BOY

TrailerDVD/VoD

Tobias ist 16 und muss die Ferien bei seinen Großeltern verbringen. Auf seinen Streifzügen durch das Dorf begegnet der junge Skater dem Sexworker Jonas und lernt den Maler Aron kennen. Zwischen Tobias und Aron entwickelt sich eine vorsichtige Beziehung. Doch dann verfällt der Teenager wieder in alte Gewohnheiten: Er gibt sich die Schuld an Dingen, die vermeintlich falsch laufen. Mitreißend porträtiert der dänische Regisseur Søren Green in seinem ersten Langfilm einen Jugendlichen, der sich selbst verletzt, um seine Gefühle der Verlassenheit und Einsamkeit zu kontrollieren. Andreas Köhnemann über einen Coming-of-Age-Film, der seine abgründige Geschichte in einer sommerlich-hellen Kulisse erzählt und mit großer Empathie auf seine Figuren blickt.

Foto: Salzgeber

Skaten über Scherbenhaufen

von Andreas Köhnemann

Wir lernen den 16-jährigen Tobias als Skaterboy kennen. In Filmen über Jugendliche, die Skateboard fahren, etwa „Kids“ (1995), „Dogtown Boys“ (2005) oder „Paranoid Park“ (2007), wird der Freizeitsport meist als Gruppenerfahrung gezeigt – als eine gemeinsame identitätsstiftende Aktivität, die das Selbstbewusstsein und das Zugehörigkeitsgefühl der Figuren steigert. Tobias hingegen ist allein in einer großen Halle. Kurz darauf sehen wir ihn durch die leeren Straßen einer dänischen Vorstadt skaten, mit Musik auf den Ohren, ganz in sich gekehrt, in seiner eigenen Welt.

Als er später mit seiner Mutter am Esstisch sitzt, wird kaum gesprochen. Er solle nicht böse mit ihr sein, es sei nur für ein paar Tage, meint die Mutter. In der anschließenden Szene hebt Tobias die Scherben eines zerbrochenen Glases vom Küchenboden auf. Wir haben nicht gehört, was die Mutter ihrem Sohn vor ihren eher halbherzigen Beschwichtigungen mitgeteilt hat – und wir haben auch nicht gesehen, wie das Glas herunterfiel. Uns werden hier nur die Resultate präsentiert: die Traurigkeit in Tobias’ Gesicht beziehungsweise die Scherben auf dem grauen Laminat. Daran lässt sich zum jeweiligen Szeneneinstieg dann schon nichts mehr ändern – the damage is done.

Diese resignative Haltung scheint den Film und seinen Protagonisten zunächst zu beherrschen. Tobias wird von seinen Großeltern abgeholt, um bei ihnen auf der abgeschiedenen Ostseeinsel Langeland zu wohnen. „Ich werde mich um dich kümmern“, verspricht die Großmutter – aber ein solcher Optimismus wirkt in diesem Moment völlig chancenlos. Astrid, die Großmutter, ist an Demenz erkrankt. Als sie ihrem Enkel den Arbeitspullover ihres offenbar früh verstorbenen Sohnes gibt, fällt es ihr daraufhin schwer, Tobias von dem Toten zu unterscheiden. Der Versuch, in dieser Umgebung die nötige Stabilität zu finden, scheint für Tobias von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein.

Wenn Tobias seinem Großvater, einem Glaser, bei beruflichen Aufträgen hilft und wenn er dem charmanten, attraktiven Malermeister Aron bei einer zufälligen Begegnung seine Handynummer mit einem Kugelschreiber auf den Arm kritzelt, flackert für einen Augenblick Hoffnung auf. Doch das Unbehagen bleibt. Als der Großvater Tobias spontan in der Küche die lockigen Haare schneiden will und ihn deshalb bittet, das Sweatshirt auszuziehen, fühlt sich der Teenager sichtbar unwohl und gehemmt. Erst später wird für uns als Zuschauende klar, dass er hier in seiner kauernden Haltung die Narben auf seinem Arm zu verbergen versucht, die von seinen früheren Selbstverletzungen stammen. Die aufkeimende Beziehung zum 25-jährigen Aron baut derweil auf einer Lüge auf, da Tobias behauptet, er sei bereits 19 Jahre alt.

