Sommer wie Winter

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Das Queer Cinema ist das Versprechen eines Kinos, das nicht auf Identität fixiert ist. Es will seine Figuren nicht festlegen auf das Mann-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein, Lesbisch-Sein, Weiß-Sein, Arm-Sein, Schön-Sein. Darin keine Folie sehen, vor der etwas Melodramatisches passiert. Nicht nur dabei zusehen, wie seine Figuren Identität erlangen oder verfehlen, gegen die Welt, gegen die widrigen Umstände, auf sich allein gestellt große ‚Ich‘-Entscheidungen fällend. Obwohl das Coming-out in den meisten Filmen eine Identitätserzählung ist, die abbricht, wenn die Hauptfigur endlich „ich“ sagt, und die danach scheinbar nichts mehr zu erzählen hat, ist Sébastien Lifshitz mit „Sommer wie Winter …“ ein Coming-out-Film-Klassiker gelungen, der es nicht bei der Coming-out-Erzählung belässt, sondern seine Hauptfigur mit einem Reichtum an Geheimnissen und ungelösten Widersprüchen ausstattet. Jan Künemund blickt auf Lifshitz‘ ersten Langfilm zurück – und auf das sinnliche Spielfilmwerk, das folgte.

Foto: Edition Salzgeber

Offene Körper

von Jan Künemund

Schöner kann das eigentlich nicht laufen, ein 18-jähriger, gefühlskalter Junge in den Sommerferien, der einen anderen, aber gefühlvollen 18-Jährigen kennenlernt, sich durch diesen als Liebenden erfährt, sich zu den Gesten der Liebe durchringt, Verantwortung für jemand Anderen übernimmt, schließlich allen gegenüber „ich“ sagt. Lifshitz fragmentiert diese Geschichte, kalte Winterbilder greifen in den Feriensommer ein, verweisen auf Verletzungen und Traurigkeiten, die passiert sind, längst nachdem Mathieu öffentlich „ich“ gesagt hat. Das Meer ist grau und unerbittlich, im kaltweißen Krankenhaus wird ihm der Magen ausgepumpt, alte Männer sitzen an der Theke der Dorfkneipe und interessieren sich nicht für ihn. Was ist passiert? Es lief doch alles gut mit der schwulen Liebe. Kaum etwas ist passiert, sagt Lifshitz, „presque rien“. Er hat eben nur Ausschnitte aus dem Leben eines Teenagers gezeigt, zerschnittene Fotos, das Leben, keine schwule, männliche, bürgerliche Identität. Kontexte, in denen man das Glück eines Sommers nicht weiterglühen lassen kann, eine kranke Mutter, ein abwesender Vater, ein toter Bruder, eine neidische Schwester, eine Familie, die trauert, nicht funktioniert, trotzdem klammert, nicht loslassen kann, eigentlich nichts zu tun hat mit dem schwulen Glück von Mathieu. Wer ist Mathieu? Wir erfahren es nicht. Der Film will es nicht wissen. Ein Bogen Papier, auf dem Ausschnitte einen provisorischen Zusammenhang ergeben.

Lifshitz ist, wie er selbst sagt, ein „verunglückter Fotograf“. Er hat Kunstgeschichte studiert, nicht Filmregie. Er hat der eigenwilligen Fotografin Suzanne Lafont assistiert, am Centre Pompidou gearbeitet. Auch heute noch kauft er keine Filmbücher, sondern Fotobildbände. Auf Reisen geht er nicht ins Kino, sondern besucht Antiquitätenläden, sucht nach alten, aufgelassenen Fotos, aus denen er Geschichten macht, wie früher seine Mutter. Filme drehen ist allerdings nur oberflächlich gesehen etwas anderes als Bilder machen. Man muss sich nur entscheiden, ob man die lückenlose, ‚natürliche‘ Bewegung imitieren will (wie die meisten Filmemacher), oder tatsächlich Bilder nebeneinander stellen wie Lifshitz. So dass sie Aussparungen lassen, aus unterschiedlichen Quellen ineinandergreifen, tatsächlich montiert werden. Ellipsen sparen genau das aus, was uns wichtig ist. Jeder bisherige Film von Lifshitz erzählt in Ellipsen, niemals chronologisch, lässt immer mindestens zwei Zeitebenen zusammentreffen, fügt sich niemals zu Gesamtbildern, Gesamtbewegungen. Sie betonen die Lücken, die Geheimnisse, verweigern den Schlüssel zum Verständnis einer Person, eines Gefühls. Darin sind „Offene Herzen“ („Les Corps Ouverts“, 1997), „Les Terres froides“ (1999), „Sommer wie Winter …“, „Wild Side“ (2004) und „Plein Sud“ (2009), das bisherige Spielfilmwerk von Sébastien Lifshitz, erstaunlich konsequent.

