Stonewall

Text I • Text II • Trailer

Mit „Stonewall“ hat der auf US-amerikanische Blockbuster spezialisierte Roland Emmerich, Spitzname ‚Master of Desaster‘, nationalstolz auch gerne ‚unser Mann in Hollywood‘ genannt, sich an einem Spielfilm über den Gründungsmythos der internationalen Schwulen- , Lesben- und Transgeschichte versucht. So unterhaltsam er phasenweise ist, muss man doch sagen: Da ist einiges schief gegangen. Was genau, versuchen wir hier im ersten Text zusammenzufassen. In einem zweiten rekapituliert Hans Hütt sein eigenes „Stonewall“ und setzt dem prototypischen fiktiven „Danny“ des Emmerich-Films einen konkreten und realen entgegen.

Stein des Anstoßes

von Jan Künemund

Unter den Pressefotos, die zur Illustration der Besprechungen von Roland Emmerichs Spielfilm „Stonewall“ zu haben sind, zirkuliert vor allem eines: man sieht einen weißen Jungen in Blue Jeans und hellem T-Shirt mit weit aufgerissenem Mund im Vordergrund, dessen Körper das Ende einer Wurfbewegung markiert. Hinter ihm, in zweiter Reihe, steht eine bunte Gruppe Jugendlicher, u.a. ein Junge in Mods-Outfit, eine schwarze Drag-Queen mit Halstuch und eine Latino-Drag-Queen mit langem Haar, die gebannt und ehrfürchtig den Flug des Objekts verfolgen. Dahinter, im Unschärfebereich des Bildes, verschmelzen weitere Jugendliche, bis auf wenige Ausnahmen weiß und männlich, die ebenfalls in ihrer Beobachtung erstarrt sind. „Stonewall“ heißt der Film, und gegen die namensgebende Backsteinmauer, genauer: durch ein Fenster der queeren Bar ‚Stonewall Inn‘, fliegt, wie man im Gegenschuss des Films sehen wird, der Stein des weißen Jungen.

Diese Aktion, so erzählt der Film, ist Teil der historischen ‚Stonewall Riots‘, die am frühen Morgen des 28. Juni 1969 begannen und als Wendepunkt im Kampf gegen die Diskriminierung von Homosexuellen gelten. Was genau die Energien an diesem Tag freisetzte und welche Aktion genau die Aufstände losbrechen ließen, weiß man heute nicht genau – bzw. es gibt darüber „so viele Legenden wie es Drag Queens in New York gibt“ (so eine Figur in Nigel Finchs gleichnamigen Spielfilm aus dem Jahr 1995). Aber da ist jetzt dieses Bild, und dieses Bild zirkuliert: es gab einen ersten Stein, und den warf ein weißer Junge.

Die Stonewall Riots gab es wirklich. Den weißen Jungen, Danny Winters, aus einer Kleinstadt in Indiana nun in die erste Reihe eines Aufstands geworfen, gab es nicht. Seitdem dieses Bild und der Trailer zum Film veröffentlicht wurden, hat sich die Irritation über die Präsenz dieser Figur in einem Film über Stonewall ihrerseits in Protesten, Beschimpfungen und Boykottaufrufen entladen. Vom ‚Weißwaschen‘ eines der zentralen Momente der queeren Geschichte ist die Rede, von einem Neuschreiben gar, denn nicht nur fehle ein historisches Vorbild für Danny Winters, sondern es fehlten im Film vor allem diejenigen im Bildvordergrund, die nach Augenzeugenberichten mutmaßlich in der ersten Reihe der Riots standen: die schwarze Drag Queen Marsha P. Johnson (im Film durch eine hanebüchene Kidnapping-Aktion gerade zu einer anderen Bar unterwegs), eine lesbische Frau, die sich minutenlang gegen ihre Festnahme wehrte (im Film sieht man sie in einem kurzen Gerangel), schließlich die puerto-ricanische Drag Queen Sylvia Rivera, die mit Johnson später die ‚Street Transvestite Action Revolutionaries‘ gründete.

