Alexander Chee: Wie man einen autobiografischen Roman schreibt

Buch

Gleichzeitig mit Alexander Chees berührendem Debütroman „Edinburgh“ erscheint in Deutschland ein Essay-Band des US-amerikanischen Autors mit dem selbstreferenziellen Titel „Wie man einen autobiografischen Roman schreibt“. Von der Gattungsbezeichnung „Essay“ sollte man sich dabei nicht abschrecken lassen, meint unser Autor Christian Lütjens: Im Grunde handelt es sich um autobiografische Schlaglichter und Reflexionen eines Schriftstellers, der als Buchhändler, Dragqueen und Aids-Aktivist eine Menge zu erzählen hat. Und dann gibt es da ja auch noch dieses allgemeine Lebensgefühl in „Trump-Country“…

Bekenntnisse vom Ende der Welt

von Christian Lütjens

Der Titel klingt nach Lehrbuch, und viele, die um die autobiografischen Züge von Alexander Chees Debütroman „Edinburgh“ wissen, werden eine Art literarisches Making-of vermuten. Doch dann fängt man an zu lesen, einzutauchen in Chees sinnliche, aber nicht kitschige Erzählweise – und treibt dabei unweigerlich weg von derart nüchternen Erwartungen.

Die New York Times urteilte 2018 nach Erscheinen der Originalausgabe „How to Write an Autobiographical Novel“ so: „Diese Texte sind persönlich, nie pädagogisch.“ Das stimmt. Statt Fragen zu beantworten, weckt das Buch die Neugier, welche zu stellen, und lotet dabei den grenzenlosen Reichtum dessen aus, worüber es zu schreiben lohnt. Wenn dann nach 367 Seiten Schluss ist, hat man das Gefühl, drei Bücher in einem gelesen zu haben: Chees Autobiografie, eine Abhandlung über die Vereinbarkeit von Persönlichkeit und Poetik, eine Geschichte der schwulen USA von den 1980ern bis heute. Dennoch kommt der Band als stimmiges Gesamtwerk daher, das Chees persönliche Sozialisation als Exot in der US-Gesellschaft („halb weiß, halb koreanisch“) ebenso nachvollzieht wie seine Reifung zum selbstbewussten schwulen Mann, Literaten und Schreibdozenten.

Der Leser lernt Chee als lerneifrigen Sohn einer amerikanischen Mutter und eines koreanischen Vaters kennen, der sich als Kind gegen den Spottruf „Schlitzauge“ behaupten muss, als Elfjähriger beim Kuss mit seinem „Traumjungen“ erkennt, dass er schwul ist, dann aber durch eine Missbrauchserfahrung von einem unverkrampften Verhältnis zur Sexualität abgeschnitten wird. Ende der 1980er tobt er sich als Student in der Drag- und Gay-Community von San Francisco aus, nimmt auf dem Höhepunkt der Aidskrise am Guerilla-Aktivismus von Act Up teil, folgt dann einem Lover nach New York, wo er für den legendären LGBT-Buchladen „A Different Light“ sowie als Redakteur der Zeitschrift „Out“ arbeitet. Schließlich beginnt er, mithilfe hochkarätiger Stipendien und Lehrerinnen wie Pulitzer-Preisträgerin Annie Dillard seine Schriftstellerkarriere voranzutreiben – die nach den Erfolgen der Romane „Edinburgh“ und „Queen of the Night“ in einer eigenen Laufbahn als Dozent für kreatives Schreiben mündet – womit die immerwährende Frage nach dem Sinn des Schreibens allerdings mitnichten beantwortet ist.

