The Whale

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Darren Aronofsky ist Spezialist für abgründige Figurenportäts – bislang aber noch nicht als Regisseur queerer Filme in Erscheinung getreten. In „The Whale“ erzählt er nun die Geschichte des stark übergewichtigen Englischdozenten Charlie, der seit dem Suizid seines Partners einsam und zurückgezogen in einer kleinen Wohnung lebt und einen letzten Versuch unternimmt, sich mit seiner entfremdeten Tochter zu versöhnen. Das Drama verschaffte Brendan Fraser ein fulminantes Comeback und sogar den Oscar als Bester Hauptdarsteller. Christian Horn über einen Film, dem das unglückliche Schwulsein seiner Hauptfigur zwar am Rande zur Kritik an evangelikalen Kirchengemeinschaften in den USA und deren konservativer Sexualmoral dient, der ansonsten aber vor allem bemerkenswert rührselig geraten ist.

Foto: Plaion Pictures/A24

Ein Anzug aus Fleisch und Einsamkeit

von Christian Horn

„Es tut mir leid“ sagt Charlie immer wieder. Kurz vor seinem Tod bedauert er, dass er seine Tochter Ellie verließ, um mit Alan zusammen zu leben; dass er die Trauer über dessen Suizid in sich hineinfrisst; dass er nicht ins Krankenhaus will, obwohl sein viel zu hoher Blutdruck ihn umbringt. An die 300 Kilo wiegt Charlie, und er glaubt, er habe die Kontrolle über sein Essverhalten verloren. Bevor sein Herz endgültig aufgibt, will er noch das Verhältnis zu seiner entfremdeten Tochter bereinigen. Ellie war 8 Jahre, als Charlie durchbrannte, heute ist sie 17 und steckt voller Wut auf ihren Vater und die ganze Welt. „Du bist ekelhaft“, knallt sie ihm beim ersten Wiedersehen an den Kopf, und „das Apartment stinkt“.

Darren Aronofsky lotet regelmäßig die düsteren Seiten der menschlichen Seele aus. In seinem Erstlingswerk „Pi“ von 1998 verlor ein paranoider Mathematiker den Verstand. Zwei Jahre später gingen in „Requiem for a Dream“ Junkies gnadenlos unter. 2010 balancierte „Black Swan“ zwischen Body Horror und Psychose. Da passt „The Whale“ thematisch gut ins Bild, denn auch hier steckt der Protagonist in einem tiefen Abgrund. Diesmal scheint dem Hollywood-Auteur die emotionale Verstrickung jedoch mehr als in früheren Filmen ein Anliegen zu sein. Seinen Hang zum Spektakel und die oft brachiale Handschrift stellt er hintenan. Die Aufnahmen im Format 4:3 sind ruhig und geerdet, Extravaganzen bleiben weitgehend aus. Ein Kontrast zum vorangegangenen Psychotrip „Mother!“, der 2017 beim Filmfestival von Venedig ausgebuht wurde. Auch „The Whale“ feierte Weltpremiere am Lido.

Das Drama basiert auf dem 2012 aufgeführten Theaterstück von Samuel D. Hunter, von dem auch die Drehbuchadaption stammt. Der Vorlage entsprechend ist der Film als dialogisches Kammerspiel mit Wochentagen als Kapitel konstruiert. Nur eine knappe Exposition und eine Rückblende spielen außerhalb der schummrigen Wohnung, die hier die Bühne ist. Draußen huschen Schatten hinter den stets heruntergelassenen Rollläden vorbei, ständig prasselt der Regen, auf dem Fensterbrett kündet eine Krähe vom nahenden Tod.

In Charlies Apartment treffen eine Handvoll Charaktere in verschiedenen Konstellationen aufeinander. Zentral sind der von Brendan Fraser im Fat Suit verkörperte Protagonist und dessen Tochter Ellie (Sadie Sink aus „Stranger Things“), die den Vater nach Jahren des Nichtkontakts wiedersieht – ein höchst ambivalentes Verhältnis, das mit vielen Verletzungen einhergeht. Die Tochter ist schroff und schwer zu durchschauen, teils grausam. Keine leichte Versöhnung, doch der sanfte Charlie nimmt die Anfeindungen hin. Zwei weitere wichtige Figuren sind die mit Charlie befreundete Krankenschwester Liz (wunderbar: Hong Chau), die ihn pflegt und zur Einweisung ins Hospital bewegen will, und der junge Missionar Thomas von der New Life Church, der in vermeintlich selbstloser Hilfsbereitschaft immer wieder bei Charlie vorbeischaut. Später kommt auch die alkoholkranke Exfrau Mary zu Besuch, was mehr Licht in die nagende Vergangenheit bringt. Und dann ist da noch der Essenslieferant Dan, mit dem Charlie lange nur durch die geschlossene Tür kommuniziert. Dan wirkt freundlich, erkundigt sich, ob alles in Ordnung ist. Als er dann aber einen unerwarteten Blick auf den Stammkunden erhascht, straft sein Gesichtsausdruck ihn mit tiefer Abscheu. Der Bote steht stellvertretend für die Außenwelt, die einem wie Charlie die Verachtung spiegelt, die er sich selbst gegenüber längst empfindet.