Ganz sicher täuscht Roland Emmerichs Stonewall-Erzählung zu keinem Zeitpunkt über ihre fiktionale Gestaltung dieses Wendepunkt-Moments, den Barack Obama in der Rede zu seiner zweiten Amtszeit im gleichen Atemzug wie „Selma“ und „Seneca Falls“ nannte, hinweg. Diese Fiktionalisierung geht allerdings auf Kosten derer, die nicht reibungsfrei in die dominante Kultur integrierbar waren: die Nicht-Weißen, die Nicht-Gender-Konformen, die Nicht-Bürgerlichen.

Emmerichs Film könnte genauso gut „Danny“ heißen. Seine Geschichte, die erzählt, wie ihn der Rauswurf aus dem Elternhaus nach Bekanntwerden einer sexuellen Beziehung zu einem anderen Jungen früher als geplant an seinen zukünftigen Studienort New York treibt, wo er schließlich die Stonewall Riots aus erster Reihe erlebt, folgt einem klassischen Erzählmuster des globalisierten US-amerikanischen Erzählfilms, das Emmerich im Interview mit der Siegessäule selbst beschrieben hat: „eine unschuldige Person in eine Situation zu werfen, in der es richtig hart zugeht.“ Danny Winters ist dabei ausdrücklich als Identifikationsangebot an heterosexuelle Zuschauer gedacht, mit deren Kinobesuchen ein Film mit dem Budget von „Stonewall“ (auch, wenn es nur einen Bruchteil ausmacht von dem, was Emmerich-Filme sonst kosten) sich refinanzieren muss. Emmerichs Argumentation folgt einer Marktlogik, die – so muss man nach dem gefloppten Kinostart in den USA sagen – nicht aufgegangen ist.

Foto: Warner Bros.

Durch die queere Szene selbst ging nach Veröffentlichung des Trailers ein Riss, der symptomatisch dafür ist, wie aktuell über Repräsentationen von LGBTIQ-Figuren in den Medien diskutiert wird: Sahen einige in der erzählerischen Situierung von Charakteren, die nicht cis-männlich und weiß sind, in die zweite Reihe hinter dem steine-werfenden Danny eine Fortschreibung der homonormativen Fortschrittserzählung des schwulen bürgerlichen Mainstreams (die bei den Stonewall Riots ihren Anfang nahm), baten andere darum, einen Spielfilm nicht schon auf der Grundlage eines Trailers zu verurteilen und damit jedweden Versuch, LGBTIQ-Geschichte zu erzählen, zu verhindern.

Für beide Positionen gibt es gute Argumente. Doch deutlich wird nach den komplett durchgestandenen 130 Minuten des Films, wie verzweifelt und vehement hier mit den erzählerischen Formeln des Erzählkinos eine queere Position in eine heteronormative Passform gepresst werden soll: Die bunten Trans-Freunde dienen nur als Stichwortgeber für Dannys Politisierung, schwuler Sex wird in grotesken Prostitutions-Szenen erzählt, die Bruce LaBruce „konservativen Camp“ nennen würde, in den Riot-Szenen selbst kann sich die Kamera nicht für die Angreifer und die Angegriffenen entscheiden, weil sie es gewohnt ist, sich mit letzteren zu identifizieren.

Würde der Film auch die Geschichten von Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera ernstnehmen, müsste er anders erzählen. Es wäre nicht die Geschichte eines Bruchs und seines Verheilens in einer bürgerlichen Familie (Dannys Schwester und Mutter stehen beim ersten ‚Pride March‘ ein Jahr später am Straßenrand und applaudieren), es wäre auch keine Lektion in schwuler Geschichte für ein marktwirtschaftlich ausgerechnetes Cineplex-Publikum. Es wäre vielleicht ein Film, der seine erzählerische Lust darin finden würde, einen fragilen Knotenpunkt vieler Legenden zu erzählen, in denen viele verschiedene Steine gegen heute noch stehende Ziele geworfen worden wären. So ist letztlich ein Film entstanden, der niemanden trifft.

