Serienfieber

Als im Jahr 2015 die Ankündigung des Endes der bahnbrechenden queeren HBO-Serie „Looking“ nach nur zwei Staffeln (und einem abschließenden Fernsehfilm) zahlreiche Protestler auf den Plan rief, gab Paul Schulz in der sissy Entwarnung: Er sähe keinen Grund für Befürchtungen vor einem Rückzug nicht-heterosexueller Geschichten aus dem Fernsehen, man müsse im Gegenteil sogar das goldene Zeitalter des queeren TV ausrufen! Zwei Jahre später wagt Rajko Burchardt eine neue Bestandsaufnahme in Zeiten von Netflix und Amazon Prime, schwärmt über „Transparent“, „Sense8“ und „I Love Dick“ – und erklärt, warum die queere Serien-Blüte erst durch die Streaming-Revolution möglich geworden ist.

Foto: Amazon – „I Love Dick“

Strömende Bilder

von Rajko Burchardt

„Wer sich über einen momentanen Mangel an queeren Charakteren in der Fernsehlandschaft beklagt, sieht einfach nicht genau genug hin, generell nicht genug fern oder auf die falsche Art“, schrieb Paul Schulz in der sissy #26. Eine zutreffende Diagnose, vor zwei Jahren schon und jetzt erst recht. Heute setzen zahlreiche Serien auf einst marginalisierte Themen und Milieus, fühlen sich wohl mit vielfältiger sexueller Repräsentation. Die von Paul Schulz zitierte Serien-Produzentin Shonda Rhimes („How To Get Away With Murder“, seit 2014) möchte diese Entwicklung sogar vollkommen selbstverständlich als Normalisierung statt Diversifizierung verstanden wissen.

Viele serielle Formate erzählen heute nicht mehr nur queer-inklusiv, wie es Produktionen der großen US-Networks schon länger und möglicherweise pflichtschuldig getan haben – abgezirkelte Heteronormativität gibt es dort kaum noch zu sehen, Ensemble-Shows ohne LSBTTIQ-Charaktere mit eigenen Subplots haben Seltenheitswert –, sondern rücken dezidiert queere Erfahrungswirklichkeiten in den Handlungs- und Figurenmittelpunkt. Bislang fanden solche Formate vor allem bei amerikanischen Premium-Kabelsendern wie HBO oder Showtime ein Zuhause, deren Programmgestaltung nicht zwangsläufig von breiten Zustimmungswerten und Einfluss auf Inhalte nehmende Werbekunden abhängt. Die schwullesbischen Serien „Queer as Folk“ (UK 1999/2000, US 2000-05), „The L-Word“ (2004-09) und „Looking“ erschlossen sich unter diesen Voraussetzungen erzählerische Räume abseits der Mehrheitsgesellschaft, bei der sie nichtsdestotrotz beachtliche Erfolge feierten – vermeintliche Nischenserien als Vorboten des queeren TV-Mainstream.

„Looking“ – Foto: HBO

Genau da haben die Video-on-Demand-Dienste angesetzt, sofern man von einem Paradigmenwechsel sprechen möchte. Scheinbar ohne Performancezwänge (sowieso immer nur ein vorgeschobenes Argument gegen nicht-heterosexuelles Fernsehen) produzieren Netflix und Amazon queere Serien, mit denen sich Golden Globes, Emmys und Screen Actors Guild Awards gewinnen lassen. „Transparent“ (seit 2014) und „Orange Is the New Black“ (seit 2013) gehören zu den prestigeträchtigsten Titeln der beiden Marktriesen, sind fast so etwas wie ihre Aushängeschilder. Ziel scheint eine deutliche Abgrenzung von der klassischen Network- und Basic-Cable-Konkurrenz zu sein: Fernsehen war einmal, technisch und inhaltlich. Streaming ist anders, Streaming ist queer.

