This Is Not Berlin

TrailerVoD

Auch in dieser Woche präsentiert der Salzgeber Club eine exklusive VoD-Premiere. Ab 9.4. ist der preisgekrönte mexikanische Coming-of-Age-Film „This Is Not Berlin“ auf salzgeber.de zu sehen. Regisseur Hari Sama erzählt darin die Geschichte des 17-jährigen Carlos, der im Mexico City des Jahres 1986 in einen Sog von Sex, Drogen und dem Rausch der Freiheit gerät – und dabei erwachsen wird. Unser Autor Andreas Köhnemann sprang, von stimmiger Musik begleitet, mit den Figuren ins Unbekannte und landete in einer mitreißenden Erweckungsgeschichte.

Foto: Edition Salzgeber

I’d Love to Change the World

von Andreas Köhnemann

Wer seinen Film mit einem Zitat von Marcel Proust beginnt, setzt die Messlatte gleich mal ziemlich hoch: „Wir erben von unserer Familie die Ideen, für die wir leben, und die Krankheiten, an denen wir sterben“, ist am Anfang von Hari Samas „This Is Not Berlin“ zu lesen. Der Satz stammt aus „Im Schatten junger Mädchenblüte“, dem zweiten Band des Zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Was Prousts Roman und Samas Film bei allen Unterschieden verbindet, ist das Interesse für Beziehungsdynamiken, seien es neue Liebschaften, langjährige Freundschaften oder familiäre Verhältnisse – aber auch das Gespür für vermeintlich kleine Details, für begehrliche Seitenblicke, vielsagende Accessoires oder das richtige Lied im richtigen Moment.

In der ersten Szene sehen wir unseren Helden, den 17-jährigen Carlos, der sich völlig apathisch inmitten eines Handgemenges befindet. Seine Clique rauft sich mit einer anderen. Der Grund spielt dabei eigentlich keine Rolle. Während die wilden, sich prügelnden Jungs in Schuluniformen den Staub um ihn herum aufwirbeln, kippt Carlos irgendwann einfach um. Er sei zu klug für so einen Schwachsinn, erklärt er seinen Kumpels später, sein Gehirn schalte sich dann einfach ab. Carlos leidet gewissermaßen unter einer besonderen Variante des Stendhal-Syndroms: Statt die schönen Künste führen bei ihm grobe Stumpfsinnigkeiten zu sofortiger Ohnmacht. Lässiger hat schon lange kein Film mehr auf den Punkt gebracht, dass sich eine Figur in ihrem sozialen Umfeld fehl am Platz fühlt.

Von Beginn an nutzt „This Is Not Berlin“ auf smarte Weise die Musik als narratives Mittel. „Breaking The Law“ von Judas Priest krawallt aus dem Autoradio der Schuljungs. Der genervte Carlos möchte direkt den Sender wechseln. Bei sich zu Hause spielt er seinem besten Freund Gera „I’d Love to Change the World“ von Ten Years After vor. Der Titel des Songs klingt nach großer Revoluzzer-Attitüde. Doch stattdessen kommt in den Lyrics genau die Ratlosigkeit zum Ausdruck, die auch Carlos und Gera quält: „I’d love to change the world / But I don’t know what to do.“ Gera dealt in der Schule mit den Pornoheften seines Vaters, Carlos bastelt an kleinen Robotern herum, sitzt gelangweilt zwischen seinen Verwandten am Esstisch und schwärmt heimlich für Geras ältere Schwester Rita, die zum Unmut ihres Lehrers nicht die Zeilen eines klassischen Dichters vorträgt, sondern einen Patti-Smith-Text, und leider einen deutlich cooleren Freund hat.

Zum großen Erweckungserlebnis wird für die beiden Teenager schließlich der erste Besuch des Nachtclubs Aztec. Zu den Artrock-Beats von Roxy Music werden Carlos und Gera von Rita und ihrer Glam-Truppe aufgestylt, ehe sie von ihnen in den schummrigen Club mitgenommen werden. Das Aztec ist ein Kosmos aus Leder und Nieten, Sicherheitsnadeln und Kreuzschmuck, schwarz lackierten Fingernägeln und punkigen Frisuren, Zigarettenqualm und Bierflaschen. Rita singt auf der Bühne theatralisch von „monopolistischen Göttern der Massenmedien“.