Zuerst erschienen in Der Freitag, 47/2015 (19.11.2015)

 


Mein Stonewall

von Hans Hütt

Mein Danny kommt nicht aus Indiana. Mein Danny kommt vom Niederrhein. Ich sehe ihn auf einem Felsen an der Adriaküste. Er ist fünfzehn Jahre alt, ein stiller Brüter, ein leptosomer Meerjüngling. Von diesem Sommer auf dem Felsen, seinem Stonewall, erzählt ein Foto, das sein Vater Jahrzehnte lang aufbewahrt hat. Das Foto ist beschnitten. Danny ist freigestellt. An ihm wurde für den Vater etwas sichtbar, das Danny selbst noch unbewusst schien. Das Foto paraphrasiert Arthur Rimbauds berühmten Satz: Denn er wird ein Anderer. Das Anderssein schien schon aus ihm heraus. Danny bescherte seinem Vater einen Gustav von Aschenbach-Augenblick, einen Augenblick der Schönheit im Auge des Betrachters, einen Augenblick der Sorge.

Es war der Sommer der Mondlandung, der Sommer der Morde, die Charles Manson in Auftrag gegeben hatte, der Sommer des Aufstands in den Straßen New Yorks, des Sommers, in dem Judy Garland starb. Der Apollo-Flug in die Galaxis, das Verlassen des Heimatplaneten, die misogyne Mordserie und der Straßenkrawall im Village haben mehr mit einander zu tun, als der Geschichtsschreibung bewusst ist. Dass sie fast gleichzeitig stattfanden, illustriert ihre historische Amplitude, sie bezeugt ein unentschiedenes Kräftemessen. Die Überwindung der Schwerkraft, das Bild des freien Schwebens, schüttelte unsichtbare irdische Beschwernisse ab.

Danny erlebte diesen Sommer an der Adria wie einen ihm gewidmeten sechswöchigen Feuerwehrball. Er hauste mit dem Bruder auf einem Zeltplatz neben dem Hotel der Eltern, konnte sich so der Kontrolle entziehen, besuchte abends die Tanzflächen mit ihren Tanzkapellen die noch für den Kaiser gespielt haben konnten, beobachtete vom Rande die tanzenden Paare mit einer Sehnsucht, die nicht auf Nachahmung sann. Tagsüber suchte er mit einem Paddelboot das Weite oder saß auf seinem Steine.

Dann kam der Tag des Ausflugs auf eine benachbarte Insel. Sie war berühmt für ihren guten Wein. Sie war berüchtigt für eine Geschichte der Inzucht. Als erstes besuchten die Eltern mit Danny den Friedhof, auf dem fast alle Grabsteine den gleichen Familiennamen trugen. Der Wein war sehr schwer, was fast alles zu erklären schien. Aus der Ferne erklang die Schiffssirene, mahnte wegen eines nahenden Unwetters zu vorzeitigem Aufbruch. Das Unwetter hatte das kleine Boot schnell erreicht. Die kurzen Querwellen der Adria schüttelten das Boot in alle Richtungen. In der Kajüte hingen die Frauen das Tito-Bild ab. Dahinter hing ein Kreuz, das ihnen mehr Sicherheit versprach als der Befreiungsheld. Diese List gläubiger Rückversicherung beeindruckte Danny. Wieder an Land, durchgefroren, elend, mit blauen Lippen, trank er mit den Eltern mehrere Pflaumenschnäpse. Später nahm ihn die Mutter mit ins Badezimmer des Hotels. Der real existierende Sozialismus hatte warmes Wasser rationiert. Deshalb nahmen Mutter und Sohn gemeinsam ein heißes Bad. Nach dem Bild vom stillen Brüter auf dem Steine wirkte dieses Bad mit der Mutter auf Danny wie ein Reenactment der Inzestinsel. Längst aber war er dagegen gefeit, wenngleich seine Mutter nicht müde wurde, an das Bad zu erinnern, als beschwöre sie damit ein kreatürliches Bündnis jenseits des Geschlechtlichen. Das Bad war ihre Antwort auf das Bild des stillen Brüters.

