Whitney – Can I Be Me

TrailerDVD

Am 11. Februar 2012 wird Whitney Houston leblos in der Badewanne ihres Hotelzimmer in Beverly Hills aufgefunden, als Todesursache wird Ertrinken festgestellt. In ihrem Körper werden zudem große Mengen Kokain und weiterer Drogen gefunden – Zeugen eines chronischen Missbrauchs. Spätestens seit Houstons frühem Tod im Alter von nur 48 Jahren ranken sich zahlreiche Mythen um die Diva. Im ersten postum erscheinenden Dokumentarfilm erzählt der britische Regisseur Nick Broomfield den Niedergang der Sängerin nun als Folge einer Geschichte der Verleugnung – ihrer afro-amerikanischen Wurzeln und ihrer Bisexualität.

Foto: Arsenal Filmverleih

My Love Is Your Love

von Christian Weber

Frankfurt am Main, 1999. Whitney Houston steht auf der Bühne und zelebriert ihren größten Hit, „I Will Always Love You“. Vor dem spektakulären Refrain macht sie eine lange Pause, atmet noch einmal tief durch, wischt sich den Schweiß vom Gesicht, schnauft wie eine Gewichtheberin vor dem entscheidenden Stoßen. „AND I…“. Gesang als Hochleistungssport. Am Ende der Tour wird Houstons Stimme vollkommen verbraucht sein von den kräftezehrenden Auftritten, die die Sängerin ohne Rücksicht auf Verluste absolviert, und von ihrem exorbitantem Drogenkonsum.

In Nick Broomfields neuem Dokumentarfilm „Whitney – Can I Be Me“ erscheint Houstons letzte erfolgreiche Tour im Jahr 1999 als fataler Wendepunkt eines auch zuvor schon schwer gebeutelten Lebens. Das ist an sich keine steile These, auch nicht, dass Houston nur unmittelbar an ihrer Drogensucht starb, eigentlich aber an gebrochenem Herzen. Die Trennung von ihrem Ehemann Bobby Brown, das Zerwürfnis mit ihrem geliebten Vater, der allmähliche Verlust ihrer Gesangsstimme und die damit verbundenen Schuldgefühle, die sich die streng gläubige Musikerin machte, weil sie auf diese „Gabe Gottes“ nicht richtig aufgepasst habe, wurden in der Vergangenheit immer wieder als Gründe für ihren emotionalen Nieder­gang angeführt.

„Whitney“ faltet neben diesen bekannten biographischen Lesarten vor allem zwei weitere hochspannende Aspekte aus, die bisher bestenfalls hinter vorgehaltener Hand erwähnt wurden: Houstons Verlust ihrer afro-amerikanischen Identität im Zuge der von ihrer Plattenfirma gesteuerten Formung zur einer weiß gewaschenen All American Princess und die verhinderte Liebesbeziehung zu ihrer Freundin und Assistentin Robyn Crawford.

Der Brite Broomfield hat schon Dokumentarfilme über die Apartheid in Südafrika und die Soldatinnen-Ausbildung in der US-Armee gedreht. Berühmt ist er aber durch eine Reihe skandalträchtiger Personenporträts geworden. Schonungslos zerlegte er die Leben der Serienmörderin Aileen Wuomos (1992), der Hollywood-Edelpuffmutter Heidi Fleiss (1995) und der US-„Politikerin“ Sarah Palin (2011). „Kurt & Courtney“ (1998), Broomfields bekanntester Film, wurde nach Sundance eingeladen, aber nach persönlicher Intervention von Cobain-Witwe Courtney Love wieder zurückgezogen – eine Adelung ersten Ranges. Auch „Whitney“ ist von Houstons Nachlassverwaltern nicht autorisiert worden – und natürlich spricht das erst mal für den Film.

Herzstück von „Whitney“ sind bisher unveröffentlichte Aufnahmen von Houstons Tour 1999 aus dem Archiv des österreichischen Musikdoku-Regisseurs Rudi Dolezal, der dafür als Co-Regisseur firmieren darf. Es sind Bilder von den hingebungsvollen Performances der Diva, aber auch Crew-Interviews und Aufnahmen vom Geschehen hinter den Kulissen: Whitney vermeintlich unbeschwert herumalbernd im Hotelzimmer, beim Chicken-Wings-Essen, erschöpft am Schminkspiegel. Zudem hat Broomfield neue Interviews mit Houstons Brüdern Michael und Gary und ihrer Mutter Cissy geführt, mit Bobbys Schwester Tina, mit Marketing-Leuten der Plattenfirma, mit früheren Bühnenmusikern, Houstons Maskenbilderin, ihrem Bodyguard, ihrer Drogen­beraterin und mehreren Freundinnen. Hinzu kommen Ausschnitte aus dem US-Talk-TV mit ihr, ihrer Mutter und Plattenboss Clive Davis.

