Tiefe Wasser

Trailerrbb QUEER DVD / VoD

Morgen Abend ist Tomasz Wasilewskis visuell meisterhaftes Drama „Tiefe Wasser“ als Free-TV-Premiere bei rbb QUEER zu sehen (23h30 im rbb). Dessen Held ist ein Leistungsschwimmer in Polen, der sich unter dem Druck seiner Umwelt einen Lebens- und Liebesspielraum zu erobern versucht. Das Wasser ist sein Element, er taucht unter, schwimmt sich frei, lässt sich treiben. Aber wie in der berühmten Volksballade der Königskinder ist auch in diesem Film das Wasser kein Ort, an dem zwei Liebende zusammenkommen können. Eine Filmbesprechung als motivischer Vergleich von Gunther Geltinger.

Foto: Edition Salzgeber

Bis auf den Grund

von Gunther Getinger

Es waren zwei Königskinder,
die hatten einander so lieb,
sie konnten zusammen nicht kommen,
das Wasser war viel zu tief.

Das Wasser und die Liebe sind zwei unverträgliche Elemente, und ein Vulkan, der seinen Glutstrom ins Meer ergießt, erstarrt zu Stein. Trostlos und horizontverstellend ragen in Tomasz Wasilewskis Film Warschaus Hochhäuser. Autobahntrassen, Parkhausdecks und die Verteilergänge der Wohnanlagen verengen mit ihrer rechtwinkeligen Geometrie die starr kadrierten Bilder ins Innere, der Blick in die Weite prallt ab an gestaffelten Schichten aus Beton. Im Plattenbau scheint nicht nur das Wohnen, sondern auch das Leben der Bewohner, ihre Gefühle und Sehnsüchte, einer zweckmäßigen Architektur untergeordnet, die kaum Freiräume zulässt. Nur die Kinder schaffen es vielleicht noch, in den funktionalisierten sozialen Wüsten ihre Phantasie-Spielplätze zu finden. Bevor am Ende des Films Michal, eines der beiden Warschauer Königskinder, auf dem schmutzigen Boden einer Parkgarage liegen wird, an einer nackten Betonwand, vor der sich sein Blut ausbreitet wie die bittere Hoffnung auf ein wenig Farbe, erzählt Michals Vater in einer letzten Begegnung dem Sohn von dem Kind, das Michal einmal war: ein kleiner Junge, der auf das Fensterbrett kletterte und mit aufgerissenen Augen so lange die Hochhäuser betrachtete, bis die Augen sich mit Tränen füllten, die Lichter verwässerten und die Wolkenkratzer darauf zu schwimmen begannen.

Ich werde mich nie ändern, sagt Michal, es klingt wie eine Drohung. Der Vater, Familienoberhaupt in einer bürgerlichen Normwohnung mit Flachbildfernseher, hat erst kürzlich Michals Coming-out kommentarlos zur Kenntnis genommen. Draußen rauschen die Autobahnen der auf Effizienz getrimmten Moderne in einem Land, das, unterm erdrückenden Schatten eines vielleicht längst toten Gottes, den Anschluss an die Welt nicht verpassen will.

Ach Liebster, könntest du schwimmen,
so schwimm doch herüber zu mir!
Drei Kerzen will ich anzünden,
und die sollen leuchten dir.

Kuba, der Leistungsschwimmer mit dem athletischen Kreuz und der badekappentauglichen Kurzhaarfrisur, schafft es trotz hartem Training nicht auf die andere Seite des tiefen Wassers, obwohl er am Ende doch noch die drei verbindenden Zauberworte spricht: Ich liebe dich, während er Michal in hitziger Umarmung an die Wand des Treppenaufgangs presst. Durch die Haustür tritt ein Typ mit Baseballkappe und Kapuzenpulli, den Kuba in einem Ausbruch angestauter Verzweiflung einige Wochen zuvor zusammengeschlagen hat, weil der junge Mann und sein Kumpel ihn als Schwuchtel bezeichnet hatten. Wenn am Ende die Jugendgang aus dem Wohnblock zur Rache im Parkhaus aufmarschiert, hat Wasilewskis Sozialdrama um ein verhindertes Coming-out längst die Dimension der griechischen Tragödie erreicht, wo es aus der von den übermächtigen Göttern festgelegten Conditio humana kein Entrinnen gibt. Der Tod ist der Preis für den Bruch mit den herrschenden Gesetzen und für den Aufbegehrenden vielleicht die einzige Form der Freiheit.