Da dieses Buch aus 18 Essays besteht, die Chee im Laufe von drei Jahrzehnten geschrieben hat, hat es nicht den Anspruch, eine durchgehende Geschichte zu erzählen. Statt autobiografische Entwicklungen dramaturgisch zu verdichten, werden persönliche Reifeprozesse in den jeweiligen philosophischen oder politischen Kontext gestellt und zu literarischen Schlaglichtern verarbeitet – beginnend mit dem Bekennertext „Der Fluch“, in dem der Autor die jugendliche Sehnsucht, jemand anders zu sein, an seinem eigenen Verhalten als pubertärer, heimlich schwuler Austauschschüler spiegelt, bis hin zum Abschluss-Essay („Wie ich ein amerikanischer Schriftsteller wurde“), der die jüngere US-Geschichte von 9/11 bis zu Donald Trump als stille Beschreibung des Weges zum „Ende der Welt“ (so empfindet Chee die Wahl von Trump zum Präsidenten der USA) analysiert. Dazwischen stehen Reflexionen über die ermächtigende Wirkung der Verwandlung in eine Drag-Queen („Girl“) neben herzzerreißenden Erinnerungen an eine große, aber unerfüllte Liebe („Nach Peter“) und satirische Betrachtungen der absurden Rituale der New Yorker High-Society („Mr. und Mrs. B.“) neben poetischen Fingerübungen wie dem Titelessay, einer Sammlung aus siebzig Paragraphen, die mit unbändiger Lust an Metaphern stilistische und juristische Fallstricke beim Verfassen von autobiografischer Literatur auflisten.

Das Herzstück des Bandes sind die Schwesterkapitel „Autobiografie meines Romans“ und „Die Wächter“. Während sich Chee im ersten (dem Making-of-Text zu „Edinburgh“) als Autor offenbart, tut er es im zweiten als Mensch – und gewährt dabei erschütternde Einblicke in die Psyche von Missbrauchsopfern. Texte wie diese machen deutlich, wie existenziell Schriftstellerei sein kann. Das geschriebene Wort ist hier spürbar ein Ventil. Es hilft dem Autor, verdrängte Erfahrungen wie den Missbrauch greifbar zu machen und das eigene queere Ich zu erfassen. Die Frage nach dem Sinn des Schreibens beantwortet sich dabei beiläufig von allein. Der Sinn ist die Selbsterkenntnis. Und deren Weitergabe. Weil die Überwindung der eigenen Sprachlosigkeit auch anderen dabei helfen kann, ihre Stimme zu finden. Dazu ermutigt dieses Buch, das ist seine große Stärke. Eine weitere ist Chees sprachliche Brillanz. Seine Sätze strotzen vor eindrücklichen Bildern und erzählerischer Eleganz. Diese Qualität bewahrt auch inhaltlich etwas nerdige Texte wie „Der Fragesteller“ (Verarbeitung einer jugendlichen Schwäche für Tarot-Karten) oder „Rosenkranz und Rosengarten“ (eine etwas langatmige Kontemplation über Freud und Leid der Hobbygärtnerei) davor, ins Banale abzurutschen. Am stärksten ist Chee trotzdem erst dann, wenn er sein Befremden über das menschliche Dasein nicht im Rückzug ins Esoterische zelebriert, sondern in der Konfrontation mit der Welt und ihren Bewohnern – egal ob er ihnen als Aids-Aktivist, als Hilfskellner, als Man of Color oder als politisch wacher Geist gegenübertritt. Im Schlusskapitel formuliert er als Zwischenfazit nach der Trump-Wahl: „Eine absurde Zeit, um jemandem beizubringen, wie man Geschichten schreibt. Aber das gilt wahrscheinlich für alle Zeiten. Das hier, das ist bloß unsere absurde Zeit.“

Diese zögerliche Feststellung bringt die Essenz der Wahrhaftigkeit von „Wie man einen autobiografischen Roman schreibt“ auf den Punkt: das Staunen und den Gleichmut, die Demut und den Trotz, die Niedergeschlagenheit und die Widerständigkeit. In absurden Zeiten der populistischen Agitation – also unserer absurden Zeit – ist es umso bemerkenswerter und anrührender, wenn Autoren es schaffen, diese Eigenschaften in all ihrer komplexen Widersprüchlichkeit durch ihre Texte abzubilden. Chee schafft es. Das amerikanische Publikum hat er damit bereits erreicht. Auch „Nüchtern“-Autor Daniel Schreiber, der eine flammende Chee-Hymne als Nachwort zur deutschen Ausgabe beigesteuert hat, ist sichtlich überzeugt. Man kann hoffen, dass das Buch dank der gelungenen Übersetzung von Nicola Heine und Timm Stafe auch im deutschsprachigen Raum viele Leser findet.




Wie man einen autobiografischen Roman schreibt
von Alexander Chee
Aus dem Englischen von Nicola Heine und Timm Stafe
Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber
Klappenbroschur, 382 Seiten, 20 €,
Albino Verlag

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