Foto: Plaion Pictures/Niko Tavernise

Besonders in der ersten Filmhälfte veranschaulicht Aronofsky den Alltag eines Lebens mit starkem Übergewicht. Charlie hat sich Verlängerungen gebastelt, um z.B. das Licht an- und auszumachen. Dennoch wird es zur unüberwindbaren Hürde, wenn etwa mal ein Schlüssel auf den Boden fällt. Schweißperlen auf der Stirn, die Mundwinkel glänzen vom Fett der Chicken Wings, auf dem Nachttisch eine große Pepsi. Einmal schlingt Charlie das Essen so schnell herunter, dass es im Hals stecken bleibt. Bei einem Fressanfall schmiert er Mayonnaise auf die Pizza und bröselt Chips auf ein Sandwich. Aronofsky führt das Elend aber nicht vor, sondern spürt dem Leidensdruck nach. Das Motiv des geschundenen Körpers erinnert an den abgehalfterten Randy aus seinem Film „The Wrestler“, mit dem Mickey Rourke 2008 ein Revival feierte und in dem die Hauptfigur ebenfalls den Kontakt zu seiner Tochter verloren hatte.

Nach und nach öffnen sich Türen in die Vergangenheit, auch im buchstäblichen Sinn: Dass Charlie auf Männer steht, etabliert bereits die erste Szene. Die Kamera fährt an ihn heran, als er auf einen schwulen Porno onaniert und dabei fast einen Herzinfarkt kriegt – ein doch recht plakativer Einstieg, zumal als dann noch der Missionar Thomas hereinplatzt. Aronofsky nutzt die absurde Situation aber nicht für Slapstick, sondern etabliert damit ein für den Film bedeutsames Motiv: das Aufeinanderprallen von Homosexualität mit einer streng konservativen Kirchengemeinschaft. Charlies früherer Geliebter Alan, der wie Thomas Teil der evangelikalen New Life Church war, zerbrach an der angeblichen Unvereinbarkeit von Glaube und Schwulsein. Die Kirche habe ihn getötet, meint Liz, der die Besuche von Thomas ein Dorn im Auge sind. Die eifrige Gruppierung ist wie Dan, der Pizzalieferant – nur verheerender.

Foto: Plaion Pictures/A24

Charlie hadert mit dem Verlauf seines Lebens und mit seinem Körper, seinem selbstgeschaffenem Gefängnis. „Wer wollte mich als Teil seines Lebens haben?“, fragt er einmal, um Ellie eine Erklärung für das lange Fernbleiben zu geben. Dem jüngst für den Film mit einem Oscar ausgezeichnetem Brendan Fraser gelingt mit der Rolle ein beachtliches Comeback. Unter dem realistisch wirkenden Fettanzug stehen ihm letztlich vor allem seine Augen zur Verfügung, um die innere Qual zu vermitteln. Groß und rund sind sie, tief, traurig, vielsagend. Auch die körperlichen Widrigkeiten vermittelt Fraser glaubhaft. Charlie bewegt sich schwerfällig unter hoher Anstrengung, es rasselt bei jedem Atemzug. Wie ein gestrandeter Walfisch wartet er auf den Tod.

Im Kern geht es in „The Whale“ um Menschlichkeit und Empathie. Der Filmtitel meint nicht nur Charlie, sondern bezieht sich auf einen Essay über „Moby Dick“, der ihm sehr am Herzen liegt. Die Verfasserin interpretiert darin, dass Melvilles lange Beobachtungen von Walen die Lesenden vom traurigen Leben ablenken sollen. Aronofsky tut das Gegenteil und seziert zwei Stunden lang eine kaputte Existenz. Am Ende bricht dann aber ein kleines erlösendes Lächeln eine Lanze für die Zuversicht, die Charlie, der Todgeweihte, verloren hat.




The Whale
von Darren Aronofsky
US 2022, 117 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

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