Unser Paradies

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In seinem blutigen Märchen „Unser Paradies“, das es ab jetzt im Salzgeber Club zu sehen gibt, schickt Gaël Morel zwei dunkle Engel auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Die beiden Stricher Vassili und Angelo wehren sich mit Gewalt gegen die entwürdigenden Blicke ihrer Freier und steuern, getrieben von einer Sehnsucht nach einem Ort für ihre Liebe, auf eine Katastrophe zu. Sascha Westphal über einen Film, der ganz im Zeichen des rauen, transgressiven französischen Queer Cinema der 1980er und 90er Jahre steht.

Foto: Salzgeber

Die Ballade von Vassili und Angelo

von Sascha Westphal

„Over there / In the cold / Stands the Hustler / His eyes are old
He has seen a million ugly scenes / Places where men droop with mould
The backrooms / Where soiled goods are sold
Seen with opened eyes since frail fifteen
He has found it hard at first / But on his brow there sits a curse
For when the young must suffer / At the hands of men“

(Marc Almond: „The Hustler“, 1986)

 

Nachts im Bois de Boulogne. Vassili streift ziellos umher. Gerade hat ihn ein viel jüngerer Stricher von seiner Ecke an der Straße vertrieben. Einer wie Vassili ist nun mal schlecht für das Geschäft. Die Männer in den Autos suchen nach jungen, attraktiven Begleitern und nicht nach Typen, die vielleicht vor 15 Jahren einmal Könige in der Welt des schnellen, anonymen Sex waren. Aber Vassili hat eben nie den Absprung geschafft. Er lebt immer noch so wie am allerersten Tag, damals vor so vielen Jahren, als er in Paris angekommen ist und ihm, dem jungen Schwulen aus einem winzigen, viel zu engen Nest bei Grenoble, die Welt zu Füßen zu liegen schien. Mittlerweile dreht sich so leicht keiner mehr nach ihm um. Die Bewunderung ist aus den Blicken der anderen verschwunden. Nun registrieren sie ihn nur noch distanziert und fragend oder gleich spöttisch und verachtend. Die Jungen, die seine Söhne sein könnten, sehen in ihm höchstens noch ein abschreckendes Beispiel. So etwas darf ihnen nicht passieren.

Also geht Vassili nun alleine mit sich und seinen Gedanken, seinen Erinnerungen und seiner Wut durch den Park. Nah am Wasser entdeckt er plötzlich im Gras einen bewusstlosen jungen Mann und holt ihn zurück ins Leben. „Bin ich tot?“, fragt der Fremde, als er die Augen wieder öffnet und in Vassilis leicht aufgedunsenes und schon ziemlich verlebtes Gesicht blickt. „Nein“, versichert ihm sein Retter. Aber der Tod wird trotz allem von nun an sein Begleiter sein. Zunächst will der Namenlose, der überfallen und wohl auch vergewaltigt wurde, Vassilis Hilfe nicht annehmen. Er setzt sich in einer Bushaltestelle auf eine Bank und will nur noch allein sein.

Aber Vassili kann seine Augen nicht von dem blonden, aufreizend unschuldig wirkenden Jüngling nehmen. Von der anderen Straßenseite aus beobachtet er ihn und schreitet sofort ein, als ein Freier den Verletzten anspricht. Von diesem Moment an sind die beiden praktisch unzertrennlich. Noch in derselben Nacht wird Vassili seinen Schützling Angelo taufen. Zunächst hatte er es mit Ange und Angel versucht. Doch weder der eine noch der andere Name gefiel seinem Gast. Vielleicht waren sie diesem aus dem Nichts gekommenen, durch die Liebe Vassilis neugeborenen Engel zu offensichtlich und banal. In Angelo schwingen zumindest nicht nur die Erwartungen und Hoffnungen des Älteren mit. Dieser Name ist für den Fremden aus dem Park, der nicht ein einziges Wort über seine Vergangenheit verlieren wird, selbst eine Art Versprechen. Er hat etwas Exotisches an sich, ein Geheimnis, das nicht so ganz zu seinem Äußeren passen will.

Foto: Salzgeber

Eine Begegnung wie in einem Märchen ist dieses erste Zusammentreffen von Vassili und Angelo. Und so setzt sie Gaël Morel auch in Szene. Der Bois de Boulogne, diese Wildnis mitten in der Stadt, in der Nacht für Nacht die Hustler nach Freiern suchen, durch die aber auch homophobe Schläger marodieren, in der ein Leben kaum mehr wert ist als ein Blowjob, erscheint plötzlich in einem anderen Licht, verwandelt sich vom Straßenstrich in einen verwunschenen Märchenwald, in den ein Engel vom Himmel herabsteigen und ein schon vor langer Zeit gefallener Cherub noch einmal eine Chance bekommen kann.

