamkeit“, zu viel, raunt Johan Niemand.

Johan Niemand ist kein Niemand. Kein Mann ohne Eigenschaften. Aber er hat Angst vor seinen Eigenschaften. Und vor denen der Seinen: der anderen Queers. Immerhin plaudern Johan und Ludolf über das Beethoven unterstellte Motto per aspera ad astra: „Durch Widrigkeiten zu den Sternen“. Vielleicht darf man den Link zum schwulen Oscar Wilde ziehen, der seine  Figur Lord Darlington einst die bittersüße Wahrheit aussprechen ließ, dass wir alle im Müll gammeln, aber manche von uns zu den Sternen aufblicken.

Foto: Edition Salzgeber

Vorerst zieht das Leben aber so ziemlich alle Register, damit sich die frischgeschlüpften Kanarien-Boys selbst wie Müll fühlen. „Willkommen in eurer Hölle“, grüßt der Korporal die Chor-Rekruten, die er für Abschaum hält. „Beweg dich, du Schwuchtel!“. Die Feldbetten kontrastieren mit den zarten Gesichtern jener Jungs, die vor kurzem sicher noch die Schulbank drücken mussten. Die Haare, geschoren, fallen zu Boden. Die nächsten zwei Jahre sollen diese jungen Männer zusammen arbeiten, essen, singen, schwitzen und entspannen. Aber selbst dann sind sie „Eigentum der Wehrmacht“. Das kann ja heiter werden.

„Dachtet ihr Schwuchteln, hier geht’s zu wie bei den Zigeunern? Ihr werdet so was von abkacken! Soll ich euch den Arsch aufreißen?“ Der schimpfwortverliebte Korporal nennt Ludolf einen „Tittensoldat“ und eine „Pummelfee“ und entpuppt sich selbst als Crunchies-süchtiges Krümelmonster. Aber ist ja nichts Neues, das ach so lustige Schlammschlacht-System der Erniedrigung: Wenn Johan Niemand früher als Smalltown-DJ (mit mühsam ersparten Platten von Kate Bush, Laurie Anderson und Grace Jones im Köfferchen) Culture Clubs „Do You Really Want To Hurt Me” auflegte, raunten die halbstarken Hetero-Prolls „Yes!“ Und meinten es vermutlich ernst. „Ärsche an die Wand”, kreischen die Heteros nun unter der Militärdusche, „die Kanarien sind da!”

Foto: Edition Salzgeber

Manchmal gibt’s aber auch „Schönes Freigang-Wochenende, ihr Wichser!“ Niemand fühlt sich gern alone on a Friday night, deshalb geht’s besser in den  Kellerclub, wo Typen Paillettenketten über buntem Karohemd tragen. Bach, Beethoven, Berlioz? Ach, am Wochenende tut den wohltemperierten Chorjungs auch mal richtiger Schwulenkram gut: Culture Club. Auch Lesley Rae Dowlings „Grips Of Emotion“ lädt zum choralen Schmettern ein: „Won’t somebody help me?”. Hier tummeln sich Bowie-Boys und Lady-Boys, und niemand (außer Johan Niemand, der scheinbar Omas Perlen und Prüderie trägt) wundert sich groß, wenn zwei Kerle zusammen auf Toilette verschwinden. Johan ist ein Neuling auf diesem Gebiet und findet es übertrieben seltsam, wenn ihm sein Chorkamerad Wolfgang in den Mund spuckt: „Das ist das Ekligste, was ich je erlebt habe!“, sagt er und knutscht munter weiter, als sie sich mit den restlichen Kanarien auf Konzerttournee befinden und bei einer Familie zum Übernachten unterkommen. „Wie möchten Sie Ihre Eier?“, will die Gastmutter wissen, die die Jungs zum Glück nicht in flagranti erwischt, da sie vorher artig angeklopft hat.

Foto: Edition Salzgeber

Kirchenorgeldrama und Vielstimmigkeit? Auf ihrer Tournee mit vierzig, fünfzig Stopps sind es nicht etwa die beiden Chorleiter, sondern immer wieder Frauen, die den Jungs, vor allem Johan, entscheidende Hinweise geben, diese homogene, homofeindliche Gesellschaft radikal infrage zu stellen: Ist das nicht seltsam, dass hier alle weiß sind? Ist sie nicht menschenverachtend, diese Apartheid? Diese selbstgerechte Gated Community? Ergibt das überhaupt Sinn, dass der Kanarienchor (samt seinen Vorgesetzten) der Kirche und dem Militär zugleich angehört? Ist der härteste Peiniger deiner selbst der Mann im Spiegel, abgerichtet durch all die Dos and Don’ts der Gesellschaft? Ist all dies nicht ein Käfig, der dich kaputtmacht – und aus dem es auszubrechen gelte, sollte sich mal ganz kurz eine Türe öffnen?

Auf diese Weise bricht „Kanarie“, der im Auftakt noch wie ein berechenbar erbauliches Feel-Good-Musical wirken könnte, mit dem konventionellen Narrativ: In „Sister Act“ (1992) und seinen unzählbaren Epigonen und auch Plagiaten ist es ja zumeist der*die inspirierende Mentor*in mit eigenwilliger Methodik, aber großem Herz, was die Schüler*innen schließlich auf den rechten Weg weist. Die Chefs der Kanarien haben, und das ist nur lebensecht, gar nicht das Zeug dazu. Es fehlt ihnen an Rückgrat. So wie es auch Boy George an Rückgrat fehlte – da er sich partout nicht outen wollte, was das Leben tausender Teenager hätte retten können.

Foto: Edition Salzgeber

Die Kanarien müssen sich selbst zusammenreimen, was sich überhaupt noch glauben lässt. Das Land ist im Krieg, die Kanarien stimmen zum Gesang an der Front an. Werden sie dort eigentlich bejubelt, wie Solo-Sänger Ludolf meint, oder nur lächerlich gemacht, so wie Johan es sieht? „Macht es Spaß blauzumachen, während der Rest dienen muss? Seid ihr alle Schwuchteln oder nur ein paar von euch?“ Wie absurd ist das eigentlich, wenn da ein Fender-Rhodes-Klavier vor einem Panzerwagen steht, und die Männer Lieder singen, die sie nicht fühlen? Wie wäre es stattdessen mit Culture Club? Johan und Wolfgang versuchen, die Akkorde von „Do You … “ ausfindig zu machen. Ein erster Handjob, danach Schuld in den Augen. Träume von Synthesizern. Johan kriegt eine Schockstarre im Taxi. Surreales Strobolicht. Ist all das noch eine Phase, die sich leugnen ließe? Als der Boss dem Chor verbietet, im nächsten Jahr Culture Club zu singen, bringt es Johan herzzerreißend auf den Punkt: „Wir singen in einem Chor, in dem wir keine Stimme haben.“ Doch Niemands Stimme, sie ist nicht länger gebrochen, nun, da er sie zu erheben gewagt hat. Johan Niemand ist Jemand.




Kanarie
von Christiaan Olwagen
ZA 2018, 123 Minuten, FSK 12,
englische und afrikaanse OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD (OmU): € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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