Foto: Edition Salzgeber

„This Is Not Berlin“ ist einerseits eine ausstattungsfreudige Feier der 1980er Jahre, andererseits aber auch ein kritisches Zeitstück. Die Bedrohung durch Aids sowie der Hedonismus, der offenbar dazu dient, die Gefahren und Missstände der Realität auszublenden – all das findet Einzug in diesen Film, der das Mexico City von 1986 spürbar macht.

Sama bleibt dabei stets ganz nah bei seinen jugendlichen Figuren. „Ich weiß nicht, was wir sind“, meint Gera an einer Stelle. Es geht auch nicht darum, das in diesem Alter schon endgültig zu wissen, sondern vielmehr darum, kleine Schritte auf dem Weg zur persönlichen Reifung zu machen. Mal in die richtige, mal in die falsche Richtung. Man müsse sich auch mal trauen, ins Leere zu springen, rät Carlos’ Onkel Esteban – der einzig sympathische Erwachsene im Film, verkörpert von Regisseur Hari Sama selbst.

Foto: Edition Salzgeber

Und auch in sexueller Hinsicht ist Samas Film voller wunderbarer, ambivalenter Momente: Großartig etwa, wie viel Neugier und unerwartete Erregung Gera-Darsteller José Antonio Toledano in den Blick auf zwei herumknutschende Männer auf der Tanzfläche des Clubs legt. Und wie allein durch eine geschickte Blickdramaturgie die Begierden immer heftiger hochkochen. Während Gera seine Liebe zu Männern entdeckt, himmelt Carlos weiterhin Rita an, interessiert sich jedoch auch für das Model Maud und lässt sich von dem Künstler Nico anmachen, der ihn in eine noch abseitigere Welt einführt.

Nico und seine Clique veranstalten Happenings und Protest-Aktionen, u.a. gegen die Homophobie im Fußball, während im Land gerade die Weltmeisterschaft stattfindet. Sie konsumieren noch härtere Drogen und lassen Geschlechtergrenzen noch weiter hinter sich. In der Schule wird Carlos durch diese Progression zum Außenseiter. Dem Mobbing trotzt er mit Eyeliner und Irokesenschnitt. „Wir mögen Spaß“, fasst Maud das Motto der Truppe zusammen. Aber auch hier scheint niemand wirklich zu wissen, was genau Sinn und Ziel sind.

Foto: Edition Salzgeber

Das orgiastische Treiben seiner schillernden jungen Figuren zwischen Nackt-Rezitation von erotischer Literatur und politischem Aktivismus, zwischen Cocktails und Poppers, zwischen freier Liebe und ungewollter Eifersüchtelei unterlegt Sama in einer Montagesequenz passenderweise mit dem Song „Performance“ der Tones On Tail. Alles wirkt wie eine Mischung aus Pose und Überzeugung. „Du bist nicht deine Eltern!“, wird bei einer Aktion exklamiert. Hauptsache anders, Hauptsache neu! „Als ich so alt war wie du, hab ich nie nur ein Bier getrunken“, entgegnet wiederum Carlos’ Mutter wissend, als dieser ihr vorlügt, Alkohol nur in Maßen zu sich zu nehmen. „This Is Not Berlin“ zeigt auch, dass es gar nicht so leicht ist, seine eigene Stimme der Rebellion zu finden und nicht nur die Gesten der anderen zu kopieren.

Am Ende des Films steht ein Coming-out unter Freunden – und die denkbar schönste Reaktion darauf. Carlos und Gera haben den ersten großen Gefühlstaumel ihres Lebens überwunden, aber es wird gewiss nicht der letzte gewesen sein. Wenn die beiden zu Meredith Monks „Travelling“ gemeinsam durch die Straßen von Lomas Verdes schlendern, liegen noch viele Reiseetappen vor ihnen. Für welche Ideen sollen sie leben? An welchen Krankheiten werden sie sterben? Das wissen sie nicht. Aber den ersten mutigen Sprung ins Leere haben sie hinter sich. Sie sind nicht mehr die, die sie mal waren.




This Is Not Berlin
von Hari Sama
MX 2019, 109 Minuten, FSK 16
spanische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen)

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