Brontez Purnell: 100 Boyfriends

Buch

In „100 Boyfriends“ erzählt Brontez Purnell vom keineswegs perfekten Leben junger Männer in einer Welt, die von ihnen nichts wissen will, weil sie arm, schwarz und schwul sind. Hin- und hergerissen zwischen One-Night-Stands und alten Liebschaften, verführen seine Figuren die Ehemänner ihrer Arbeitskollegen, verschrecken rassistische Nachbarn, bandeln mit Satanisten an und stürzen sich kopfüber in den Rausch, um am nächsten Morgen den Kampf wieder aufzunehmen – für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Daniel Plettenberg über eine herrlich obszöne queere Liebeshymne und ihre witzigen Erzählperspektiven.

Allein unter 100 Boyfriends

von Daniel Plettenberg

Dies ist ein sehr schwules Buch. Das mag sich lapidar anhören, wenn ein schwuler Mann über seine 100 Boyfriends schreibt, und doch fühlt es sich 2021 fast anachronistisch an, ein Buch zu lesen, in dem mann*-männliche Sexualität intensiv, dreckig, direkt, schön und unschön, drogengeschwängert, oft frei von Liebe zelebriert wird. Das alleine macht „100 Boyfriends“ lesenswert, denn in den queeren Verhandlungen rund um das Thema „Mann-Sexualitäten“ scheint in den letzten Jahren schleichend eine Entsexualisierung und Tabuisierung eingetreten zu sein.

Die lobenswerten Anregungen aus der queer-feministischen Philosophie, über das Patriarchale und die ihm innewohnenden Mann-Mechanismen kritisch nachzudenken, führten in der Folge immer wieder auch zu einer unterschwelligen Distanzierung von mann*-männlich geprägten Sexualitäten in queer-schwulen Kontexten, beziehungsweise deren Verhandlungen. Überkommt der queer-politische Mann* seine innewohnenden patriarchalen Privilegien nur in der Abkehr von mann*-männlichen, fordernden Sexualitäten? Natürlich nicht nur: queere Partykultur in Berlin oder London schafft grandiose, atemlose Räume des Queer-Männlichen, aber wir sind weit entfernt von den 1980er und 90er Jahren, in denen schwule mann*-männliche Rituale mehr oder minder offen zelebriert wurden.

Brontez Purnell – Foto: Drew Stevens

In atemlosem Tempo und desillusionierender Klarheit schreibt Purnell über die endlose Reihe meist drogengeschwängerter Ficks seiner Protagonisten: „Heute, morgen und von vorne“. Kühl, emotionsgedämpft, rastlos – „so ist mir der Wunsch, von einer Welle namenloser Männer überflutet zu werden, durchaus nicht fremd!“

Fick folgt auf Fick, Droge auf Droge und austauschbarer Sexpartner auf Sexpartner. Selten geht es um Beziehungen oder gar Freundschaften und Liebe. Im Erzählen beschreibt Purnell somit ein grundsätzliches Alleinsein des Menschen an sich. Wenn in der romantischen Überhöhung der Sex-Akt als Verschmelzung von zwei Körpern oder gar die Verschmelzung zweier Seelen empfunden wird, so sagt uns Purnell mit diesem Buch, dass dies niemals sein Konzept von Sexualität ist. Gerade beim sexuellen Akt scheinen Purnells Protagonisten allein zu sein. Der Akt ist meist Triebabfuhr, nur selten soziale Kommunikation.

Gleichzeitig ist „100 Boyfriends“ kein abgefucktes Buch. Purnell kommt immer wieder ins Erzählen: Über die Wahrnehmung der Welt aus Sicht einer schwulen Person of Color, über Verletzlichkeiten, über Gentrifizierung und das Verhältnis des Protagonisten zu seinem verstorbenen Vater. Er schreibt über das Alleinsein mitten unter 100 Boyfriends, die Suche nach Erfüllung.

Natürlich drängen sich Vergleiche auf, ob mit den halbautobiografischen, drogengeschwängerten Erzählungen William S. Burroghs, Renaud Camus‘ „Tricks“, diesen minutiösen Beschreibungen alltäglicher Sexbegegnungen, Jean Genets verzweifelt suchendem Sub-sein, das sich seit den 1940er Jahren in all seinen Romanen wiederfindet, oder dem rastlos Suchenden Henry Millers. Irgendwie ist „100 Boyfriends“ ein Nachfahre dieser Werke und doch ganz anders.

Die Vorgänger wie Genet oder Camus schufen Tiefe, indem sie ihre Sexmanie literarisch umfassten und ein literarisches „Wir-Gefühl“ entstehen ließen. Purnell bleibt viel nüchterner und ernüchternder, wütender, direkter: Er bleibt beim Ich. Er stellt die Frage: „Wie sehen die Mechanismen des Begehrens aus?“ Wenig geht es um Magie und Liebe oder Hoffnungen der Protagonisten zwischen den vielen Ficks: Drogen, Behandlung der STDs, die Fluchten und die Unmöglichkeit, mit dem anderen zu kommunizieren, stehen im Vordergrund … Dass das Ganze nicht belanglos-trüb bleibt, liegt am Autor selbst: Purnell verhandelt sein Schwulsein, seinen Körper, sein POC-sein, seinen Sex, die Drogen, seine Kunst in diesem Buch. Er schreibt im Stil des Stream of Consciousness, ungefiltert, oft ungeordnet und unmittelbar direkt. Er ist dabei komisch und traurig, wütend und erschöpft, geil und abtörnend zugleich. Diese Unmittelbarkeit lässt uns das Leben der literarischen Helden mitatmen, direkt erleben. Und somit führt uns Purnell subversiv zu den Fragen nach dem eigenen Umgang mit Sexualität, dem Wunsch nach Entgrenzung einerseits und dem Bedürfnis nach Nähe und Intimität andererseits. Purnell teilt seine Diskriminierungserfahrungen in allen Bereichen. Wichtige Einsichten gerade im heutigen Diskurs rund um queer-gelebte Männlichkeit*.

Dieses Buch ist wundervoll dreckig in einer Zeit, in der das Dreckig-Schwule kaum mehr beschrieben wird; es zeigt die Perspektiven schwuler People of Color, die spannend und (für mich als weißen Rezensenten) immer wieder neu sind, von denen es sich lohnt zu lernen. Und das Buch macht Lust, mehr zu lesen: von Brontez Purnell, von der neuen schwarz-queeren Literatur, die sich in den USA gerade wütend und unbändig Raum nimmt.




100 Boyfriends
von Brontez Purnell
Aus dem Englischen von Harriet Fricke

Klappenbroschur, 232 Seiten, 18,00 €,
Albino Verlag

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