Rocketman
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In einem berührenden Text für den britischen Guardian hat Elton John vor kurzem beschrieben, wie viel ihm der Film „Rocketman“, der seit gestern auch in den deutschen Kinos läuft, bedeutet. Dabei sei es gar nicht so einfach gewesen, ein Hollywood-Studio zu finden, das bereit war, sein an Sex und Drogen nicht gerade armes Leben einigermaßen authentisch zu verfilmen. Wohin ein gehemmter Umgang mit Homosexualität auf Produzentenseite führen kann, konnten wir unlängst im Freddie-Mercury-Biopic „Bohemian Rhapsody“ beobachten. Andreas Köhnemann hat sich „Rocketman“, der von Elton Johns Ehemann David Furnish co-produziert wurde, angesehen und findet, dass der Film weit aufrichtiger ist als „Bohemian Rhapsody“, weil er sich traut, sich auf die Queerness seines Protagonisten voll einzulassen.
High as a Kite
Ein langer, dramatisch illuminierter Flur. Eine kostümierte Gestalt, die entschlossen voranschreitet. Ein Star auf dem Weg zu seinem großen Auftritt? Nicht so ganz. Statt eine Bühne zu betreten, stößt der Protagonist die Türen zur Sitzung einer Selbsthilfegruppe auf. In einem orangefarbenen, paillettenbesetzten Jumpsuit samt rot-schwarzen Flügeln, mit farblich passender Hörnerkappe auf dem Kopf und herzförmiger Brille im Gesicht steht Elton John (verkörpert von Taron Egerton) da – und betet wenig später sein Repertoire an Süchten herunter, von Alkohol und Rauschmitteln aller Art über Sex und Essen bis hin zum exzessiven Shopping.
Schon nach wenigen Minuten ist klar, dass sich das Drehbuch von Lee Hall und die Regie von Dexter Fletcher nicht nur für die Starpersona, sondern auch und vor allem für den Menschen Elton John interessieren, und dass „Rocketman“, anders als viele andere Biopics, kein formelhaft verfilmter Wikipedia-Artikel ist.
Und dann geht es erst richtig los. Denn die erste Rückblende, die von der Frage nach Eltons Kindheit eingeleitet wird, ist zugleich der Beginn einer Musical-Nummer, auf die viele weitere folgen. Immer wieder werden Elton und sein Umfeld zu singen und zu tanzen beginnen, nicht nur in gewöhnlichen Bühnen-Settings, sondern in alltäglichen Situationen, und dabei Elton Johns Songs unabhängig von ihrer jeweiligen Entstehungszeit interpretieren, ihnen neue, zusätzliche Bedeutungen verleihen.
Das hätte auch ziemlich misslingen können. Vom unglücklichen Aufwachsen mit einer egozentrischen Mutter und einem lieblosen Vater zu erzählen, vom Muff der 1950er und frühen 1960er Jahre in der Londoner Peripherie, und dazu Johns große, ausladende Chart-Hits zu spielen, ist nicht ganz naheliegend. Später im Film geht sogar ein Suizidversuch in eine musikalische Nummer über, wenn sich der inzwischen erfolgreiche Elton vollgepumpt mit Drogen in seinen Swimmingpool fallen lässt und dort auf sein jüngeres Ich am Unterwasserklavier trifft, ehe die Wiederbelebung zu einer furios choreografierten Performance wird.
Das alles funktioniert überraschend gut, weil „Rocketman“ in der Übersteigerung stets etwas Wahrhaftiges erkennt. In seiner Liebe zur Künstlichkeit und zur Übertreibung traut sich der Film, oft extrem campy zu sein. Wenn Elton mit seinem Publikum bei seiner ersten großen Solo-Show im Troubadour Club in Los Angeles anfängt zu schweben, ist das natürlich sagenhaft kitschig – und doch vermittelt dieser surreal-ausschweifende Moment perfekt, welche Wirkung Eltons Musik auf die Leute hat und wie sie dem Künstler selbst als Fluchtmöglichkeit dient. Die Inszenierung schafft es, die Extravaganz, die den Rockstar umgibt, nicht nur leidenschaftlich und gebührend zu feiern, sondern auch uns spüren zu lassen, dass die bunten Kostüme eine Rüstung sind – und dass es Phasen im Leben und in der Karriere von Elton John gab, in denen dieser sich hinter all der flamboyanten Aufmachung wie ein trauriger, einsamer Clown gefühlt haben mag.