Foto: Edition Salzgeber

Die weltweit verbreitete Volksballade der Königskinder, die über das tiefe Wasser nicht zueinander finden, hat ihre Wurzel in der von Ovid überlieferten Schwimmersage, in der Leander über den Hellespont schwimmen will, um die Priesterin Hero aufzusuchen, die er liebt. Doch das Unterfangen steht von Anfang an unter dem Zeichen der zürnenden Götter. Die Lampe, die Leander zur Überquerung der Meerenge angezündet hat, erlischt in der Sturmnacht, der Schwimmer ertrinkt, Hero stürzt sich in Trauer vom Turm. Gerichtet sind die mythischen Klageverse an die Götter, die die Liebenden nicht behindern sollen. In der volkstümlichen Umdichtung aber wird – wie in allen Märchen – das große Schicksal enggeführt und familiarisiert. Der Dialog zwischen einer verständnislosen Mutter und der verliebten Tochter fordert in der Ballade ideologisch gedeutet angepasste Passivität und ruft zum Leiden und Erdulden auf. Hier wird mit der pädagogischen Geste des Märchens milieukonforme Sozialisation betrieben:

Das hört eine falsche Nonne,
die tat, als wenn sie schlief;
sie tät die Kerzlein auslöschen,
der Jüngling ertrank so tief.

Die Figur der bösen Nonne, die den Liebesplan vereitelt, verteilt Wasilewski auf mehrere Rollen. Zunächst ist da die Urgewalt, das Wasser selbst. Eingepfercht in das gekachelte Becken, das von Kuba für den bevorstehenden Wettbewerb in Bestzeit durchkrault werden soll, lauert es chlorig und frei von jeglicher (Natur-) Romantik auf den Körper des Leistungssportlers, den es in seinem fehlgegangenen Begehren brechen und zurück auf die streng abgezirkelte Schwimmbahn lenken soll. Selbst der See, an dem Kuba, Michal und Kubas eifersüchtig-trotzige Freundin Sylwia gedrückter Stimmung ein verregnetes Sommerwochenende verbringen, ist von einer Betonmole eingefasst, von der Kuba sich abstößt in eine Freiheit, die in Wasilewskis Drehbuch immer hinter dem nächsten Dialog zu liegen scheint: Schon zieht Michal sich aus, um zu dem Geliebten ins Wasser zu springen, da macht Sylwia Kuba auf einen Knutschfleck an Michals Hals aufmerksam. Kaugummikauend genießt die Konkurrentin am steinernen Kai ihren kleinen Triumph.

Der Schwimmtrainer impft Kuba mit den Regeln des Erfolgs („Keine Ablenkungen! Du gewinnst mit dem Kopf, nicht mit den Muskeln!“), und bevor Kuba beim Wettkampf vom Startblock köpft, bekreuzigt er sich. Doch da ist kein Erlöser mehr, der zur Bestzeit helfen will. Und erst recht nicht zur schwulen Liebe.

Foto: Edition Salzgeber

Denn nicht nur Sylwia zieht Kuba zurück in die heterosexuelle Konvention. Da ist auch die Mutter, die Kubas Körper, die Glut des Begehrens in seinen Adern, unter Verschluss hält. In der engen Wohnung, wo die Mutter die Freundin des geliebten Sohnes mehr duldet als willkommen heißt, kann Kuba ihren übergriffigen Berührungen kaum entgehen. Sie kommandiert ihn vom Sex mit Sylwia weg an die Badewanne, er soll ihr den Rücken massieren. Im Flur mit der Schmetterlingstapete (selbst die Metapher auf die misslungene Metamorphose Kubas ist hier Wohnraum und Architektur) presst sie ihm den viel zu langen Kuss auf den Mund, kann ihre Hände kaum von der schweißglänzenden Schwimmerbrust lösen.

