Schwarzer Ozean

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Mit tiefer Betroffenheit haben wir vom Tod Marion Hänsels erfahren. Wir erinnern an die große belgische Regisseurin mit unserem Text zu einem ihrer berührendsten Filme: In „Schwarzer Ozean“ leisten drei junge Männer Militärdienst bei der französischen Marine, ihr Einsatzort ist das Mururoa-Atoll. Was man heute über die historischen Atomwaffenexperimente Frankreichs weiß, trifft die Hauptfiguren jäh und unvermittelt. Alexandra Seitz beschreibt, wie der Anblick des Unfassbaren in dem sensitivem und homoerotisch eingefärbtem Spielfilm die Grenze markiert, an der sich jugendliche Empfindsamkeit gegenüber einer kalten und gefühllosen Welt behaupten kann. Und wie Nüchternheit, Kraft und eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit Marion Hänsels gesamtes Schaffen auszeichnen.

Foto: Edition Salzgeber

Paradies / Inferno

von Alexandra Seitz

„Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten.“ Dieser Satz aus der hinduistischen Heldensaga „Bhagavadgita“ fiel Julius Robert Oppenheimer angesichts der Testexplosion einer Atombombe ein. An deren Entwicklung und Herstellung war er als Leiter des Manhattan Project in den Dreißiger und Vierziger Jahren in Los Alamos, New Mexico, maßgeblich beteiligt. Die erhaben schreckliche Schönheit des sprichwörtlich gewordenen Atompilzes, der kilometerhoch in den Himmel stieg, beeindruckte den Mann nachhaltig. Das Ausmaß und die schiere Wucht der entfesselten (Zerstörungs-)Kraft ließen ihn jedoch wie seinen Kollegen Albert Einstein bald zu einem Kritiker der Nutzung von Atomkraft durch den Menschen werden. Oppenheimer ahnte, was eine derart potente Waffe in den Händen von Politikern, Militärs, Mächtigen würde anrichten können. Leider hat man nicht auf ihn gehört. Deswegen sitzen wir nun auf unserem Heimatplaneten wie auf einem Pulverfass, auf Bruttoregistertonnen von Bomben, die uns und die Erde gleich doppelt und dreifach ins Nirvana und wieder zurück katapultieren könnten. Diese potenzielle Leichtigkeit und Leichtfertigkeit totaler Auslöschung ist eine Bedrohung, ein immer präsenter Schrecken, der nur auszuhalten ist, indem man ihn verdrängt. Was aber, wenn sie einen unmittelbar trifft, die Erkenntnis unmittelbar möglicher Vernichtung? Was, wenn mit einem Mal ein Bombenpilz voll schön-schrecklicher Erhabenheit vor einem aufstiege, immer höher und höher aufragte, dabei immer bestimmender und ausschließlicher würde, so lange, bis alles um ihn her unbedeutend, winzig und entbehrlich erschiene?

Moriaty weiß, was er gesehen hat. Und er kommt nicht damit zurecht. Der Erschütterer der Welten erschüttert ihn, den kaum Zwanzigjährigen, bis ins Mark. Moriaty tut Dienst auf einem Kriegsschiff der französischen Marine, das 1972 im pazifischen Ozean in der Nähe des Mururoa-Atolls kreuzt. Inzwischen weiß man, was die Franzosen in dieser entlegenen Gegend der Welt unternahmen; zwischen 1966 und 1995 führte La Grande Nation im Südpazifik über 170 Atombombentests durch. Einen dieser Tests wählt die Regisseurin Marion Hänsel als Anker ihres Films „Schwarzer Ozean“. Das heißt, dass die Explosion weniger Motor der Handlung als vielmehr sinnstiftendes Motiv ihres Films ist. Ein Thema im lang Verborgenen, um das herum sich etwas anderes lagert: Gefühle, Verhältnisse, Überlegungen. Das Blau des gleichmütigen Meeres. Das eintönige Grau des Dampfers. Der Ennui und die Schikanen. Zartes Rosa, sanftes Grün. Das Paradies und das Inferno. Über 50 Minuten des knapp anderthalbstündigen Films vergehen, bis sich am fernen Horizont ein Pilz entfaltet. Nichts hatte zuvor auf sein Erscheinen hingedeutet. Lange beobachtet Hänsel ihre Protagonisten – die Rekruten Moriaty, Massina, Da Maggio, die ihnen vorgesetzten Offiziere, den Schiffshund Giovanni – bei ihren alltäglichen Verrichtungen auf dem Schiff. Bis es mit einem Mal heißt: Brillen anlegen, in Deckung gehen und vom Licht wegdrehen. Als die Dampfsäule der Explosion sich in der Ferne in die Höhe bohrt, ist allenfalls ein sanftes Grollen zu hören. Aber nichts ist danach mehr so, wie es war. Diese Setzung der Nicht-Gleichgültigkeit gegenüber den Verheerungen einer Atombombenexplosion, und werde sie auch „nur“ zu Testzwecken durchgeführt, diese Rückholung des Schreckens aus zur Gewohnheit gewordener Verdrängung, diese Ernsthaftigkeit ist es, die „Schwarzer Ozean“letztlich ungewöhnlich macht.