Foto: Salzgeber

In einer klischeehaften Inszenierung würde all diese Beklemmung in graue, regnerische Bilder verpackt werden. Der Regisseur Søren Green und seine Kamerafrau Stephanie Stål Axelgård setzen in „Boy“ indes nicht auf ungemütliches Wetter und auf einen fahlen Look, um eine Atmosphäre der Unsicherheit zu erzeugen, sondern siedeln Tobias’ düster anmutende Coming-of-Age-Geschichte als bewussten Kontrast in einer sommerlich-hellen Kulisse an, die ebenso als Schauplatz einer leichten Feel-Good-Komödie dienen könnte. Die Insel wird als Mikrokosmos erfasst, in dem etwa die touristische Frittenbude am Strand oder das entlegene Toilettenhäuschen an den Docks zu wichtigen wiederkehrenden Handlungsorten werden.

Der Plot deutet lange Zeit auf eine Abwärtsspirale hin. Wegen des gesundheitlichen Zustandes der Großmutter, der sich rapide verschlechtert, muss Tobias vorübergehend zum ungeliebten Vater ziehen, der sich mit neuer Partnerin und Tobias’ jüngerer Stiefschwester gerade in einem schicken Sommerhaus aufhält. Die Mutter ist telefonisch wiederum kaum zu erreichen. Und Aron reagiert irritiert auf Tobias’ wankelmütiges Verhalten. Als Tobias sich von allen verlassen und zutiefst missverstanden fühlt, schließt er sich dem etwas älteren Sexworker Jonas an, der seine Kunden stets an besagtem Toilettenhäuschen empfängt.

Foto: Salzgeber

Es geht dem Drehbuch, das Green zusammen mit Tomas Lagermand Lundme geschrieben hat, nicht darum, Sexarbeit per se zu dämonisieren oder als schockierenden Tiefpunkt eines negativen persönlichen Weges zu zeigen. Vielmehr verdeutlichen die Sequenzen, in denen Tobias Sex mit anderen Männern hat, dass Tobias bisher keine Möglichkeit hatte, ein gesundes Verhältnis zu seinem eigenen Körper und zu seiner Sexualität zu entwickeln. Sex scheint für ihn lediglich eine Bestrafung zu sein, die mit Herabwürdigung und Gewalt einhergeht. Der Hauptdarsteller Noa Viktor Risbro Hjerrild, der schon seit seiner frühen Jugend vor der Kamera steht (unter anderem auch für Greens Kurzfilm „October Boy“ aus dem Jahr 2018), spielt die Rolle sehr empathisch, überwiegend mit stillen Gesten, wodurch die wenigen Ausbrüche der Figur eine umso intensivere Wirkung entfalten.

Der Film lässt seinen Protagonisten allerdings nicht ins Bodenlose stürzen. Vertrauen kann (neu) aufgebaut werden. Menschen können um Entschuldigung bitten und einander verzeihen. Schmerz, Wut und Trauer können zugelassen und dadurch verarbeitet werden. Auch wenn schlimme Dinge gesagt wurden, wenn Sachen zu Bruch gegangen sind, ist nicht zwangsläufig alles verloren. Mit scharfem Blick für die vielen Hürden, die gewiss nicht plötzlich verschwinden werden, verlässt „Boy“ allmählich den fatalistischen, destruktiven Pfad, um gemeinsam mit Tobias behutsam nach vorne zu schauen. Die Narben und Verletzungen sind da; sie müssen nicht versteckt werden, um weitermachen zu können.




BOY
von Søren Green
DK 2024, 86 Minuten, FSK 16,
dänische OF mit deutschen UT

Als DVD und VoD