Lifshitz ist Jahrgang 1969. Er gehört zu einer Generation französischer Filmemacher, die hierzulande kaum wahrgenommen wird: Bertrand Bonello, Noémie Lvovsky, Lætitia Masson, Ursula Meier, Gaël Morel. Die beiden einzigen bekannten neben ihm sind ausgesprochen queere Filmemacher, die es geschafft haben, das bürgerliche Publikum ab und zu zu verblüffen, zu bezaubern, eher spielerisch herauszufordern: François Ozon und Christoph Honoré wurden beide in jüngerer Zeit von der Kritik nicht mehr ernst genommen und als blasierte, unernste, postmoderne Spieler ‚entlarvt‘. Diese Filmemacher haben kein ausgesprochenes politisches Interesse, auf den ersten Blick kein soziales Anliegen, keine Verweigerungsradikalität im Ästhetischen. Es sind Stilisten, die mit dem Geschichtenerzählen ringen, halbwegs von staatlichen Subventionen unterstützt, ab und zu mal schockieren, aber in der Regel im cinephilen französischen Kosmos kreisen, ohne im Weltkino Spuren zu hinterlassen. Aufregend sind sie trotzdem, vor allem für Zuschauer, die Unbehagen angesichts des US-amerikanisch geprägten Identitätskinos haben. Geboren zu einer Zeit der sozialpolitischen Experimente, der letzten großen Freiheitserzählungen, zeichnen ihre Filme ein durchgängiges Problem mit den Emanzipationsgeschichten, dem kollektiven Gestaltungspathos, dem Aktionismus. Die formalen Vorbilder sind klar: die gebrochenen Helden der amerikanischen Independents, die dekonstruktivistische Philosophie, das wilde, sinnliche, ‚rekomponierende‘ Montagekino von Claire Denis, der postmoderne Genremix, das gehetzte Tempo der Téchiné-Filme. Lifshitz & Co. sind Ästheten (bekannter Vorwurf gegen schwule Künstler), ohne Dogma und Sendungsbewusstsein. Dass das Kinopublikum ihre Filme so selten, eigentlich kaum noch zu sehen bekommt, ist schade. Und die Kritik, die sie hierzulande abbekommen, ist vernichtend, unverständlich, anmaßend. Sie heißt „Arthouse“.

Foto: Edition Salzgeber

Die Filme von Lifshitz sind immer entweder zu bürgerlich, zu Mittelklasse – oder zu plakativ außenseiterisch. Entweder geht es zu sehr um Familie (immer ist die Mutter todkrank und der Vater abwesend) oder das Milieu ist zu abgekoppelt. Entweder hängen Lifshitz‘ Bilder zu sehr in der Körperschönheit seiner Schauspieler oder sie befriedigen verschämt hässliche Fantasien. „Wild Side“ z.B. wagt die sexuelle und familiäre Utopie eines Dreiers aus transsexueller Prostituierter, maghrebinischem Gelegenheitsstricher und russischem Kriegsflüchtling. Was nach einer schrillen Überzeichnung antibürgerlicher Typen klingt, ist in Wirklichkeit ein humanistisches Manifest. Eine Liebe, in der jede(r) Geheimnisse hat, Fremdheit und unheilbare Wunden, und doch ist diese Liebe in jedem Filmkorn sichtbar, bis hin zu den Muskeln in den Händen von Stéphanie und Michail, die sich nach dem Sex noch einmal anspannen, während sie sich umklammern. „Are you a boy or a girl?“, singt Antony Hegarty in diesem Film leibhaftig in die Richtung der Transsexuellen, nicht als platte Verdopplung des Sichtbaren, sondern im Klartext und komplexen Mit-Gefühl, denn eine Identität hilft nicht weiter, wenn man Familie oder Heimat sucht. Tatsächlich sind alle biologischen Familien in den Lifshitz-Filmen dysfunktional. Das an sich ist noch kein Film-Thema, aber die Sehnsucht danach, die Ausformulierung der Zersplitterung, das Zusammensetzen neuer Familien ist es. Genauso wie das Coming-out kein Thema ist, aber die vorsichtige Zusammensetzung der Erfahrungswelt von Teenagern, wie sie Lifshitz in „Offene Herzen“ und „Sommer wie Winter …“ angeht. Für sich allein lösen sich die Figuren auf. Zusammen können sie für kurze Zeit bestehen.

