Vier Tage in Frankreich

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Paris am frühen Morgen. Pierre wirft einen letzten Blick auf den Körper seines schlafenden Partners Paul. Und verlässt ihn dann. Er setzt sich ins Auto und fährt ohne konkretes Ziel einfach los. Es geht kreuz und quer durch ganz Frankreich, zwischendurch kommt Pierre mit Passanten ins Gespräch und hat Sex mit Männern, die er über Grindr findet. Paul nutzt die gleiche App, um seinen verschwundenen Freund zu suchen. Jérôme Reybauds Geschichte zweier Liebender, die von der mobilen Zerstreuung körperlichen Begehrens erst getrennt und dann wieder zusammengeführt werden, verläuft wie ein Katz-und-Maus-Spiel und ein einziger langer Cruising-Trip. Das auch in seiner Filmlänge ausufernde Road Movie erinnert in seinen romantisch-queeren Vignetten an die Filme Alain Guiraudies und Paul Vecchialis, entwickelt aber dank einer Serie von wunderbaren Nebenfiguren und Drehbuchfinten eine ganz eigene, verführerische Skurrilität. Dennis Vetter über einen Liebesfilm zu Zeiten der Sexdating-Apps.

Foto: Edition Salzgeber

Entgrenzte Berührungen

von Dennis Vetter

Aus dem Innern heraus eine neue Art finden, sich dem Denken anzunähern? Während der kühle Pierre (Pascal Cervo) im Auto sitzt, spricht eine Radiomoderatorin vom Poststrukturalismus und von der Möglichkeit, die Welt jenseits des strukturierten Denkens neu zu betrachten. Die Ansage ist klar: Der nachfolgende Film möchte mehr sein, als ein Roadmovie. Pierres Reise im Auto wird über zwei Stunden dauern und ihn entlang anonymer Grindr-Dates durch die französische Provinz bis ganz in den Süden an die italienische Grenze führen. In Paris hat er seinen Liebhaber oder Freund Paul (Arthur Igual) unvermittelt zurückgelassen, aber vor seinem Aufbruch mit der Handykamera noch einmal in aller Ruhe abgefilmt. Eine geisterhafte Szene im Dunkeln, durchleuchtet vom Lichtstrahl des Handyblitzes. Wie lange die beiden sich kennen, das verrät Regisseur Jérôme Reybaud in seinem Film nicht. Denn es geht ihm um die Erfahrung des Ungewissen und Suchenden, um “Vier Tage in Frankreich” als Zeit der Entgrenzung des Privaten und Intimen.

Reybauds erster Spielfilm reiste seit seiner Uraufführung vor zwei Jahren bei der 31. Woche der Kritik in Venedig enttäuschenderweise wenig herum. Das scheint mitunter verständlich, weil es leise Filme ohne bekannte Namen manchmal doch schwer haben in der Aufmerksamkeitsökonomie internationaler Festivals. Der Film kommt nicht eben marktschreierisch daher, weder bedient er in seinem konsequenten Understatement Erwartungshaltungen an das schwule Kino, noch interessiert er sich für Gewohnheiten des Roadmovies. Eine verirrte Kritik im Hollywood Reporter hing sich daran auf und spricht Bände darüber, welche Fragen der Film aus Prinzip nicht beantworten will. Reybaud verweigert sich in seiner freien Montage immer wieder einem klassischen Erzählfluss und stellt Sehroutinen in Frage. In der Tat ist der Regisseur schon bei seinem ersten Film entwaffnend stilsicher. Sein großes Interesse für den Anarchisten und Formexzentriker Paul Vecchiali, dem er zuvor eine TV-Dokumentation widmete, überrascht da nicht. Es ist in der Tat ein radikaler Formwille zu spüren bei „Vier Tage in Frankreich“, eine Schamlosigkeit und ein Mut, sich auf das Abstrakte, Unwahrscheinliche und Ungefällige einzulassen.