Danny hatte die Bilder von der Adria, den ihm gewidmeten sechswöchigen Feuerwehrball, wie eine Exposition verstanden. Er war versucht worden und hatte widerstanden, weil in ihm ein anderes Verlangen Gestalt annahm. Er fühlte es in sich wachsen und hielt ihm stand. Zu unsicher fühlte er sich, zu ungewiss erschien ihm die Aussicht, dem Verlangen nachzugeben. Er entwickelte sich zu einem Komparatisten der Lust. So beobachtete er die Freunde und Freundinnen wie sich selbst. Er entwickelte eine hypertrophe Beredsamkeit als Maske eines Schweigens, das er sich selbst auferlegte. Es gab Herbstabende, an denen er mit dem Hund am Rheinufer zum Mann im Mond redete, mit ihm Zwiesprache über die Schwerkraft der Verhältnisse hielt. Er sprach dann in einer  Kunstsprache. Kein Wort bekannt, kein Sinn, keine Syntax erkennbar, eine Buschmann-Perkussion, ein triebgeborenes Lautgedicht, das sogar den Hund erstaunte und vom Hasenjagen abbrachte.

Aber hey, es waren die späten 60er, frühen 70er Jahre. Danny war Hippie, politisch engagiert, Schülerzeitungsredakteur. In dieser Zeit ist er das erste Mal auf einem Foto  im „Spiegel“ zu sehen. Neben dem Kultusminister Girgensohn sitzt er mit anderen auf einer Treppe vor dem Ministerium, nachdem seine Redaktion zusammen mit der Solinger Schülerpresse den Preis für die beste Schülerzeitung in NRW gewonnen hatte.

Als Statist für irgendeine off-Produktion – Foto: privat

An Dannys Schule zirkulierte damals ein kleines Heftchen, es sah aus wie ein gewöhnliches Schulheft, das die sexuelle Aufklärung unter die Heranwachsenden brachte, mit allen Tricks, die heute bei jeder pro-familia-Geschäftstelle zu erhalten sind, damals aber zum Schulverweis eines Mitschülers führten. Für Danny war die Sache klar: Das Aufklärungsheft beschrieb seinen Mithippies im Detail, wie sie ihre Lust mit ihren Freundinnen ausleben konnten. Keine Silbe darin zum Thema schwulen Verlangens. So verstand Danny für sein Alter zu früh, was Herbert Marcuse als repressive Entsublimierung beschrieben hatte. Er blieb sexuell der stille Brüter, der mit seinen Freundinnen in den Partykellern zu „A Whiter Shade Of Pale“ tanzte, ließ die körperliche Nähe nur als musische Gymnastik zu.

Vier Jahre war er schon in einen Schulfreund verliebt, fühlte sich außerstande, das in Worte zu fassen. An der Heterosexualität des Freundes gab es keinen Zweifel. Lieber ihm nahe zu sein, in der Liebe aufzugehen, sie für sich zu behalten, als zurückgewiesen zu werden. Was ist die unerwiderte Liebe für ein Abenteuer! Sie nährt eine unendliche Aufmerksamkeit. Sie wirkt wie eine paradoxe Impfung des Empfindlichmachens, eine Exposition.