Morel nimmt das Wunder und Mysterium der Liebe genauso ernst wie die triste Wirklichkeit eines Lebens als alternder Stricher, in der Vassili zusammen mit Angelo in – wie er sagt – „unser Paradies“ entfliehen will. Wie dieses Paradies aussehen könnte, auch davon wird Morel später noch ganz ohne Kitsch erzählen. Sie finden es schließlich in den verschneiten Bergen und Wäldern rund um die Villa von Vassilis erstem Freier Victor. Für einige kostbare Momente, in denen die beiden ganz bei sich sind, taucht ihre bedingungslose, keine Grenzen akzeptierende Liebe die Welt in ein sanftes, beinahe goldenes Licht und transformiert sie. So könnte es vor dem Sündenfall, der bei Morel der Fall eines und damit aller Männer ist, gewesen sein.

Doch das wiedergefundene, das selbst erschaffene Paradies hat keinen Bestand. Die Illusion muss zerplatzen, in einem anderen, neuen Sündenfall, den ein kleiner Junge, der auch Vassili heißt, mit ansieht. Das Paradies lässt sich nicht festhalten so wie die Zeit, die Vassili mit seiner Jagd nach bedeutungslosem Sex vergeudet und verloren hat, sich nicht wiederfinden lässt. Angelo, der Engel aus dem Bois de Boulogne, ist für ihn nun ein Versprechen auf eine zweite Jugend und auf ein Leben, das durch die Liebe doch noch einen Sinn erhält, das alles Gewesene, all das Dunkle und Kaputte, das Geld und die Gewalt transzendieren könnte. Doch die Wirklichkeit hat ihre eigenen Gesetze, an denen das Märchen nur zerbrechen kann. Und so verliert der alternde Hustler, der gelernt hat, seine Freier zu hassen, der sie nur mehr als Zerstörer der Liebe und Korrumpierer von Unschuld sehen kann, auch noch die ihm noch gebliebene Illusion über seine Vergangenheit.

Foto: Salzgeber

Lange galt in Vassilis Augen für Victor genau das, was Pierre Pruez in „Ein Anfang vor dem Ende“ (2007), Jacques Nolots exquisitem Porträt des Gigolos als altem Mann, über einen seiner ersten Freier sagt: „Er war immer mein Vater, meine Mutter, meine Bank. Wie ein Elternteil, das du nur sehen willst, wenn die Dinge schlecht stehen.“ Doch dieser Vater in der Ferne, der ihm immer noch die Miete für sein Pariser Appartement zahlt, ist eben auch nur ein Mann wie alle anderen, denen er schon in einer Million hässlicher Szenen begegnet ist, ein Mann, der sich einen deutlich jüngeren Geliebten hält, der wiederum Ansprüche auf ihn erhebt. Damit ist das Idyll in den Bergen beschmutzt und die Katastrophe, auf die diese „Ballade von Vassili und Angelo“ schon von Anfang an zusteuert, unausweichlich.

Aber nicht nur Vassili sucht nach einer verlorenen, einer ihm zwischen den Fingern davon geronnenen Zeit. Der Film selbst gleicht einer Beschwörung eines vergangenen oder zumindest aus der Mode gekommenen Kinos. Auf den ersten Blick könnte „Unser Paradies“ mit seinem Hustler-Paar, das seine Freier für ihre Verderbtheit, ihre rein materialistische Vorstellung von Nähe und Sexualität richtet, die schwule Variante von Serienkiller-Pärchen à la „California“ (1993), „Natural Born Killers“ (1994) oder auch Jean-Marc Barrs und Pascal Arnolds „American Translation“ (2011) sein, in dem die Amour fou zweier haltloser Twens in mehreren Morden an jungen Strichern kulminiert.

Doch letzten Endes verbindet Morels Film kaum etwas mit diesem tief in der amerikanischen Popkultur des späten 20. Jahrhunderts verwurzelten Subgenre. Seine Ursprünge liegen viel eher im französischen Queer Cinema der 1980er und 90er Jahre. Morel kehrt zurück zu den rauen, transgressiven Arbeiten von Filmemachern wie Patrice Chéreau und Cyril Collard. Von „Der verführte Mann – L’Homme blessé“ (1983) über „Wilde Nächte“ (1992) und Vincent Ravalecs ekstatischem Filmpoem „Portrait des hommes qui se branlent“ (1995) scheint praktisch eine direkte Linie zu „Unser Paradies“ zu führen, der angesichts der Radikalität und Intensität seiner ungeschminkten Bilder und Szenen aus dem Leben zweier Hustler aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Die Reise der vorbehaltlos Liebenden in Richtung Paradies ist eben auch eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit, in der Vassili noch jung und unwiderstehlich war.

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Doch die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen, weder von zwei gestürzten Engeln noch von einem Filmemacher, der sie auf diesen vergeblichen Trip schickt. Davon zeugen alleine schon Stéphane Rideaus Körper und Gesicht. In seinen Augen ist immer noch etwas zu erkennen von dem umwerfenden jungen Mann aus André Téchinés „Wilde Herzen“ (1994), in den man sich einfach verlieben musste. Aber von seinem spektakulären Körper ist nur noch eine Ahnung geblieben. Gleich in der ersten Szene sitzt er nahezu unbeweglich auf der Couch eines wohlhabenden Freiers und versucht nicht einmal, den Bauchansatz zu verstecken. In seinen Anzeigen, im Internet und am Telefon lügt dieser Vassili dreist, wenn es um sein Alter und sein Aussehen geht. Anders könnte er auch kaum noch Kunden finden. Ist er aber erst einmal bei ihnen, stellt er den Niedergang seines Körpers ebenso schamlos aus.

