Piaffe

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Nach dem Nervenzusammenbruch ihrer Schwester muss die introvertierte Eva deren Job als Geräuschemacherin übernehmen. Für einen Werbespot vertont sie das Verhalten eines Pferds – und vertieft sich so leidenschaftlich in die Arbeit, dass ihr ein Schweif aus dem Steißbein wächst. Mit dem Schwanz wird auch Evas sexuelles Begehren immer größer. Der erste Langfilm der aus Tel Aviv stammenden und in Berlin lebende Regisseurin und Künstlerin Ann Oren ist ein taktiler Liebesbrief an die unterschätzten Magier des Kinos und eine sinnliche Erkundung des Andersseins und Andersbegehrens. In Locarno wurde „Piaffe“ als Meisterwerk gefeiert, jetzt ist er in den deutschen Kinos zu sehen. Beatrice Behn nähert sich Orens kinematografischer und körperlicher Transformationsfantasie mit der Theorie der Symbiogenese und der Idee der Biosozialität an. Über einen ultimativ queeren Film.

Foto: Salzgeber

Im ständigen Werden

von Beatrice Behn

Als man Evas Namen irgendwann in der Mitte von „Piaffe“ zum ersten Mal vernimmt, da ist sie schon nicht mehr einfach nur Frau, sondern eine sich stetig entwickelnde Symbiogenese aus Pferd und Mensch, und losgelöst von jeglichen Binaritäten in Bezug auf Geschlecht und Sexualität. Die Theorie der Symbiogenese wurde durch den deutschen Botaniker Andreas Franz Wilhelm Schimper im Jahr 1883 begründet. Wie sinnvoll also, dass Eva ihren Namen zum ersten Mal für einen Mann ausspricht, der ebenfalls Botaniker ist. Dr. Novak ist spezialisiert auf Farne und erklärt Eva, wie diese sich durch Gametophyten fortpflanzen, die sowohl Eier als auch Spermien produzieren und sich somit jeglicher Idee von Männlichkeit und Weiblichkeit entziehen. Als nächstes wird er Eva eine Rose in den Rachen schieben, ihr ein Geschirr aus Bondage-Seilen anlegen und ihren Pferdeschwanz (keine Metapher) stimulieren. Ein Akt voller Sinnlichkeit und ein Befreiungsschlag für Eva.

Doch von vorn. Das erste Mal begegnen wir Eva bei der Arbeit an einem ganz besonderen Ort. Sie verwaltet die Dias von Farnen, die in einem alten Kaiserpanorama (einem Guckkasten und Vorläufer des Kinos) ausgestellt werden. Regisseurin Ann Oren bringt das Publikum zurück an die Anfänge des Bewegtbildes und damit auch zum „Kino der Attraktionen“. Schon hier begegnet Eva dem alsbald relevant werdenden Botaniker, der sich vor Ort öfter die Dias von Farnen ansieht. Von Beginn an untermauert Oren die Verankerung von „Piaffe“ im Medium Film und dessen Machtverhältnis des Blickens und Gesehenwerdens. Der Botaniker blickt und sieht und inspiziert. Eva hingegen schaut weg, nach unten, fast nie direkt. Sie redet auch nicht gern, und überhaupt scheint sie nicht so ganz in die(se) Welt zu gehören, deren Regeln und Gesetze sie nirgends zuhause fühlen lassen und sie verdammen, stets das Andere zu sein.

Als ihre ältere Schwester Zara, die als Geräuschemacherin arbeitet, einen Nervenzusammenbruch erleidet, muss Eva übernehmen und einen Werbespot für ein Antidepressivum vertonen, der fast die ganze Zeit ein Pferd zeigt, wie es auf der Stelle trabt. Piaffe nennt man diese Bewegung im Dressurreiten. Je mehr Eva sich in ihre neue Arbeit vertieft, desto mehr verändert sie sich. Ihre Beziehung zum gezeigten Pferd festigt sie durch Besuche in dessen Stall, und nach und nach wächst Eva buchstäblich und auch metaphorisch ein Schwanz.

Auf die immer wieder diskutierte Frage, wie man die geschlossene binäre Konstruktion des Geschlechts, die unser aller Leben und Erfahren beherrscht, dekonstruieren oder wenigstens für einen Moment öffnen könne, hat die Theoretikerin Donna Haraway eine ungewöhnliche Antwort gefunden. In ihrem Buch „Die Begegnung der Arten“ beschreibt Haraway ihre Idee von Biosozialität, nach der eine strikte Abtrennung von Mensch und anderen Lebewesen arbiträr und künstlich ist. Sie definiert den Menschen eher als „Mehr-Arten-Wesen“, dessen Zellen zu allergrößten Teilen das Erbgut von Bakterien, Pilzen, Protisten und so weiter in sich tragen. Wir sind verbunden mit allen anderen Lebewesen, wenn wir es nur wollen. „Respondieren“ nennt Haraway das Erkennen dieser Verknüpfung. Aus ihr folgen ein Umdenken und ein ständiges gemeinsames Werden aller Lebewesen miteinander. Wenn man als Mensch seinen Status als „Companion“ mit anderen Lebewesen erkennt anstatt sich als separate Entität zu verstehen, dann kollabieren, so Haraway, automatisch sämtliche Ideen von binärem Geschlecht und normativer Sexualität zu einem Haufen Nichts.