Später, wenn Kubas Liebe zu Michal beide Frauen zu seinen Gegnern gemacht hat, wird sie sich mit der ehemaligen Konkurrentin Sylwia verbünden, letztes Mittel, den Sohn im Machtbereich des weiblichen Körpers zu halten. Für das Baby, das Sylwia von Kuba erwartet, entwirft die Mutter auf dem geblümten Sofa den Plan, der Kuba zurück in seine Pflichten holen soll. Und auch Sylwia hat ihre Liebe zu Kuba längst verraten. Das Kind in ihrem Bauch ist die letzte Waffe gegen den abtrünnigen Geliebten. Dabei war die Utopie der (sexuellen) Freiheit so nah, fast schon Wirklichkeit: Scheiße, du bist schön, sagt sie zu Michal bei einem Besäufnis unter freiem Himmel, wo die Jugend mit ihren Exzessen der Trostlosigkeit nackter Betonflächen trotzt. Engumschlungen tanzen Kuba und Michal, mit einem fremden Mädchen zwischen ihnen, das Sylwia sein könnte, das zu sein Sylwia sich vielleicht im tiefsten Innern wünscht. Doch sie kann nicht anders, als die Mutter in die homoerotische Affäre ihres Geliebten einzuweihen. Die straft Kuba mit der klassischen Ohrfeige, einer Machtdemonstration der Autorität von Schuld und Scham: „Das kannst du mir nicht antun.“

Ach Mutter, herzliebste Mutter,
der Kopf tut mir so weh;
ich möcht so gern spazieren
wohl an die grüne See.

Für eine kurze Zeit war Kuba tatsächlich ausgebrochen: Beim entscheidenden Wettkampf ergibt er sich nach ein paar Runden, die er anführt, dem Sog des Wassers. Er taucht ab, lässt sich treiben. Als er an die Oberfläche zurückkehrt, ist zwar der Wettkampf verloren, die Leichtigkeit des Lebens aber zurückgewonnen. Eine Gruppe Synchronschwimmerinnen tanzt schwerelos durch das so belastete und bedrückende Element, während der Trainer Kuba zusammenpfeift: „Du könntest Champion sein. Hast du keine Eier?“

Foto: Edition Salzgeber

Doch Kubas Manneskraft soll Michal gehören – schon seit ihrem ersten Treffen auf einer Vernissage, zu der Kuba Sylwia begleitet hat. Mehr als eine halbe Filmlänge schwebt – oder droht – der erste Kuss über dem Königskinderpaar, eine süße und gefährliche Verlockung, der sich auch der Regisseur in ausgiebigen Sequenzen hingibt. Er bewegt die Körper seiner schönen männlichen Schauspieler wie zwei starke Magneten aufeinander zu, um sie im letzten Moment doch wieder auseinanderzureißen. Als Kuba und Michal auf einen Güterzug aufspringen und sich in ein Land der Hoffnung fahren lassen, das jenseits des Warschauer Betongürtels sogar ein bisschen grün ist, bietet sich ratternde Wildwest-Romantik für das erste Mal. Stattdessen masturbiert Kuba mit verkniffenem Gesicht im Schwimmbadklo, und beim heimlichen Blow-Job in der Kabine ist sein Gesichtsausdruck eher leidend als lustvoll. Als der Sportkollege, der ihm geil aus der Dusche gefolgt ist, Kuba küssen will, schlägt der ihn weg. Der andere soll unten bleiben, beim Schwanz jenseits des Bildrands, am Boden, im Dreck. Lange ist die Schwimmbadkabine der einzige Ort, wo Kuba seinem Verlangen nach Männern nachgibt – hinter einer geschlossenen Front aus Türen, schier undurchdringbar wie die Mauern der Hochhäuser. Nur ein paar schmatzende Laute sind zu hören, erstickt und kläglich, als stiegen sie herauf aus tiefem Wasser.

Ach Fischer, liebster Fischer,
willst du verdienen groß Lohn,
so wirf dein Netz ins Wasser
und fisch mir den Königssohn.
Er warf das Netz ins Wasser,
es ging bis auf den Grund;
der erste Fisch, den er fischte,
das war des Königs Sohn.