Konsequent wirkt daher die Verpflichtung von Showrunnern, deren Arbeit bei früheren Pay-TV-Serien erst die Voraussetzungen für das goldene Zeitalter des queeren Fernsehens bzw. queeren Streaming schuf. Marta Kauffman („Grace and Frankie“, seit 2015) entwickelte lange vor dem Begriff des Quality-TV die freizügige HBO-Serie „Dream On“ (1990-96), Jenji Kohan („Orange Is the New Black“) war acht Staffeln lang für das Showtime-Format „Weeds“ (2005-12) verantwortlich. Erfahrungen bei diesen Sendern sammelte auch Jill Soloway. Sie wurde als feste Autorin ins Team von „Six Feet Under“ (2001-05) bestellt und übernahm die Leitung von „Taras Welten“ (2009-11). 2013 beauftragte Amazon sie dann mit einer eigenen Serie. Inspiriert vom Trans*-Coming-out ihres Vaters erzählt Soloway in „Transparent“ die auf den Kopf gestellte Familiengeschichte der Pfeffermans: Nach Jahrzehnten der Selbstverleugnung eröffnet die pensionierte Professorin Maura (Jeffrey Tambor) Ex-Frau und Kindern, dass sie ein Leben im falschen Körper geführt hat. Die Serie illustriert widerstandsfreudig sowohl die Herausforderungen des Emanzipierungsprozesses der Transfrau Maura als auch unangenehme Befindlichkeiten der sich dazu verhaltenden und selbst in Identitätsschieflagen geratenden übrigen Figuren. „Transparent“ treibt emotionale Dynamiken an, spielt sie aber nicht gegeneinander aus.

„Transparent“ – Foto: Amazon

In „I Love Dick“ (seit 2016), Jill Soloways zweitem Projekt für Amazon (der gemeinsame Vertrag wurde kürzlich um drei Jahre verlängert), geht es ebenfalls um Selbstermächtigung und Schieflagen. Antriebsarbeit muss die Serie allerdings nicht leisten, Dynamiken setzt ihre Vorlage, das 1997 erschienene Selbsttherapiebuch von Chris Kraus, ganz allein in Gang. Die Mischung aus Autobiographie und Roman, Tagebuch- und Briefform, Essay und Kulturkritik nahm eine Begegnung der Autorin mit dem Medientheoretiker und Soziologen Dick Hebdige zum Anlass für „reflektierte Projektionen“: Chris, in der Serie grandios von Soloway-Regular Kathryn Hahn gespielt, entwickelt ein obsessives Verhältnis zu Dick (Kevin Bacon), der der erfolglosen Filmemacherin zunächst weder Aufmerksamkeit schenkt noch deren sexuelle Annäherungsversuche zulässt („I don’t find you interesting. Not now, not ever.“). Die rätselhafte Faszination schlägt auch auf Chris’ Noch-Ehemann Sylvère (Griffin Dunne) über, der in Dicks Kunstinstitut angestellt ist. Gemeinsam träumen sie von Dreiern, erproben Rollenspiele, schreiben dem Objekt der Begierde obszöne Briefe: Erleben und erforschen, so das Motto, verknüpft mit Einsprengseln über kritische Theorie und Poststrukturalismus.

Das ist bestechend amüsant, auch wenn es erstmal gar nicht danach klingen mag. „I Love Dick“ entfernt sich vom Subjektivismus der Vorlage und gestattet eine entspannte Draufsicht: Im Mittelpunkt stehen zwei saturierte Eheleute, die der eigenen Bürgerlichkeit entfliehen wollen, sowie ein Mann ohne Eigenschaften, dem die vergeistigte Zudringlichkeit der beiden gehörig auf den Wecker geht. Zwar übersetzt Jill Soloway stilistische Eigenheiten des Buches in die serielle TV-Erzählung (anstelle des Wechsels von erster und dritter Person tritt hier beispielsweise die gelegentliche Auflösung der vierten Wand; eine Episode ist komplett als Videotagebuch gedreht), behält sonst aber die lineare Form bei. Daran könnten sich Fans des tunnelblickartigen Buches stören, weil von dessen Thesenhaftigkeit in „I Love Dick“ nicht nur kaum etwas übrig bleibt, sondern vielmehr noch die Absurditäten des Stoffes hervorgehoben werden (Feminismus mit Schlagseite, kurz gesagt). Gerade das ist jedoch die Stärke der Serie: Als Reflexion einer Reflexion geht sie zu Chris Kraus auf Distanz, ohne deren kritische Auseinandersetzung mit patriarchalischen Strukturen zu diskreditieren. Wie, wenn nicht mit ungläubigem Humor, könnte man die performative Abhängigkeit der Protagonistin von Cowboy-Dick sonst in Szene setzen?