Foto: Edition Salzgeber

Reybaud sucht in seinem Film das Fragment und die Auslassung. Da sind etwa kurze Einblendungen von Figuren, die erst später auftauchen, immer wieder auch kurz hineingeschnittene Seitenblicke zu Figuren, deren Auftritte zurückliegen. Dann gibt es Begegnungen, die nicht in einen Zusammenhang treten müssen, sondern wie Anekdoten für sich stehen – etwa mit einer Diebin, gespielt von der hervorragenden Laetitia Dosch („Jeune Femme“), die nur das wichtige von Pierre stehlen will, statt des wertvollen. Einmal gibt es einen Seitenhieb auf den französischen Film, wenn die Frage im Raum steht, welche Kinovorstellungen besonders leer und daher gut geeignet für Sexdates seien. Dann spricht Pierres Tante, eine Theaterschauspielerin, pamphletartig von Freiheit, Würde und Potenz.

Foto: Edition Salzgeber

Pierre navigiert sich mit einer ähnlichen Unberechenbarkeit durch die Welt, wie sie auch der zugrundeliegenden Dating-App innewohnt. Mit einer ungreifbaren Abgeklärtheit wischt er sich aus dem Leben von Leuten, die manchmal an ihm hängen und manchmal doch vor ihm von sich aus eine Linie ziehen. Der Grundton folgt dennoch einem stoischer Optimismus: Frankreich ist voller Männer und voller Möglichkeiten, meint er einmal. Pierre erscheint keineswegs als zynischer Stecher, sondern als intelligenter, sanfter junger Mann. Er geht durch die Welt und berührt die Leben der Menschen ohne Erwartungshaltungen. Und immer wieder erscheint in ihm ein Schwermut der Stadt Paris gegenüber, die ihn vielleicht ebenso in die Ferne treibt, wie die unausgesprochene Enttäuschung in seiner Beziehung zu Paul.

Da ist ein Gefühl in ihm, was Pierre mit der Straße verbindet und mit den Begegnungen, getragen durch die Fähigkeit des Regisseurs, seinen Helden nicht nur im Handeln zu charakterisieren. Pierre ist ein präzise Reagierender und lebt ganz stark von Pascal Cervos unbeeindruckter Mimik, die von einem aktiven und aktivierenden Beobachter erzählt. Seine Beziehung zur Welt und zu den Menschen zeugt von einem Vergnügen am Komplizierten. Einmal spricht Pierre davon, dass er keine Bedürfnisse habe, und von seinem Instinkt bei Begegnungen mit anderen Männern: „Ich begehre, was mein Gegenüber an mir begehrt.“ Dann spricht ein Handelsreisender über die Verbindung zum Asphalt, die nur beim Fahren wirklich zu spüren ist, über das Gefühl für die Veränderungen einer Straße, die sich auf Körper und Geist übertragen. Pierre lässt ihn ans Steuer seines Wagens, sie fahren gemeinsam eine lange Kurve in der Dunkelheit.

Foto: Edition Salzgeber

Eine andere Szene spielt sich ohne Schnitt ab. Eine Sängerin, die Pierre im Auto mitnahm, betritt ein Altersheim und stimmt ein Chanson an. Während sie sich drinnen umzieht und loslegt, geht er draußen im Dunkeln über die Wiese, betrachtet sein Telefon auf der Suche nach neuen Begegnungen, hält einmal inne, um die Sängerin und die sitzenden Alten durch das Fenster zu betrachten, läuft am Gebäude vorbei und findet eine Bank, setzt sich und verweilt, während noch immer die Musik erklingt – und die Kamera schwenkt weiter, in einen Hof hinein und zurück, vorbei am sitzenden Pierre und zurück zur Sängerin im beleuchteten Raum, als würde hier neben Pierre noch ein weiteres Bewusstsein die Welt ausloten und vermessen wollen. Es geht ganz anders zu als bei der Szene mit der Diebin, die aus einer Komödie stammen könnte. Reybaud scheint über seine filmische Reise hinweg nicht den einen Rhythmus zu suchen, sondern er treibt sein Spiel damit, einen immer wieder aus dem Takt zu bringen.

Am Ende, wenn das letzte Bild vorbeigezogen ist, singen alle Figuren des Films in verteilten Rollen ein Lied, das eigens für den Film geschrieben wurde. Ein Lied über die Straße, das vom Wald der Erwartungen berichtet, vom Hotel des geträumten Lebens. Ein bisschen fahrig und melancholisch, mit einem gründlichen Sinn für die Schwere.




Vier Tage in Frankreich
von Jérôme Reybaud
FR 2017, 141 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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