Foto: Salzgeber

Es scheint als habe Orens Hauptfigur sie ganzumfänglich gehört und verstanden. Evas anhaltender Blick auf die Bewegungen des Pferdes schaffen eine Beziehung, die ganz im Harawayschen Sinne respondiert und sie und das Pferd zu „Companions“ werden lässt. Erst diese Beziehung erlaubt Eva eine Symbiogenese, die sie befreit von allen Ideen ihres Geschlechts, ihres Körpers, ihres Daseins und Verhaltens und vor allem auch davon, was es für sie bedeutet, sexuell zu sein. Das ultimative Queering also. Ein Rundumschlag auf allen Ebenen, der die Spielregeln neu erfindet. Oder besser gesagt: sie ganz ad acta legt.

„Piaffe“ selbst tut es der Figur gleich. Beschrieben wird das Werk oftmals als surreal, doch greift diese Idee nur, wenn man tief verankert in den Normen des Kinos, des Blickens und Erzählens bleibt, anstatt sich mitziehen zu lassen in eine diverse, symbiotische Welt, in der zur Abwechslung nicht das Wort, sondern vor allem die Geräusche, Farben und Bilder die Geschichten erzählen, ohne sich an die üblichen Regeln zu halten. Auch der Film selbst befreit sich und respondiert mit seinen Figuren und der Erzählung wie das Mehr-Arten-Wesen einer kinematografischen Welt. Orens Werk ist auch ein ständiges Werden und Reagieren jenseits des Üblichen. Das große Ganze ist völlig egal, die kleinsten Details sind viel wichtiger. Das Geräusch eines Pferdehufs, das Klappern einer Kette. Das Rot der Rosen, die Eva in sich aufnimmt. Das Blau ihres Kleides, das Schimmern der Stahlkappen, die sie auf ihre Schuhe nagelt, um ihrem Pferdwerden ein Geräusch zu geben.

Foto: Salzgeber

Mit viel Respekt kümmert sich „Piaffe“ um alle seine Lebewesen. Selbst die Farne und das tatsächliche Pferd sind Teil des deliziös und bis ins Detail durchdachten Werks und werden nicht zu Objekten oder einer reinen Ästhetik reduziert. So nimmt sich der Film durchaus auch Zeit, um Parallelen zu ziehen zum Entrollen neuer Farnblätter, dem Nicken des Kopfes, wenn das Pferd gallopiert, und dem Zucken des anfänglich noch kleinen Pferdeschwanzes, der erst aussieht wie eine neue Pflanze, die aus der Erde bricht, um dann zum phallischen Symbol zu werden. Und dieses dann auch wieder zu durchbrechen, denn der Pferdeschwanz bleibt nicht nur Fetisch und Ort eines wachsenden erotischen Verlangens, sondern wird auch Symbol der eigenen Anerkennung.

Evas konstante körperliche Transition, gemeinsam mit einer einerseits fast symbiotisch, andererseits aber auch gegenläufig agierenden Körperlichkeit ihrer Schwester bringt den Film auch nah an die gegenwärtigen politischen Diskussionen, die trans Körper in Normen und Bahnen, in Binaritäten und angeblich biologische zweigeschlechtliche Ordnungen zwingen wollen. Evas und Zaras Körper lehnen sich genau dagegen auf und weisen die Idee von Eindeutigkeit in Gänze zurück. Doch was folgt, wenn man sich diesen Normen widersetzt?

Foto: Salzgeber

Für Oren ist die Antwort darauf ganz klar: Genuss. Das klingt banal, doch queere Menschen wissen es besser. Genuss, Vergnügen, (Lebens-)Freude — es gibt nichts Revolutionäreres als sich selbst zu lieben und das Leben zu genießen, wenn der Rest der Welt einen lieber zerstören will. Und Evas Genuss kommt nicht nur aus ihrer Symbiogenese, nein, er stößt eben auch ihre Sexualität zum ersten Mal in Bahnen. Vom ersten zaghaften Betasten eines Pferdegeschirrs geht es quasi im Galopp hin zum Botaniker, der der erste sein darf, dem sich Eva spielerisch unterwirft. Ihr gemeinsamer Kink fußt auf dem geteilten Verständnis, dass Geschlecht und Sexualität komplex sind. Das haben dem Botaniker ja seine Farne schon gut vermittelt. Die dominant-submissive Beziehung, die Eva selbst initiiert, ist auf den ersten Blick eine, in der Dr. Novak das Sagen hat.

Doch tatsächlich ist er es, der Evas Wünsche erfüllt und befriedigt, indem er in seinem Spiel eben genau auf deren Pferdemensch-Symbiogenese eingeht, anstatt klassisch die Stimulation von Geschlechtsteilen zu suchen. Insofern ist er der perfekte Partner, solange er Evas Biodiversität anerkennt und das Pferd/Mensch-Sein inklusive der Dressage, des Trainings, der Objektivierung und letztendlich auch der Unterwerfung zusammen erkundet. Bis eben auch dies sich ändert in Evas stetiger Transition. Oder wie Haraway es sagen würde: „Die Wildheit bleibt doch unsere ganze Hoffnung.“




Piaffe
von Ann Oren
DE 2022, 86 Minuten, FSK 16,
deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT

Ab 4. Mai im Kino.