Auch in der Gestaltung der Figuren findet das Werk eine beeindruckende Balance zwischen Überzeichnung und Präzision. Der kalte Vater, für den Musikhören bedeutet, regungslos dazusitzen, statt sich von ihr aktivieren oder begeistern zu lassen, und die verbitterte Mutter, die sich mit Zigarette, Cocktailglas und verzogener Miene durch ihr Hausfrauendasein bewegt, bewegen sich am Rand zur Karikatur. Aber wenn Eltons Vater seinem Sohn mit den Worten „Don’t be soft“ das Gefühl vermittelt, den Vorstellungen von Männlichkeit nicht zu entsprechen, und seine Mutter mit dem Satz „You’ll never be loved properly“ das jahrelange Hadern des Protagonisten mit dem eigenen Schwulsein verstärkt, werden Eltons Konflikte ziemlich exakt auf den Punkt gebracht. Gleiches gilt für die toxische Beziehung, die der Sänger mit seinem Manager John Reid eingeht: Die Faszination, die Elton für den attraktiven Geschäftsmann entwickelt, wird in einer stürmisch inszenierten Liebesszene sehr deutlich; der emotionale Missbrauch, der ebenso Bestandteil der Beziehung ist, zeigt sich indes nicht nur plakativ, sondern auch in vielen subtilen Gesten.
Denkt man über die Darstellung von Queerness in „Rocketman“ nach, kommt man nicht am Vergleich mit „Bohemian Rhapsody“ vorbei, zumal es Dexter Fletcher war, der dessen Regisseur Bryan Singer 16 Tage vor Drehschluss ablöste und das Biopic über Queen-Frontman Freddie Mercury vollendete. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den beiden Filmbiografien über zwei der größten Rockstars des 20. Jahrhunderts sind augenscheinlich. Während sich der 1991 an den Folgen von Aids verstorbene Freddie Mercury jedoch öffentlich nie klar zu seiner sexuellen Orientierung äußerte, outete sich Elton John selbst zunächst als bisexuell, später als schwul. „Rocketman“ schildert präzise die inneren Kämpfe des Sängers, findet äußerst prägnante Bilder, um dessen kurze Ehe mit der Tontechnikerin Renate Blauel zu zeigen, und präsentiert am Ende in Hinblick auf die sexuelle Emanzipation des Sängers einen großen Triumph: In einer Texteinblendung vor den Credits erfahren wir, dass Elton John in dem Filmproduzenten David Furnish einen Menschen gefunden hat, der ihn – entgegen der finsteren Prognose seiner Mutter – aufrichtig liebt.
Das Hauptproblem am Umgang mit Mercurys Sexualität in „Bohemian Rhapsody“ ist, dass der Film den Eindruck entstehen lässt, man könne auch heute über Homosexualität noch immer nicht anders denken als zu Lebzeiten des Sängers. Sie wird nur angedeutet und muss sich der größeren Erzählung von Queens musikalischem Aufstieg unterordnen, so als hätte Freddies zumindest in seiner Musik und seinen Performances offen zur Schau gestellte Queerness damit nur ganz am Rande etwas zu tun gehabt. Die Ängste und Hemmungen, die hinter diesen dramaturgischen Entscheidungen liegen, haben sich zwangsläufig auch in die filmische Umsetzung der Musik und Auftritte eingeschrieben. „Bohemian Rhapsody“ bleibt, wenngleich grandios gespielt, in vielen Aspekten oberflächlich und verklemmt. „Rocketman“ hingegen lässt sich inhaltlich und formalsprachlich voll auf die Queerness seines Protagonisten ein. Er zeigt seinen Helden nicht nur mit Ecken und Kanten, sondern auch voller Lust. Ein ungehemmter Film über einen entfesselten Sänger.
Rocketman
von Dexter Fletcher
UK 2019, 121 Minuten, FSK 12,
deutsche SF und englische OF mit deutschen UT,
Paramount Pictures
Ab 30. Mai hier im Kino.