Water Lilies (2007)

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In einem Vorort von Paris begleitet die 15-Jährige Marie ihre beste Freundin Anne zum Synchronschwimmen und verliebt sich prompt in den Star der Gruppe, die betörende Floriane. Anne wiederum ist in den Wasserballer François verknallt, der seinerseits für Floriane schwärmt. Zwischen der prickelnden Kühle eines Schwimmbads und der lauen Schwüle langer Sommernächte entwirft Céline Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen“, „Petite Maman“) in ihrem Debütfilm ein dichtes Coming-of-Age-Drama um Freundschaft, erwachende Sexualität und die erste große Liebe, in dem die junge Adèle Haenel in der Hauptrolle glänzt. Für Anne Küper zeichnet „Water Lillies“ besonders aus, dass er Geschlechter- und Körperbilder auf der Augenhöhe seiner jugendlichen Heldinnen verhandelt, mit denen zusammen wir für die Dauer des Films kämpfen, scheitern, und schmachten dürfen – und dem nachspüren, was wir manchmal gerne sagen würden, aber uns aus Angst vor Zurückweisung nicht trauen.

Foto: Alamode

Erst gucken, dann anfassen

von Anne Küper

Es ist schlimm. Und es lässt sich nicht verbergen, so sehr Marie es auch versucht. Das Mädchen mit den braunen Haaren hat es erwischt, die Augen werden ganz groß, als Floriane mit den anderen Synchronschwimmerinnen ins Becken steigt und ihre Choreografien vorführt. Die Arme werden in die Luft gerissen, die Beine bis zu den Zehenspitzen durchgestreckt. Glatt und schlank ist dieser Körper, dessen Bewegungen Marie aus der Ferne beobachtet, den sie begehrt, ohne dieses Begehren angemessen mit Wörtern beschreiben zu können.

Wenig wird gesprochen in Céline Sciammas „Water Lillies“, geschaut dafür umso mehr. Nur gucken, nicht anfassen, das scheint auf den ersten Blick das Motto von Sciammas Film zu sein, der sich dem Schwärmen, den Sehnsüchten und den Stummheiten hingibt, die drei weibliche Leben prägen. Aber nicht bloß auf Marie, ihre beste Freundin Anne und Crush Floriane schauen wir, sondern mit ihnen durch eine Umgebung, die von verschiedenen Formen des Schauens zersetzt ist. Der Wettkampf, die Party, die Busfahrt, die Umkleidekabine, das Kinderzimmer, dessen Einrichtung nicht mehr so richtig zu seiner Bewohnerin passt, die sich mehr und mehr für’s Knutschen interessiert: Wie sich das Gucken und das Anfassen zueinander verhalten, wo das Gucken ins Anfassen kippt und welche Rolle das Kino in dieser Konstellation spielt, das sind die Fragen, die sich Sciamma vornimmt.

Ein Sommer in einem Vorort von Paris. Zum selben Takt strampeln die Mädchen, um dort den Kopf über Wasser zu halten, in gewisser Weise zusammen, aber doch jede auf sich gestellt. Marie will es ins Team der Synchronschwimmerinnen schaffen, damit sie Kapitänin Floriane näherkommen kann. Die lässt sie nach einiger Zeit mitmachen, um doch vor ihren Augen bloß weiter mit den hohlen Typen rumzuknutschen, die besoffen ihre Unterhosen über den Kopf ziehen. Zu ihnen gehört François, den Anne toll findet, obwohl oder vielleicht auch gerade weil sie ihn nicht wirklich kennt. Marie steht auf Floriane, Anne auf François. Das unerfüllte Schmachten eint die beiden Freundinnen. Die Enttäuschungen, die sie ob der beiden Liebesobjekte erleben, sind immer schon miteinander geteilte. Da braucht es nicht viele Wörter, man versteht sich.

Drehbuchautorin wollte Sciamma werden, nachdem sie französische Literatur studierte. Oder eben Kritikerin. Regisseurin jedenfalls nicht, zu männlich dominiert sei dieses Berufsfeld, als dass sie Lust hätte, sich dort hinein zu begeben. Das Skript zu „Water Lillies“ wird ihr Abschlussprojekt an der berühmten Filmhochschule La Fémis in Paris, ohne dass sie selbst den Film machen wollte. Sie tut es schließlich doch und dreht damit ein Debüt, das zwar vom Zauber einer ersten Liebe handelt, wie es gerne heißt, gleichsam aber eben auch von deren ausbleibender Erfüllung, vom Scheitern und Kummer. In gewisser Hinsicht ist „Water Lillies“ ein Skandal, als er 2007 erscheint, weil er sich radikal die Ängste und die Anstrengungen weiblichen Lebens vornimmt in einer heteronormativ geprägten, auf Binarität fixierten Umgebung – und dabei nur bedingt die Hoffnung pflegt, dass alles besser werden könnte.

Foto: Alamode

„This almost ethereally beautiful French movie is an exploration of the developing sexuality of three 15-year-girls in a Parisian satellite town, drawn together by a passion for competitive synchronised swimming. Watching it makes male viewers feel like voyeurs“, schrieb Philip French 2008 im Guardian, nachdem er „Water Lillies” gesehen hatte. Der Voyeurismus, den der Kritiker benennt, ist der springende Punkt bei Sciamma, die nicht erst seit ihrem großen lesbischen Liebesdrama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) systematisch Blickkonstellationen im Kino erforscht – wie sie auch im Gespräch mit critic.de deutlich wird – und Zuschauer:innen mit den Mustern konfrontiert, in denen sie gelernt haben, etwas zu betrachten. Ein male gaze fehlt in „Water Lillies“ nicht, er läuft mit, weil er es ist, der seine Abdrücke in der Welt von Marie, Anne und Floriane hinterlassen hat. Ähnlich wie die Figuren arbeitet sich Sciamma an ihm ab, zitiert ihn, um ihn offenzulegen und zu demonstrieren, wie sehr wir bestimmte Sehgewohnheiten verinnerlicht haben.