Foto: Arsenal Filmverleih

Was Broomfield über dieses Material als Lebensgeschichte der Sängerin rekonstruiert, ist zunächst bekannt: Whitney wird 1963 in Newark, New Jersey, geboren und verbringt dort ihre frühe Kindheit, ehe die Stadt 1967 von Rassenunruhen zerrüttet wird. Die Houstons ziehen nach East Orange – eine andere, sozial nur wenig entspanntere Stadt in New Jersey. Mit Drogen kommt Whitney schon früh in Kontakt, mit 10 oder 11, wie ihre Brüder und eine Jugendfreundin freimütig berichten. Schlimmeres verhindern zunächst die harte Erziehung ihrer Mutter, der in den USA bekannten Soul- und Gospelsängerin Cissy Houston, und der Einfluss der baptistischen Kirchengemeinde, in deren Chor Whitney ihre Gesangsleidenschaft entdeckt.

Folgt man den Aussagen von Broomfields Interviewpartnern weiter, sollte Houstons schwarzer Ghetto-Background zu Beginn ihrer Karriere ganz bewusst kaschiert werden: Arista-Chef Davis hatte die Vision von einem universellen Popstar, der von der Masse akzeptiert würde, also vor allem vom weißen Amerika, erklärt ein ehemaliger PR-Mann der Plattenfirma. Davis wollte eine schwarze Barbra Streisand, keinen weiblichen James Brown. Whitneys Musik durfte nicht zu schwarz klingen, nicht zu funky oder R&B-haft.

Foto: Arsenal Filmverleih

Die junge Sängerin fügt sich. Und Davis‘ kühle Rechnung geht auf: Houstons Debütalbum aus dem Jahr 1985 verkauft sich über 25 Millionen mal, sie hat Nummer-1-Hit in Serie, wird mit dem American Music Award und dem Grammy ausgezeichnet. Erfolge, die ihr zweites Album 1987 fortsetzt. Doch dann kommt es 1989 zum Eklat: Bei den Soul Train Awards, dem wichtigsten US-Preis für Black Music, wird sie gnadenlos ausgebuht. Ihre weiße Pop-Musik wird von weiten Teilen des afro-amerikanischen Publikums als Verrat empfunden. Von dieser emotionalen Verwundung hat sich Whitney nie erholt, berichtet ihr früherer Saxophonist.

Noch weiter als seine These zu den Folgen dieses vermeintlichen Kulturverlusts entwickelt Broomfield die Darstellung von Robyn Crawford, Houstons engster Vertrauten. Die beiden lernen sich 1979 in East Orange kennen. Robyn ist Whitneys Beschützerin im Viertel, ihre Mitbewohnerin im ersten eigenen Apartment und schließlich ihre persönliche Assistentin. Ob die beiden wirklich ein Liebespaar waren, lässt „Whitney“ zwar offen, doch von Freunden und Musikerkollegen werden sie vielsagend als Zwillinge und unzertrennliche Seelen­verwandte beschrieben. Gerüchte über eine mögliche Homo- oder Bisexualität Houstons machen ab Ende der 80er die Runde. Natürlich passt das nicht ins Narrativ der Plattenfirma – und, schlimmer noch, auch nicht zu den Überzeugungen von Whitneys Mutter, die immer wieder versucht, die Freundschaft zwischen Robyn und ihrer Tochter zu sabotieren. Noch 2013 erklärt Cissy bei Oprah (!), dass es für sie ein unüberwindbares Problem gewesen wäre, wenn ihre Tochter offen lesbisch gewesen wäre.

Foto: Arsenal Filmverleih

Doch die Freundinnen verteidigen ihre Beziehung lange gegen alle Widerstände. Selbst als Whitney 1989 Bobby Brown kennenlernt – ausgerechnet am ohnehin schon ruinösen Abend der Soul Train Awards – und mit ihm eine Beziehung beginnt, bleibt Robyn an ihrer Seite. Whitney heiratet Brown 1992, ein Jahr später wird Tochter Bobbi Kristina geboren. Aber mit dem „Bad Boy des R&B“ werden auch die Drogen zum immer größeren Problem. Er ist alkoholsüchtig, Whitney hängt am Crack. Robyn versucht viele Male, ihre Freundin von den Drogen wegzubekommen. Zwischen ihr und Bobby kommt es, auch deswegen, regelmäßig zum Streit, sogar zu körperlichen Auseinandersetzungen. Die Spannungen werden am Ende der Tour 1999 so groß, dass Robyn Whitney schließ­lich verlässt.