Foto: Edition Salzgeber

Für ihr Drehbuch adaptierte Hänsel zwei autobiografisch inspirierte Erzählungen Hubert Mignarellis, der sich als junger Mann freiwillig zur französischen Marine gemeldet hatte und auf dem Mururoa-Atoll eingesetzt war. Lange unterlagen die Ereignisse jener Zeit der Geheimhaltung, erst vor wenigen Jahren wurden die Akten, die sie dokumentieren, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Anlässlich der Premiere ihres Films 2010 bei den Filmfestspielen in Venedig meinte Hänsel in einem Interview, es sei ihr wichtig erschienen, eine Geschichte über diese nuklearen Tests zu erzählen. Nicht nur, weil in Frankreich kaum darüber geredet werde. Vor allem, weil sich Parallelen herstellen ließen zwischen den jungen Soldaten, die damals im Pazifik eingesetzt wurden, und jenen, die im Irak oder in Afghanistan Dienst taten. Jünglinge in jenem fragilen Alter an der Schwelle zum Erwachsensein, in dem das Bewusstsein von der Frage beherrscht ist, wie das Leben sich wohl gestalten und was die Zukunft bereit halten werde. Damals wie heute, so Hänsel, fänden diese Jungen sich ausgerechnet in dieser schwierigen psychologischen Phase in einer unübersichtlichen, schwer einzuschätzenden, kriegerischen Situation wieder und wüssten im Grunde nicht genau, warum sie dort seien, was eigentlich sie verteidigten und welche Waffen sie dabei einsetzten.

Welche Brisanz dieser schlüssigen Überlegung im gegenwärtigen Kontext global eher verwalteter, denn befriedeter, in jedem Fall aber propagandistisch schön geredeter Krisenherde innewohnt, lässt sich daran ermessen, dass Hänsel für ihr Projekt zunächst Zusagen der Unterstützung seitens des französischen Verteidigungsministeriums sowie der Marine hatte. Diese wurden dann mit der Begründung zurückgezogen, das Drehbuch „gäbe die historische Atmosphäre und den Enthusiasmus der Mannschaften nicht akkurat wieder“. Hänsel – unwillig, sich vor den Rekrutierungskarren spannen zu lassen – drehte „Schwarzer Ozean“ schließlich auf einem unter russischer Flagge fahrenden historischen Marineschiff vor Sardinien und Guadelupe, ein Veteran half ihr bei der Rekonstruktion der militärischen Rituale.

Foto: Edition Salzgeber

In ihrem Werk beschäftigt sich die belgische Filmemacherin Marion Hänsel immer wieder mit der Relation zwischen Politik und menschlichen Beziehungen. Nie in Form oberflächlicher Kurzschlüsse oder simpler Darlegung vermeintlicher Ursache-Wirkungs-Muster. Erklärungen machen sich in Hänsels Filmen eher rar. Vielmehr setzt die Filmemacherin auf eine emotionale Mitwirkung ihres Publikums, auf dessen Bereitschaft, den Zusammenhang herzustellen zwischen Denken, Fühlen und Handeln ihrer Figuren, und diesen wiederum rückzubeziehen auf den jeweils gegebenen gesellschaftlichen, sozialen, politischen Kontext. Etwa 2006 in „Als der Wind den Sand berührte“, nach dem Roman „Chamelle“ von Marc Durin-Valois, in dem sie einer afrikanischen Familie auf der Suche nach Wasser durch die Wüste und in den Schrecken militanter Auseinandersetzungen folgt. Oder in „Dust“ (1985), der, beruhend auf J.M. Coetzees gleichnamigem Roman, von den Gefühls- wie Machtverstrickungen zwischen abweisendem Vater, lediger Tochter und schwarzen Farmangestellten irgendwo in Südafrika handelt. Oder in „Verschwörung der Kinder“ (1992), der davon erzählt, dass die Babys nicht mehr geboren werden, sondern lieber im Mutterleib sterben wollen, weil die Welt, die sie draußen erwartet, ein schrecklicher Ort ist. Immer gelingt es Hänsel, eine stark ausgeprägte emotionale Textur in ein nicht minder differenziertes soziopolitisches Biotop einzubetten, ohne plakativ oder manipulativ zu werden. Nüchternheit, Kraft, Schmucklosigkeit zeichnen Marion Hänsels Schaffen aus. Und eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, die wohl auch Moriaty antreibt, das schweigsame Zentrum von Noir Océan.

