Close to You

TrailerQueerfilmnacht

In „Close to You“, der im November in der Queerfilmnacht zu sehen ist, kehrt Elliot Page nach mehr als drei Jahren wieder auf die große Leinwand zurück. Page, der in seiner erfolgreichen Autobiografie „Pageboy“ (2023) ergreifend vom langen Weg zu seinem wahrem Selbst erzählt hat, glänzt in der sehr persönlichen Geschichte eines jungen trans Mannes, der nach Hause zurückkehrt, sich gegen Vorurteile behaupten und alte Gefühle neu einordnen muss. Luca Mael Milsch über einen Film, der für die Entfremdung von der Herkunftsfamilie eindrückliche Bilder findet und einen Protagonisten zeigt, der erst in der schmerzvollen Abgrenzung zum eigenen Leben kommt.

Foto: Salzgeber

Long Way Home

von Luca Mael Milsch

Aufwachen, aufstehen, anziehen. Es könnte für Sam (Elliot Page) ein normaler Morgen sein, wäre da nicht der bevorstehende Familienbesuch. Zum Geburtstag seines Vaters soll er das erste Mal nach vier Jahren wieder in seine Heimat Cobourg kommen. Vier Jahre, in denen er sein Coming-out als trans Mann hatte, vier Jahre ohne Kontakt. Und obwohl die Angst vor dem Wiedersehen und der Konfrontation mit enttäuschten Erwartungen groß ist – Sams Pflichtgefühl ist größer, und er macht sich auf den Weg.

Im Zug blickt er hinaus, lässt die graue Winterlandschaft an sich vorbeiziehen. Das triste Außen als Spiegel für Sams Einsamkeit, da er in eine Welt zurück muss, in der er sich verlassen gefühlt hat, sich nie zeigen konnte. In ruhigen Bildern arbeitet der Film mit dem nachdenklichen, teils schweren Blick aus dem Fenster, die Fensterfront – ob im Zug oder zuhause – wird zur Membran: Nacht und Tag, innen und außen, dazugehören und außenstehen. Sam befindet sich in einem Zwischenraum, ist in Bewegung. Und dass er jederzeit umkehren kann, wird zum Anker in den bevorstehenden Auseinandersetzungen mit der Familie.


Die Geschlossenheit der beengten Kleinstadt wird durch die Nähe der Kleinfamilie noch gesteigert. Die Familie – liberale upper-middle-class-Eltern, ein eher unscheinbarer Bruder und zwei Schwestern plus Partner – scheint zunächst herzlich und verständnisvoll: Die vielen Beteuerungen der Angst, die Unfähigkeit, dem eigenen Kind einen Raum zu geben, sich zu finden, scheinen aus der Familienperspektive einleuchtend, ebenso wie die Erleichterung, der Sohn habe es nun „geschafft“. Wenn auch ohne Hilfe der Herkunftsfamilie, die später behauptet, das Wichtigste sei, beieinander, miteinander zu sein. Kein Wunder also, dass das Publikum gemeinsam mit Sam bei so viel Konformität zunächst vom überbordenden Familiengewusel überfordert wird und Schwierigkeiten bekommt, die unterschiedlichen Figuren herauszugreifen, die sich erst langsam und durch Einzelgespräche voneinander unterscheiden lassen.

Das betrifft vor allem die Schwestern Megan und Kate, die sich nicht nur zum Verwechseln ähnlich sehen, sondern beide auf ihre Art distanziert, irritiert, wenn auch bemüht sind. Im Gespräch mit Kate findet Sam klare Worte für ihre Haltung ihm gegenüber: „Als es mir schlecht ging, hat sich keiner Sorgen gemacht“, was wiederum bloß mit einem Schulterzucken quittiert wird. Kates Vorwurf, warum Sam nicht „ehrlich“ gewesen sei, warum er sich nicht gezeigt habe, spiegelt das vollkommene Unverständnis einer heteronormativen Gesellschaft, die trans Personen ausschließlich in Relation zu sich selbst und der eigenen Betroffenheit begreifen will. Sams Beteuerungen, er hätte es ja versucht, sind ein weiterer Tropfen in einem Fass, das später zum Überlaufen kommt. Dass Sam den ganzen Besuch über Mütze und Jacke anlässt, überrascht da nicht: Er ist auf dem Sprung, macht es sich gar nicht erst gemütlich – und als er einmal die Jacke auszieht, eine Schicht abstreift, sich verletzlich macht, eskaliert die Situation.