Nur scheinbar fügt sich Wasilewskis Drehbuch in das Erzählmuster des konventionellen Coming-out-Films, dessen dramatischer Bogen über der Frage gespannt wird, wann der Andersartige, der anders leben will und muss, endlich das Tabu bricht. Auch die betrogene Frau in ihrer passiven Opferrolle (wir haben sie jüngst mit heimlicher Genugtuung im deutschen Polizisten-„Brokeback Mountain“ „Freier Fall“ bedauert) ist in „Tiefe Wasser“ mehr Archetyp als individueller Charakter. In der klassischen Tragödie hat der Mensch in seinem gottgegebenen Umfeld zwar großen Sehnsuchts-, aber wenig Handlungsspielraum. Die Geschichte kann das psychologische Potential der Figuren nur zur Selbsterfüllung ihrer erzählerischen Zielsetzung nutzen – in der Tragödie ist es meist die Auflösung der bestehenden Bindungen durch Verrat, Verstoß, Inzest oder Mord. Die Sprengkraft des individuellen Begehrens verpufft in einem zwar nicht menschenleeren, aber doch seltsam seelenlosen Raum, der von der unfassbaren Größe des Schicksals, nicht vom Streben des Menschen selbst nach Glück bestimmt wird.

Foto: Edition Salzgeber

Dementsprechend wird das langersehnte erste Mal unterm distanzierten Blick der Kamera an einem quietschenden (oder jammernden) Eisengitter mehr vollzogen als genossen – ohne Kondom, denn das schwule Selbstbewusstsein reicht gerade mal für den körperlichen Akt an sich aus, nicht für einen verantwortungsbewussten und reflektierten Umgang damit. Die Königskinder dürfen ihr Liebesreich zwar aus der Ferne betrachten, aber nicht errichten. Nur so kann ein Volksmärchen in seiner Moral für eine gesamte Menschheit gültig bleiben und im Erzählen eine Sehnsucht sublimieren, die im „wirklichen“ Leben in den seltensten Fällen zu einem Happy End führt.

Sie fasst ihn in ihre Arme
und küsst seinen toten Mund:
Ach Mündlein, könntest du sprechen,
so wär mein jung Herze gesund.

Immer wieder werden die Augen der so unglücklich in ihren Beziehungsstrukturen festzementierten Menschen nun feucht, doch der Wunsch, die Hochhäuser mögen beginnen zu fließen, bleibt eine kindliche Utopie, ein Traumbild auf dem Tränen-Film. Auch die bildnerische Freizügigkeit vor allem der heterosexuellen Liebesszenen durchbricht in Wasilewskis Film nicht die herrschende Moral, letztendlich untermauert sie sogar die Prüderie einer Gesellschaft, in der die Lust nur in abgeschlossenen, heimlich erschaffenen Biotopen blühen darf. Die Umkehrung der Perspektive in eine eigene (schwule) Sicht auf die Lebenswelt, aus einer Klokabine heraus, wo zwei Männer nach dem Sperma des anderen lechzen, muss erzählerische Leerstelle bleiben. Die Körperflüssigkeiten, die sichtbar für alle in der Tragödie fließen dürfen, sind das Blut und die Tränen aus den brechenden Augen. Heil und Glück des Individuums sind wenn überhaupt nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben möglich, in der anderen Welt, auf die jeder Mythos verweist. In diesem Umkehrschluss stellt Wasilewsiks Film seinen eigenen, von der christlich-katholischen Tradition gefärbten Blick auf seine Figuren zur Diskussion.

Sie schwang sich um ihren Mantel
und sprang wohl in die See:
Gut Nacht, mein Vater und Mutter,
ihr seht mich nimmermehr.
Da hört man Glöcklein läuten,
da hört man Jammer und Not;
hier liegen zwei Königskinder,
die sind alle beide tot.

Bleibt zwischen hier und dort das Wasser. Es ist das einzige, das Kuba im Leben beherrscht. Traut plätschert es in der Wanne, in der die schwangere Sylwia sitzt, während Kuba ihr – wie zuvor der Mutter – den Rücken massiert. Aus einem Schwamm drückt er ihr das Elixier auf die Schultern. Denn Kuba weiß um dessen Kraft.




Tiefe Wasser
von Tomasz Wasilewski
PL 2013, 93 Minuten, FSK 0,
polnische OF mit deutschen UT
Edition Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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