Erst im Jahr des Abiturs kam Bewegung ins Spiel. Nach dem Abitur ging Danny für drei Monate in einen Kibbuz. Mit dem ersten Hahnenschrei aus der Hütte. Er liebt den frühen Morgen. Tief steht die Herbstsonne über der dampfenden roten Erde. Noch ist es kühl. In zwei Stunden wird er mit den anderen Hippies auf dem Anhänger sitzen und in die Plantage fahren. Diese Tage erntet er Grapefruits, große schwere Früchte, beim Pflücken achtet er darauf, dass der Stempel in der Frucht bleibt, nur die unverletzten Früchte kommen in den Export. Danny liebt das Bild der unverletzten Frucht, dieses Früchtchen, das noch keiner verletzt hat, es sei denn dieser Blick, den er sucht, den er flieht, dem er entgegen fiebert, der Blick Ilans, der bald schon das ausgebleichte T-Shirt gegen das Olivgrün der Armee tauschen wird, Ilan, der Wasserballgott, ein Junge, der wie ein Delphin die Wellen reitet. In diesen frühen Morgenstunden träumt Danny, er selbst sei eine unendlich lange Riesenwelle, auf der Ilan in die Morgensonne reitet. Ich trage dich, summt er vor sich hin. Ich kippe dich. Ich umfange dich.

Bei Shoshanna, Ilans Großmutter, spielt Danny nach der Arbeit Klavier, sucht Zuflucht bei der Emigrantin, Zuflucht vor dem Verlangen, sucht Großmuttertrost. In der Plantage hört er bei der Arbeit aus den großen Lautsprechern Joe Cocker,  Led Zeppelin, Leonard Cohen oder Ilans Lieblingslied. Imagine there is no heaven. Das weiß ich besser, summt Danny seinen eigenen Text. Ilan ist Himmel und Hölle, Horizont seines Verlangens, unerreichbar, nah. In seinen Augen der Himmel, unter dem Danny erntet. Pflück mich, pflück MICH, PFLÜCK MICH, schreit Danny mit jeder Pore und entlädt den mit Grapefruits beladenen Sack in den Container, an dem Ilan die Früchte aussortiert, bei denen der Stempel abgebrochen ist.

Bei Shoshannah versenkt Danny sich in die Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers, hört Shoshannahs Platten, Klavieraufnahmen mit Harriett Cohen. Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem. Unter den zwanzig Volontären ist Danny der Jüngste, ein scheues Hippiereh, das sein schmales Gesicht hinter dunklen Brillengläsern verbirgt, ein einsilbiger Eremit, Hidenao aus Osaka der einzige, mit dem er redet. Die anderen verlieren schnell jedes Interesse am deutschen Reh. Bald ziehen sie weiter nach Indien. Vor der Weiterreise wollen sie in der Konservenfabrik des Kibbuz etwas Geld für die Reise verdienen.

Als Hippie in Tübingen – Foto: privat

Am Freitagmorgen fährt Uri Danny und Ilan nach Hadera. Uri ist einer der Gründer des Kibbuz. Er kommt aus dem Lippischen. Sein Deutsch klingt wie in die Stimmbänder gekerbt. Uri betreut die Volontäre, plant ihre Ausflüge, ihre Arbeitseinsätze. Er ist ein schweigsamer Beobachter. Manchmal blitzt in seinem Gesicht ein Lachen auf wie ein Gewitter. In Hadera nehmen sie Abschied, Ilan geht zur Armee, Danny fährt nach Jerusalem. Sie haben in zwei Monaten kein Wort an den anderen gerichtet. Mit den Augen sich verschlungen. For all we know, We may never meet again. Before we go make this moment live again. Der Abschied das einzige Beisammensein. Until the last minute I’ll hold out my hand and my heart will be in it.