Robyns Weggang, so stellt es der Film dar, besiegelt den Absturz der Sängerin. Houstons Drogensucht wird von ihrem engsten Kreis scheinbar bewusst verdrängt: Als ihr Bodyguard der Familie und dem Management detailliert von Whitneys Missbrauch berichtet, wird er kurzerhand von allen Pflichten entbunden. 2003 zieht sich die Sängerin aus der Öffentlichkeit zurück und beginnt in Atlanta ein Entzugsprogramm. 2007 schafft sie sogar die Scheidung von Brown – nur um danach noch heftiger den Drogen zu verfallen. Für ihren gescheiterten Comeback-Versuch 2009 interessiert sich Broomfield nicht mehr. Sein Film springt zu Houstons Beerdigung ins Jahre 2012.

Zu den Bildern der Beisetzung zitiert der Regisseur Bobby Brown, der trotz aller Differenzen über Robyn sagt: „I really feel that if she was accepted in Whitney’s life, Whitney would still be alive today“. Und auch das, was Robyn – die heute zurückgezogen mit ihrer Partnerin Lisa und den gemeinsamen Zwillingen lebt, wie eine Einblendung verrät – nach dem Tod über die Freundin erzählt, legt eine romantische Verbindung nahe: „She had peachy colored skin and she didn’t look like anyone I’d ever met in East Orange, New Jersey. She looked like an angel.“

Foto: Arsenal Filmverleih

Broomfields Dokumentarfilm-Methode ist nicht unproblematisch. Seine Montage ist stark führend und thesenhaft. Man kann nicht ausschließen, dass einige der Interviewpartner – wie etwa Houstons geschasster Bodyguard – Eigeninteressen verfolgen. Viele der prägnantesten Aussagen kommen von schwachen Quellen: von Whitneys Bühnenmusikerinnen und „Freundinnen“. Vor allem aber gibt es keine neuen Interviews mit den Kronzeugen von Houstons Niedergang: mit Bobby und Robyn. So bleiben entscheidende Fragen offen: Wie genau ist es zum Bruch mit Robyn gekommen? Kam es nach Houstons Scheidung noch einmal zu einer Annäherung zwischen den beiden Frauen? Wieso konnte der Sängerin in ihren letzten Jahren niemand mehr helfen? Und wieso kam sogar für Whitneys Tochter Bobbi Kristina, die 2015 im Alter von nur 22 Jahren an einer Drogenüberdosis stirbt, jede Hilfe zu spät?

Von diesen Unsicherheiten und Lücken abgesehen ist Broomfield aber ein faszinierendes Porträt eines gebrochenen Stars gelungen. Houston erscheint dabei als Gefangene von Kontrollgefügen, die sich im Lauf ihres Lebens immer wieder erneuert haben. Dem Bann ihrer strengen und homophoben Mutter und der Kirchengemeinde, in der Homosexualität tabuisiert wurde, folgte jener der Plattenfirma, die ihre kulturellen Wurzeln gezielt verwischte, und der ihres Ehemanns Bobby Brown, eines Alkoholikers und notorischen Frauenhelden. Drogen, so Broomfields These, waren nur Houston Ventil für ihre existentielle Verunsicherung, ihre Antwort auf die immer wieder selbst gestellte Frage: „Can I be me?“

Wie sie gerne in Erinnerung bleiben würde, wurde Houston in einem Interview einmal gefragt. Das sei eigentlich egal, antwortet die Sängerin, denn die Leute erinnern sich sowieso an das, was sie wollen. Whitney Houston war die erste schwarze Sängerin mit dem Status eines Superstars und Wegbereiterin für Künstlerinnen wie Beyonce und Rihanna. Dafür musste sie, so stellt es „Whitney“ schlüssig dar, noch in den 80ern und 90ern Teile ihrer afro-amerikanischen und sexuellen Identität preisgeben. Daran sollte man sich unbedingt erinnern!




Whitney – Can I Be Me
von Nick Broomfield & Rudi Dolezal
UK/
US 2017, 103 Minuten, FSK 6,
englische OF mit deutschen UT,
Arsenal Filmverleih

↑ nach oben