Karen-Susan Fessel: In die Welt

Buch

In ihrem neuen Roman „In die Welt“ erzählt Karen-Susan Fessel (Jahrgang 1964) von der Protagonistin Nell, die nach mehr als drei Jahrzehnten in Berlin in ihr norddeutsches Heimatstädtchen zurückkehrt. Dort trifft sie auf ihre Mutter und zahlreiche eigenwillige Persönlichkeiten. Als sie sich romantisch auf eine frühere Klassenkameradin einlässt, könnte ihr das über das Ende ihrer längjährigen Beziehung mit ihrer großen Liebe Irma hinweghelfen. Unsere Autorin Nancy Schmolt hat sich mit Lust in den Beziehungsreigen geworfen.

Bleiben oder gehen?

von Nancy Schmolt

Karen-Susan Fessels lang erwarteter neuer Roman folgt der Protagonistin Nell in einen neuen Lebensabschnitt. Ihre langjährige Partnerin hat sie verlassen, sie macht sich Sorgen um ihre alte Mutter, und so beschließt Nell, überraschend ein Sabbatjahr einzulegen und Berlin zu verlassen. Sie fährt in die norddeutsche Kleinstadt, wo sich ihre Mutter kürzlich ihr „Altersdomizil“ eingerichtet hat. Nell, die früher mit ihrer Familie viel umgezogen ist, kennt das Städtchen noch aus ihrer Jugend.

Anfangs verläuft die Handlung deshalb erwartbar unaufgeregt. Nell richtet sich in einem Hotelzimmer ein, trifft auf alte Bekannte und auch auf neue spannende Menschen. Natürlich besucht sie auch ihre Mutter, deren Reaktion jedoch unerwartet schroff-irritiert ausfällt. Die resolute und unorthodoxe Frau ist alles andere als hilfsbedürftig und fragt sich, ob ihre Tochter eher Fluchtreflexe aus dem pulsierenden Berlin hierhergeführt haben.

Karen-Susan Fessel – Foto: Alex Heigl

Diese Frage hat Nell bereits ihr bester schwuler Kumpel Jack gestellt, mit dem sie regen Telefonkontakt hält. Jack gehört zu ihrer Wahlfamilie. So wie Berlin lange ihre Wahlheimat war. Doch Nells nomadenhafte Kindheit hat sie schon früh gelehrt, dass „Heimat“ nicht unbedingt ein fester Ort ist. Deshalb verteidigt Nell ihre Auszeit vor all ihren Lieben, um ausloten zu können, wo für sie selbst dieser Platz im Leben ist, den sie zukünftig Heimat nennt.

Und damit ist sie nicht allein. Im Baumarkt trifft sie den benachbarten Zimmermann Louis, der ebenfalls einen solchen Punkt im Leben erreicht hat. Louis soll die Werkstatt seines Chefs übernehmen. Der alte Zimmermann will alles unter Dach und Fach bringen und endlich in Ruhestand gehen. Doch Louis ist ein „Zugezogener“, den die eingesessenen Kleinstädter zwar mit Respekt, aber immer als einen von außen Kommenden betrachten. Das Gefühl, außen vor zu sein, begleitet Louis schon sein Leben lang. Bindungen geht er deshalb selten leichtfertig ein. In Louis‘ Vergangenheit gibt es dunkle Stellen, die seinen Lebensentwurf zunehmend in Frage stellen. Seine familiäre Vergangenheit konnte er noch nicht komplett aufarbeiten.

Louis ist eine verwandte Seele, wie Nell schnell erkennt. Das verbindet die beiden sofort. Auch Beate, die Geschäftsführerin des Hotels neben Louis‘ Werkstatt, sucht nach neuen Perspektiven für ihre Zukunft. Sie fühlt sich dieser engen kleinstädtischen Welt nicht so recht zugehörig. Zwar ist sie hier aufgewachsen, doch sie war froh, in ihrer ehemaligen Anstellung die Weite der Welt zu entdecken. Wieder zurück fragt sie sich, ob sie von der Zukunft noch viel Neues erwarten kann oder einfach mit dem Erlebten zufrieden sein soll.

Für alle drei stellt sich die Frage: bleiben oder gehen? Nells Wahlfamilie bestand bisher aus ihrem Sohn, ihrer Partnerin und ihrem Busenkumpel Jack. Doch ihr Sohn ist flügge geworden und lebt nicht einmal mehr in Deutschland, ihre Partnerin hat sie verlassen, und so sehr sie Jack auch liebt, so wenig ist er ein zwingendes Argument, zukünftig in der trubeligen Großstadt zu verweilen. Bei ihrer Mutter zu sein, sich kümmern zu können, und die neue Bekanntschaft mit Louis könnten ein guter Grundstein für ein gesetzteres Leben sein. Auch Liebschaften finden sich sogar hier in der Kleinstadt, wie Nell bald feststellt. Da kommt Nells Buddy Jack sie überraschend besuchen (größtenteils aus Eifersucht auf den neuen „Seelenverwandten“ Louis), und Nell muss feststellen, dass sie eine Entscheidung treffen muss.

Karen-Susan Fessel gehört schon seit ihrem ersten Roman „Bilder von ihr“ zu den beliebtesten lesbischen Stimmen der deutschsprachigen Literaturlandschaft. Sie beleuchtet in ihren Büchern immer wieder Themen wie Trauer, Tod und queere Lebensweisen. In ihrem neuen Roman schlägt die Berliner Autorin nachdenkliche Töne an, doch dank ihrer ungewöhnlichen Erzähltechnik und der eigenwilligen Charaktere entwickelt der zunächst unspektakuläre Plot schnell eine Sogwirkung. Die eigenwillige Verschrobenheit oder auch die erst einmal irritierenden Eigenschaften ihrer Protagonist*innen werden im Lauf der Geschichte mittels Rückblenden zu nachvollziehbaren Reaktionsmustern.

Louis war für mich eine solche Figur. Sein Geheimnis ist zugleich der Spannungsbogen, dem der Roman folgt. Sein ungewöhnlich friedfertiger Charakter, seine Zurückhaltung beim Aufbau fester Bindungen zu Menschen und sein Einzelgängertum trotz aller beschriebenen Attraktivität und trotz allem Charme werfen die Frage nach dem Warum auf.

Und Hotelchefin Beate hat ein Auge auf den Zimmermann geworfen, erkennt jedoch auch in Nell die Attraktivität einer geheimnisvollen Person, die nicht nur durch die Optik bestimmt wird. Auch eine alte Klassenkameradin von Nell zeigt wieder Interesse. Unversehens befinden sich die Leser*innen auch schon in einem Beziehungsreigen, den nur die nächsten Seiten entwirren können.




In die Welt
von Karen-Susan Fessel
Gebunden, 448 Seiten, 20 €,
Querverlag

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