Danny findet in Jerusalem schnell den Weg vom Jaffa-Tor zum Lutheranischen Gasthaus. Am nächsten Morgen schließt er sich einer amerikanischen Pilgergruppe an, träumt, trödelt, fällt zurück, lässt sich treiben, findet die eigene Via Dolorosa, eine Passionszeit des eigenen Kalenders. Denn Danny ist fällig. Der Stempel will abgesprengt werden. Nicht Export – Import steht auf dem Programm. Am Nachmittag des zweiten Tages macht er sich auf den Weg in die Grabeskirche. Es ist kalt. Ein böiger Wind bläst durch die Souks. Kaum hat er den Weg durch das Tor in das verwinkelte Gebäude gefunden, hört er hinter sich eine Stimme – „wait Mista!, wait!“ – wartewartewarte, sagt er sich. Worauf noch warten? „I´m a very good guide.“ Da kommt er, dieser Führer, was heißt Führer, kaum älter als Danny, ein Schlitzohr, ein Kenner von Gelegenheiten, von denen Danny nichts ahnt. Danny folgt dem Taugenichts. Die Kirche dunkel, nur erleuchtet von blakenden Kerzen, links und rechts des Weges kleine Kapellen der Armenier, der Griechischorthodoxen, der Kopten. Danny besitzt eine vage Erinnerung an den Gebäudeplan, ein Windstoß fährt durchs Gebäude, die Kerzen flackern, da zieht das Schlitzohr Danny in eine Ecke, was wird er ihm dort zeigen, greift nach seiner Hand und jetzt ertönen die Posaunen von Jericho, bringen zu Fall, was als Stempel Danny exportfähig gehalten hatte, sieht er Priester, Mönche, Strenggläubige zornentflammt auf ihn einprügeln, sieht den eigenen Platz am Kreuz, am Kreuz des Verlangens, noch aber ist es nicht so weit, denn dieser Führer hat jetzt den dunkelsten Winkel, nahe den heiligen Nägeln gefunden, legt Danny den eigenen beschnittenen Nagel in die Hand und flüstert ihm ins Ohr, er warte draußen auf ihn.

Das Zupacken hat Danny verraten.

Alles Zögerliche ist von ihm abgefallen. Der Stempel ist gesprengt. Das Herz klopft bis zum Hals. In Trance findet er den Weg zum Ausgang. Im Souk wartet der Taugenichts, geht ihm ein paar Schritte voraus, dreht sich immer wieder zu ihm um, und wenige Meter weiter springt er in das Tor zu einer anderen Kirche, da wird gebaut, da steht ein Baugerüst, eine Wache im Eingang, der Verführer zischelt etwas mit der Wache, ein Kichern, ein Wink mit dem Kopf, schon folgt Danny dem Verführer die steile Treppe hoch in den Turm der Erlöserkirche. Ja, die Erlöserkirche!

Dafür hat Kaiser Wilhelm diese Kirche eingeweiht, dass Danny endlich zur Strecke gebracht werde. Oben angekommen sinkt er auf die Knie. Sie finden in eine archaische Pose, in der Dannys Augen  die Augen seines Erlösers suchen, damit sie einen Takt des Einverständnisses finden, einen Rhythmus der Andacht, der Hingabe. So erliegt er endlich der Versuchung.

Jahrzehnte später erfährt Danny von Benny Ziffer, dass die Grabeskirche schon zu Zeiten Magnus Hirschfelds ein cruising ground gewesen sei. Traditionslinien gibt es auch in der Devianz. Erst einmal aber gibt es noch die kurze Etappe des Wehrdiensts, den Danny als einziger Abiturient und Hippie in Nienburg an der Weser in der Clausewitz-Kaserne antritt. Im Flur seiner Stube gibt es ein großes Wandgemälde, das den Angriff der Panzergrenadiere auf eine zäh verteidigte sowjetische Ortschaft zeigt. Traditionslinien. Danny ist der einzige Kriegsdienstverweigerer. Im Januar werden bevorzugt die Bauernsöhne aus der Nachbarschaft eingezogen, damit sie im Spätsommer für die Ernte auf den elterlichen Höfen Urlaub nehmen können. Nur wenige Wochen später wird Danny beurlaubt. Sein Verfahren ist erst in der dritten Instanz vor dem Verwaltungsgericht zu Ende. In der Zeit wohnt er in einer verlängerten Postadoleszenz wieder bei den Eltern.