„I Love Dick“ – Foto: Amazon

Dieser Dick, da bleibt Jill Soloway der Vorlage treu, ist das Konstrukt fremder Begehrlichkeiten – eine Leerstelle, die beliebig gefüllt wird. Zu sehen bekommt man Dick in wunderbar nichtssagenden Einstellungen auf seiner Ranch, das Wesentlichste über ihn erzählen dessen „sublime“ Kunstprojekte (protzig aufgereihte Felsbrocken in der Landschaft). Mit ungleich mehr Leben füllt „I Love Dick“ allerdings die Nebenfiguren, darunter eine mexikanischstämmige Bühnenautorin namens Devon (Roberta Colindrez), die zufällig an Chris’ Briefe gelangt und daraus ein Theaterstück bastelt (art imitating art imitating life, beinahe wie die Serie selbst). Vereinzelt werden die gendertheoretischen Fragen des Buches von der erotomanischen Hauptfigur auf die lesbische Devon übertragen, gewissermaßen nimmt Soloway damit eine Verschiebung zum intersektionalen Feminismus vor: Devon verleiht dem Geschehen um sie herum eine identitätspolitische Perspektive und kritisiert unter anderem die (in der Tat recht beknackten) Performance-Aktionen ihrer weißen Freundin Toby (India Menuez). Auch in solchen Momenten wahrt Soloway aber komödiantischen Abstand. Durch die Verlegung des Handlungsorts von New York ins texanische Wüstenkaff Marfa wirkt das diskursive Sinnieren über Kunst und Privilegien unweigerlich provinziell.

„I Love Dick“ – Foto: Amazon

Vielleicht wären „I Love Dick“ und „Transparent“ selbst dem einstmaligen Qualitätsfernseh-Giganten HBO zu sonderbar gewesen. Beide Serien setzen nicht auf bingewatch-taugliche Handlungen oder identifikatorische Figuren, manchmal sind sie sogar ziemlich anstrengend. Und ihre Queerness bleibt keine Behauptung, weil es tatsächlich auch darum geht, sich seriellen Konventionen über Themen hinaus zu widersetzen. Für die Netflix-Produktion „Sense8“ (seit 2015), entwickelt von den Trans*Geschwistern Lana und Lilly Wachowski („The Matrix“), gilt das nicht weniger. Acht pansexuelle, über alle Kontinente verstreute Figuren stehen in einer mentalen Verbindung zueinander, die es ihnen auch ermöglicht, in den Körper des jeweils anderen zu schlüpfen. Am phantastischen Plot mit Verfolgungsjagden und sonstigem Pipapo scheinen die Wachowskis überraschend wenig interessiert. Sie kreieren Folge um Folge erotisch aufgeladene Stimmungsbilder, in denen die Hauptfiguren geographische und kulturelle Barrieren überwinden, um buchstäblich zu verschmelzen. „Sense8“ feiert sexuelle Vielfalt geradezu orgiastisch und sieht mit Kosten von über 100 Millionen US-Dollar pro Staffel auch noch wie ein Hollywood-Blockbuster aus – freilich ohne die Berührungsängste des Mainstream-Kinos gegenüber allem Queeren.

Vergleicht man die spielwiesenartigen Streaming-Produktionen von Netflix und Amazon mit klassisch-linearen TV-Formaten, könnten die Unterschiede kaum größer sein. Vergangenes Jahr erhielt die zweite Season der ABC-Serie „American Crime“ (2015-17) reichlich Lob für ihre Darstellung der Vergewaltigung eines schwulen Teenagers durch dessen Mitschüler. Ausgehend von race, gender und class (in genau dieser Reihenfolge) wurden theoretisch interessante Themen zu praktisch schlimmsten TV-Bedingungen verhandelt: biedere Inszenierung und Seifenoperndialoge auf der einen, verschämte und durch eingeschobene Schwarzbilder (!) entstellte Liebesszenen auf der anderen Seite. Tatsächlich kann bereits ein schwuler Kuss geeignet sein, Zuschauerbeschwerden hervorzurufen, wie Produzenten von „The Walking Dead“ (seit 2010), der vor Blut und Gedärm triefenden Zombieserie ohne Nippel, lernen mussten. Im frei empfänglichen US-Fernsehen gibt es viele queere Figuren, tatsächlich queer aber treten die wenigsten in Erscheinung. Nicht sprachlich oder visuell Explizites hebt deshalb die neuen Streaming-Serien von der Konkurrenz ab. Sondern ihre Weigerung, Begehren zu isolieren.

 


Die HBO-Serie „Looking“ (zwei Staffeln und ein Fernsehfilm) ist in Deutschland auf Sky zu sehen; „Transparent“ (bisher drei Staffeln) und „I Love Dick“ (eine Staffel) laufen bei Amazon Prime; „Sense8“ (bisher zwei Staffeln) wird von Netflix gezeigt.

 

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