„Der, der es gewagt hat, den Fluss zu durchqueren, verdient ein gutes Leben!“ Dies hatte Moriaty sich einst versprochen, da war er noch ein kleiner Junge und querte als eine Art Mutprobe ganz allein einen eiskalten Fluss. Das Wasser stand ihm dabei bis zum Hals, seine Angst war groß und sein Glaube an sich selbst geriet ins Wanken. Aber er hat es geschafft und es bewiesen und das gute Leben würde Wirklichkeit werden – soviel war nunmehr ausgemacht zwischen ihm und mit wem auch immer kleine Jungen dergleichen Wetten eingehen. Dass Moriaty sich Jahre später in einer Situation wiederfindet, die ihn in einen zerstörerischen, vernichtenden, Schöpfungs-verachtenden Kontext stellt, gegen den er sich nicht zur Wehr setzen kann, bricht ihm das Herz. Moriaty begreift sehr gut, dass er Verantwortung hat nicht nur für das, was er tut, sondern auch für das, was er bezeugt – in dem Fall: zu bezeugen gezwungen wird, eine Wunde, die der Erde geschlagen wird – und er ist untröstlich. Sein zwanzigster Geburtstag, den er gemeinsam mit Massina und Da Maggio auf Landgang und am Strand verbringt, wird von ihm denn auch weniger gefeiert als vielmehr deprimiert zur Kenntnis genommen.

Foto: Edition Salzgeber

Sie habe einen Film drehen wollen, sagt Hänsel, der zart sei wie der Atem eines Kindes und trotzdem aufgeladen mit einer immer präsenten, unterschwelligen Gewalt. Also verstellt sie den Blick auf ihre Figuren weder mit Klischees des Soldatischen noch mit wohlfeilen Vorstellungen von jungmännerhaftem Draufgängertum. Sie schafft stattdessen einen Raum, in dem der einzelne Charakter auf subtile Weise aus der Ausschließlichkeit des militärischen Kontextes herausgeholt und vertieft wird – und dabei insgesamt doch skizzenhaft bleibt. Die üblichen Eckdaten konventioneller Charakterisierung fehlen; soziale Herkunft, Bildungsstand, Träume und Pläne bleiben Leerstellen. Auch darüberhinaus ist wenig Konkretes zu erfahren: Der übergewichtige Da Maggio, der von allen getriezt wird, ruft nachts im Schlaf nach seiner Mutter. Er schickt Fotos nach Hause, auf denen er sich wie ein Abenteurer in der großen weiten Welt präsentiert. Massina wurde von Giovanni zum Boss erwählt; einmal bekommt er Post, ein Buch voll Mathematik und einen Brief, der wider Erwarten nicht vorgelesen wird. Was hat es mit dem Buch auf sich? Wer schreibt? Ist es wichtig? Moriaty mag der Älteste der drei sein; er erzählt Massina von seiner Mutprobe, er reagiert auf das übermütige Kräftemessen der Kameraden und Da Maggios kindische Quälerei eines Kraken mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verachtung. Alle drei werden sie im Lauf des Films wie die Kinder in Tränen ausbrechen: Da Maggio, als er von den anderen beiden allein am Strand zurückgelassen wird. Massina, weil er eines Nachts das unschuldige Opfer eines gewalttätigen Angriffs wird. Moriaty, weil die angerichtete Zerstörung, deren Zeuge er wird, ihm wie Verrat am eigenen Leben vorkommt.

So erscheinen Moriaty, Massina und Da Maggio als genau jene zarten, noch etwas ungebildeten, nicht ganz gefestigten Charaktere, die Jünglinge in ihrem Alter eben sind. Ihr Gefühlsleben ist komplexer als ihr Artikulationsvermögen. Ihr moralisches Empfinden mag diffus sein, aber es ist da. Es wohnt eine noch kindliche Unschuld in ihren Herzen, die sich zur Wahrhaftigkeit wandeln mag oder korrumpiert werden wird. Hänsel trifft über den Ausgang der Entwicklung ihrer Protagonisten, über deren Zukunft keine Aussage. Sie setzt aber Zeichen möglicher Bedrohung, indem sie Moriaty, Massina und Da Maggio in eine Umgebung stellt, deren hierarchische Strukturen, Mannbarkeitsrituale und mehr oder minder latente Konfliktträchtigkeit innere Verhärtung wie äußere Kontrolle erfordern. Sie entwirft einen vom Kriegerischen und von militärischer Disziplin determinierten Ort, der die eben erst entfaltete Sensibilität dieser jungen Menschen schon wieder zu ersticken droht. Die richtigen Worte wollen sich nicht mehr finden, die Sprache ist verschlagen – und sich einander mitzuteilen, ist ebenso schwierig wie überhaupt zu begreifen, was vorgeht und wie ihnen geschieht.




Schwarzer Ozean
von Marion Hänsel
BE/FR/DE 2010, 88 Minuten, FSK 6,
französische OF mit deutschen UT
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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