Alles an diesem in die Jahre gekommenen Rent-Boy verkündet den Männern, die ihre eigene Jugend noch einmal heraufbeschwören wollen, in dem sie möglichst junge und schöne Männer für Sex bezahlen: Auch ihr seid alt und hässlich, akzeptiert den Lauf der Zeit. Doch das können sie nicht, und so greift er zur nächstbesten Waffe. Den ersten Klienten, der selbstvergessen zu Roy Orbisons „In Dreams“ tanzt und gar nicht aufhören kann, auf Vassili einzureden, will er mit dem Stromkabel eines Plattenspielers erwürgen. Einen erschlägt er, und wieder einen anderen ersticht er in dessen Badewanne und lässt ihn dort in einer Pose zurück, die deutlich an Jacques-Louis Davids Gemälde „Der Tod des Marat“ erinnert. Nur liegt er vor einer Wand aus Panoramafenstern, die den Blick auf ein nächtliches Schneetreiben freigibt.

In diesem Blick ins vom Schnee erhellte Dunkel schwingt noch ein anderes Bild mit. In André Téchinés „Ich küsse nicht“ (1991) stehen an einem Weihnachtsabend der aus der Provinz nach Paris geflohene Pierre Lacaze und der erfolgreiche Fernsehproduzent und -Moderator Romain an einem Fenster hoch über der Stadt und betrachten den Schnee, der sanft auf die Straßen niederrieselt. Pierre und Romain sind das Paar, das in Téchinés kristalliner Verfilmung von Jacques Nolots Drehbuch nie zusammenkommt. Selbst als Pierre seine Hemmungen überwunden hat und im Bois de Boulogne, in den es Romain trotz seiner Berühmtheit immer wieder zieht, anschaffen geht, versteckt er sich sofort, wenn er den älteren Mann sieht. Er entzieht sich konsequent der Möglichkeit, in Romain seinen Vater, seine Mutter, seine Bank zu sehen, und wird dafür einen hohen Preis zahlen. Wohin sein Weg führt, lassen Téchiné und Nolot offen, wobei dessen eigene Trilogie, „Hinterland“ (1998), „Zwei Köpfe hat die Mieze“ (2002) und „Ein Anfang vor dem Ende“, sich durchaus auch als Fortschreibung von Pierres Geschichte lesen lässt.

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Vor diesem Hintergrund eröffnet sich noch einmal eine andere Facette in Morels lyrischem Märchen von Eros und Thanatos. Zusammen mit „Ich küsse nicht“ und „Ein Anfang vor dem Ende“ bildet „Unser Paradies“ eine Art von Dreieck, das verschiedene Möglichkeiten einer Biografie vermisst und durchspielt. Gemeinsam zeichnen sie das Bild eines Strichers und Gigolos als filmisches Triptychon, ein Panorama eines Lebens am Rand. Im Zentrum stünde dabei Téchinés Bildnis eines jungen Mannes, der keinerlei Emotionen an sich heran lässt, nur um schließlich einer Prostituierten zu verfallen, die sein Spiegelbild sein könnte. Die Seitenflügel offenbaren Varianten seines Weges und ergänzen sich dabei auf eine geradezu unheimliche Weise.

Nolots Pierre Pruez phantasiert einmal über Pasolinis Ende am Strand von Ostia und sagt zu einem alten Freund: „Pasolini muss Angst gehabt haben. Dennoch, es war ein schöner Tod.“ Und eben den sucht – zumindest wäre das eine Deutung der irritierenden, von Klängen aus dem ersten Satz von Mahlers Dritter Symphonie begleiteten und in einer Schwarzblende gipfelnden Schlussszene – Pierre schließlich selbst. Morel wirft mit „Unser Paradies“ einen Blick auf die andere Seite: Der alt gewordene Freier, für den es letztlich nur noch den Tod gibt, braucht den zum Mörder gewordenen Stricher. Ihre Wege müssen sich kreuzen und kommen damit zum Ziel. Der tief gestürzte Cherub Vassili ist auch ein Engel des Todes. Seine große, von einer göttlichen Unschuld erfüllte Liebe zu Angelo ist die andere Seite des tödlichen, von gegenseitiger Schuld geprägten Hasses auf seine Opfer. Dieser Nachtseite seiner Existenz entflieht Vassili in den gemeinsamen Traum mit Angelo, seinem Engel des Lichts. „Only in dreams you can live for real“, singt Roy Orbison und verspricht damit den verzweifelten Liebenden ihr Paradies, einen Ort, wo sie nichts trennen oder zerstören kann, weder irgendein Freier noch die Polizei.




Unser Paradies
von Gaël Morel
FR 2011, 97 Minuten, FSK 18,
französische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD erhältlich.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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