Ende Januar 1973 zeigt das Erste Programm spätabends Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Der Fernseher der Familie steht im Keller. Kurz vor Sendebeginn gehen Danny und sein Vater wortlos in den Keller, schauen sich wortlos den Film an, gehen danach wortlos zu Bett. In ihrem Schweigen haben sie sich genug zu erzählen gehabt. Es dauert weitere drei Jahre, bis Danny die Eltern in ihrem Urlaubsort in Oberbayern besucht, ihnen bei der Gelegenheit mitteilt, dass er im nächsten Jahr, nach seiner Zwischenprüfung in Tübingen, nach Berlin ziehen werde, ach, und ja, dass er schwul sei. Seine Mutter reagiert sehr schnell, sagt, dass er das Kind sei, mit dem sie sich von ihren sieben Kindern am besten verstehe. Trocken reagiert der Vater, der Langzeitlatenzbeobachter, mit dem kryptischen Satz, dass Danny sich doch besser mit ihm verstehen werde, und erzählt eine seltsame Episode aus seiner Wehrmachtszeit. Danny verarbeitet die väterliche Anekdote viele Jahre später zu einer Kurzgeschichte.

Als Rekrut im Januar 1973 – Bild: privat

Erst der Kater, dann der Vater

Im Kopf die Stimme Hildegards, ein déjà-vu, von dem sie nichts wissen kann. Eines Tages steht er hier, am frühen Morgen. Sieht aus wie ein Wanderer, so jung. Plötzlich ist er da. Keiner hier kennt den. Redet mit niemandem. Mit mir schon, ein, zwei Sätze. Über die Luft, den Wind, den Kaffee, das Bier. Manchmal ein Halbsatz. Er steht da, trinkt Kaffee oder ein Bier und schnuppert, hält die Nase in die Luft und bewegt sie wie ein Hund. Einmal sagt er, er habe die Nase im Krieg verloren. Das erste Mal sieht er aus wie ein junger Mann, so ein blonder braun gebrannter Gott. Verschlossenes Gesicht. Volle Lippen. Den Unterkiefer vorgestreckt. Vier Wochen später kommt er das letzte Mal. Da sieht er aus wie ein uralter Mann. Morgens Kaffee und schnuppern. Mittags Bier. Das machte ihn noch einsilbiger. Einmal redet er über Kartoffelfeuer, im Herbst, mit Schale in der Glut, Nebel über dem Rhein, Möwenschreie. Dazu schnupperte er. Nase im Krieg verloren! Dass ich nicht lache. Dem sein Gesicht war ganz Nase. Eine Nase kam über den Rhein. So sehe ich ihn heute. Kam immer rauf vom Rhein, ging wieder runter. Kam plötzlich, war plötzlich weg. Nein, da unten gibt es keine Anlegestelle. Zweimal war er nicht alleine hier. Das eine Mal, da stand dieser andere Mann wie aus dem Nichts neben ihm. Ein Emil! Wer nennt seinen Sohn Emil! Die haben sich nur angesehen und schon ist der andere wieder weg. Kein Wort geredet haben die beiden. Das war einer der Tage, an denen er jung kam und wie ein Alter ging. Einer der ersten warmen Tage Ende März. Er hat den Rest des Mittags in der Ecke gestanden und gezeichnet. Das war kein Emil. Das war ein Emilio. Der andere, der kam, als er zum letzten Mal hier war. Da war er nur noch ein Gerippe. Da war ich grade mal ums Eck und als ich zurück komm, steht der andere da, ein Hinkebein, sieht älter aus, nur nicht so ausgezehrt. Er fragt den Hinkebein: „Warum bin ich davon gekommen?“ Und Hinkebein: „Ich musste herausfinden, ob es sich um eine Krankheit handelte, die man durch Erschießen beheben konnte.“ Als ich mich wieder umdrehte, war der Hinkebein weg. Als er geht, sagt er zu mir: „Erst der Kater, dann der Vater.“ Und ist runter zum Rhein.

 



Stonewall
von Roland Emmerich
US 2015, 129 Minuten, FSK 12,
deutsche SF, englische OF mit div. UT,

Warner Bros.

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