Körper werden verglichen, bewertet, kommentiert, in Form gebracht, bedrängt, unfreiwillig berührt. Männliche Figuren sind in „Water Lillies“ nicht radikal ins Off gestellt, wie es in den späteren Filmen von Sciamma der Fall ist. Sie drängen von sich aus ins Bild, sind nicht aus ihm fernzuhalten, kommen rein, ohne dass sie vorher gefragt hätten, ob sie das dürfen. An sicheren Räumen mangelt es hier für die drei weiblichen Figuren, am ehesten sind sie gegeben, wenn die jungen Frauen in verschiedenen Paarungen unter sich sind. Dort verwandelt sich das Eindringende und wird plötzlich zur Bedrohung, weil in diesen Räumen andere Dinge passieren, Freiheiten erkannt werden, die vorher noch undenkbar schienen. Das Aufmachen, Einladen und Umschließen sind die Gesten, die Sciamma dem entgegensetzt, was schon da ist.

Foto: Alamode

Was bewahrt werden muss, was fortgesetzt werden will oder was wir anders machen wollen, ist ein Aushandlungsprozess, dem sich „Water Lillies“ in der Konzentration auf Pubertät bereitwillig hingibt. Er ist Teil einer Trilogie der Regisseurin, die sich mit Jugendlichkeit, Geschlechterbildern und der Suche nach Sexualität beschäftigt. „Tomboy“ (2011) und „Girlhood“ (2014) folgen auf Sciammas Debüt, in dem die Erwachsenen im Vergleich auffällig abwesend bleiben.

Gänzlich enthoben von sozialen Umständen oder Familiengeschichten ist dieser Film aber nicht, nur spielt er diese en passant an. Da gibt es das große Haus, in dem Marie wohnt. Da gibt es den Streit mit dem Vater, nach dem sich Anne im Gespräch erkundigt. Da gibt es die Scham, wen einzuladen und mitzubringen.

Die meisten Szenen finden nicht zu Hause statt, sondern an öffentlichen Orten wie dem Schwimmbad. Auch dabei handelt es sich definitiv nicht um einen wertfreien Raum, der freie Bewegung zulässt. Die Choreografien sind vorbereitet, der Auftritt in der Umkleidekabine wird mal wieder zur Bewährungsprobe. Und trotzdem wird in „Water Lillies“ deutlich, dass diese Körper, die ungelenk in der Gegend herumstehen und damit strugglen, ob sie normal sind, was überhaupt normal ist und inwiefern sie das überhaupt sein wollen, nicht einfach freigegeben werden zum Anglotzen. Es gibt einen widerständigen Moment bei Sciamma, wenn sie die Art und Weise ernstnimmt und zur Grundlage erklärt, wie ihre Figuren sich durch diese Welt manövrieren.

Foto: Alamode

Und das ist mindestens ambivalent – wenn Marie, Anne und Floriane auf ihre Brüste und die der anderen Mädchen schauen, wenn sie einschätzen, was zu groß, zu klein oder genau richtig ist, wenn sich nicht im Sprechen, sondern in ihrer Körperhaltung die Unsicherheit darüber zeigt, wie das jetzt mit den Haaren funktionieren soll, die überall zu sprießen beginnen. „Water Lillies“ präsentiert auf liebevolle, zärtliche Weise drei weibliche Heldinnen, die noch gar nicht wissen, zu was sie allem imstande sind. Und für die kurze Dauer dieses Films dürfen wir mit ihnen sein, auf Augenhöhe kämpfen, scheitern, schmachten, dem nachspüren, was wir manchmal gerne sagen würden, aber uns aus Angst vor Zurückweisung nicht trauen.

„In all my films, it’s always the same“, meint Sciamma lakonisch in einem Interview mit dem Guardian. „It’s always about a few days out of the world, where we can meet each lover, love each other. Also it’s always about female characters because they can be themselves only in a private place where they can share their loneliness, their dreams, their attitudes, their ideas.“ Wie die Grenzen dieser Räume verlaufen, wie sie neu gesetzt werden müssen auf dem Weg zum Erwachsenwerden und dass das erste Mal nicht unbedingt etwas sein muss, dem es sich im Patriarchat entgegenfiebern lässt, das erzählt „Water Lillies“ im Modus der Grenzüberschreitung, wo auch das Obsessive nicht gescheut wird. Das lässt sich mit heutigem Blick mitunter blöd oder problematisch finden. Konsequent ist es allemal.

Einmal klaut Marie den Müll von Floriane aus der Tonne. Gebrauchte Taschentücher sind dabei, Make-up-Reste, knisternde Verpackungen, die Kitsche eines Apfels. Der Biss in das Obst, das der Schwarm schon mal im Mund hatte, ist nicht nur ein Sündenfall. Für Marie ist er das größte Glück, die größte Wunscherfüllung, die es auf Erden jemals geben kann.




Water Lilies
von Céline Sciamma
FR 2007, 85 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT

Als DVD und VoD