Foto: Edition Salzgeber

Traurigkeit gibt es in jedem Film von Lifshitz. Unendlich schöne Soundtracks, die Spannungen schaffen und mit ihrer Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit leben können (Perry Blake in „Sommer wie Winter …“, Antony Hegarty in „Wild Side“, Marie Modiano in „Plein Sud“). Sex. Und zeitlose Landschaften – der riesige schwarze Berg in der nordfranzösischen Provinz von „Wild Side“, die sonnendurchtränkte Ebenen-Ödnis auf dem Weg in den Süden („Plein Sud“), immer wieder der wilde Atlantik, dem egal ist, welche Melodramen sich vor seiner Kulisse abspielen, ob vor ihm oder in ihm jemand Sex hat. Die Traurigkeit hängt oft am Jungsein, an der Möglichkeit eines filmwirksamen Glücks von erster Liebe und erstem Sex, in das immer wieder das übergriffige Unglück der Familien eingezogen ist, auch das eigene, das vergangene und das zukünftige. Und an den Leerstellen. Des vatersuchenden Drehbuchautoren z.B., der auf der Reise merkt, dass er niemals „ich“ sagen konnte, weil er der Mutter immer den Mann ersetzte, auch auf der Suche nach ihm. Oder die Leerstelle, die im Lifshitz-Kino durch den Tod des fantastischen Schauspielers Yasmine Belmadi entstanden ist, dem Hauptdarsteller in „Offene Herzen“, „Les Terres froides“ und „Wild Side“, der wie kein anderer den großmäuligen verletzlichen Jungen gespielt hat, der nie seine Identität findet. Man kann kaum ansehen, wie er in „Wild Side“ als Djamel dem Kriegsflüchtling Michail von seinen Mopedunfällen erzählt, ihm seine (echten, seine Yasmine-) Narben zeigt, wenn man weiß, dass Belmadi in einer Julinacht im Jahr 2009 in Paris mit seinem Moped gegen einen Laternenmast gefahren ist und dabei umkam. Sein Porträt aus drei Filmen von Lifshitz bleibt fragmentarisch – bezeichnend die Szene, in er als Rémi in „Offene Herzen“ einem (ihn begehrenden) Filmregisseur eine völlig falsche Autobiografie ausformuliert, ohne dass der Film über ihn die richtige erzählte.

Lifshitz mag das sozialrealistische Kino nicht, genauso wenig wie Ozon oder Honoré. Er möchte die Figuren, ihre Energien isolieren, Affektkino drehen, in dem Körper und Gefühle aufeinander reagieren, ohne Zeitbezug, ohne Ortsbezug. Trauer, Wut, Sehnsucht, Begierde werden nicht psychologisch hergeleitet, sie prallen aufeinander, man sieht dabei zu, man darf assoziieren. In „Plein Sud“ gibt es keine mittleren Einstellungen. Nur Landschaften und Gesichter, Stimmungen und Blicke, kein Einbetten von Gefühlen in den sozialen Kontext. Prompter Vorwurf: Oberflächlichkeit. Tatsächlich treibt Lifshitz seine ästhetischen Überzeugungen hier auf die Spitze: eine sexuell aufgeladene Situation dreier Teenager, deren Begehren sich auf den älteren Fremden richten; ein zerschnittenes Porträt dieses Fremden aus drei Zeitschichten (Kind, Teenager, Erwachsener), das trotzdem nicht erklären kann, was er vorhat; eine Reise, ein Roadmovie zur kranken und instabilen Mutter, als Bewegung durch zeitlose, vom Geschehen unberührte Landschaften. Einen Mix aus Western und Soap-Opera hat Lifhitz das selbst genannt, nicht ohne Provokation. Ein Portfolio schöner Teeniekörper mit pubertären Allerweltsproblemen, die sich (wie Jana Papenbroock hellsichtig bemerkt hat) wie ein Kommentar zum Warenwert von Schönheit im Supermarkt aufgabeln und irgendwann einfach aus der Film-Geschichte fliegen. In einer Figur aber, der des Fremden Sam, staffelt sich der Film in die Tiefe, baut ein Porträt, das wiederum zu vielschichtig ist für eine psychologische Herleitung. Eigentlich ist das Kino von Lifshitz ein schüchternes Kino. Das sich, das drohende Scheitern, das Verlassen des Muts vor Augen, immer weiter antreibt, um endlich unverschämt zu werden. Auch „Plein Sud“ zerschneidet die üblichen Konstellationen, die filmischen wie die sozialen, setzt die Fragmente in Bewegung, holt Luft und ordnet sie neu. Wieder wird es am Ende keine Menschen geben, die sich gefunden haben, kein Liebesglück, kein Happy-End. Dafür aber das langsame Zurruhekommen einer Wasseroberfläche, nachdem ein schöner Männerkörper dort eingetaucht ist. Darauf ein Glitzern von letzten Abendsonnenstrahlen. Und ein trauriger Song von Marie Modiano.




Sommer wie Winter
von Sébastien Lifshitz
FR 2000, 100 Minuten, FSK 16,
deutsche SF und französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) /€ 9,90 (Kaufen)


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