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Ja, der Film arbeitet sich zunächst vor allem an den Reaktionen der Angehörigen und Umwelt ab, anstatt sich von diesem typischen Narrativ zu lösen. Wie geht es den Schwestern, den Eltern, der ehemaligen besten Freundin damit, die mit Misgendering, Tränen und Unverständnis reagieren? Aber der Film versucht, auf die anfängliche Irritation oder Ablehnung keine klassische Versöhnung folgen zu lassen. „Close to You“ findet klare Worte dafür, dass trans Personen mehr verdienen als ein Mindestmaß an Respekt, Zuwendung und familiärer Zugehörigkeit. Indem Sam nicht alles dankbar annimmt und stumm erträgt, sondern aufbegehrt, findet er wieder zurück zu sich.

Wie Sams Leben außerhalb des Cobourg-Universums aussieht, davon lässt sich bedauerlicherweise zu wenig erfahren. Ein Job, Freund:innen, Sexpartner:innen, das neue Leben existieren zwar, wie er im Gespräch mit seiner Mutter beteuert, aber wer Sam fernab der enttäuschten Vorstellungen der Familie ist, fernab der wiedererwachten Jugendliebe zu Catherine – ebenfalls eine Außenseiterfigur –, bleibt leider aus.

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Allerdings zeigen die Reaktionen der Umwelt und die etwas bemühte Liebesgeschichte des Films noch einen anderen wichtigen Konflikt innerhalb von trans Biografien: Während seine Schwester Megan und Ehemann Paul den normativen Vorstellungen dessen entsprechen, was Menschen in der upper middle class erreicht haben sollten – das, was die Gesellschaft als Erwachsenwerden definiert: gesicherter Job, Eigenheim, Hochzeit, Kinder usw. –, entzieht sich Sams Lebenslauf dieser Normativität.

Und doch muss er sich an den Maßstäben einer Gesellschaft messen lassen, die ihn nicht mitdenkt. Sam muss sich rechtfertigen, etwa wenn Kate ihn auf seine fehlenden Sicherheiten hinweist. Aus ihrer Frage spricht eine vollkommene Verständnislosigkeit, warum er das alles „aufgegeben“ habe – womit sie sein Leben vor der Transition meint. Und da ist Scham, etwa wenn Sam die Sorge formuliert, Catherine als Partner nichts bieten zu können.

Foto: Salzgeber

Regisseur Dominic Savage, der das Skript ohne Dialoge schrieb, ließ die meisten Szenen improvisieren. Das macht die Gespräche nahbarer und die Unbehaglichkeit der Begegnungen umso prägnanter. Es ist Elliot Pages erste Kinorolle seit 2017. Der Film folgt auf das Memoir „Pageboy“, zu dem sich nur wenige Parallelen ziehen ließen: Page wuchs in Nova Scotia als Kind geschiedener Eltern auf, der Vater ist mittlerweile Anhänger der Far-Right-Bewegung und die beiden haben keinen Kontakt. Ganz anders also als die Geschichte von Sam. Dessen Familie hält sich für offen, liberal, und gerade daraus entstehen unbeholfene Situationen und unangenehme Gespräche, die in sich eine gewisse Komik tragen, und den Film – neben seinen nachdenklichen und schweren Sequenzen – immer wieder auflockern.

Aufwachen, aufstehen, anziehen. Der Film endet dort, wo er angefangen hat, und tut es doch nicht. Diese vermeintlich selbstverständliche Szene wird genau deswegen zu einem zentralen Moment: Erst als trans Mann kann sich Sam nach dem Aufwachen wie eine Person fühlen, die in dieser Welt funktionieren kann (wie er es selbst im Gespräch mit seiner Schwester formuliert). Sie zeigt die Differenz zur und Entfremdung von der Herkunftsfamilie, der er diese Selbstverständlichkeit erst begreiflich machen müsste. Und sie zeigt, wie weit der Weg war, jetzt, da er im eigenen Leben angekommen ist. Er steht wieder dort, wo er vorher war, und ist doch schon weiter, setzt immer wieder neu an. Und der letzte Blick geht hinaus, auf den langen Weg vor ihm, aber diesmal hoffnungsvoll: auf alles, was kommt.




Close to You
von Dominic Savage
CA/UK 2023, 100 Minuten, FSK 6,
englische OF mit deutschen UT

Im November in der Queerfilmnacht