Paris Was a Woman (1996)

DVD/VoD

Greta Schiller ist eine der großen Pionierinnen des queeren Dokumentarfilms. Mit „Before Stonewall“ (1984) setzte sie dem Leben lesbischer und schwuler US-Amerikaner:innen vor den bahnbrechenden Stonewall-Riots im Jahr 1969 ein filmisches Denkmal. Mit ihrer eigenen Produktionsfirma Jezebel Productions und an der Seite ihrer künstlerischen Mitstreiterin und Partnerin Andrea Weiss folgten in den nächsten 40 Jahren zahlreiche preisgekrönte Filme zu unserer Kultur und Geschichte. In wenigen Tagen wird Schiller 70, und für die sissy ist das ein perfekter Anlass, um an einen weiteren ihrer Filmklassiker zu erinnern: das vielschichtige Orts- und Gruppenporträt „Paris Was a Woman“. Der Film fängt das Lebensgefühl von feministischen Pionierinnen wie Colette, Djuna Barnes und Gertrude Stein ein, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Paris zog, weil sie dort eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten fanden und künstlerisch wie persönlich neue Wege gehen konnten. Anja Kümmel über ein Zeitdokument, das von der historischen Eroberung einer Metropole als weiblichem Entfaltungsraum erzählt.

Foto: Salzgeber

Lesbos links der Seine

von Anja Kümmel

Paris in den 1920er Jahren war vielleicht ein bisschen das, was Berlin in den Nullerjahren versprach, und in manchen Nischen noch immer verspricht: Ein lebendig wimmelnder Hafen für kreative Köpfe, Verlorene und Suchende, Außenseiter:innen und Andersdenkende. Insbesondere aus den USA strömten in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Künstler:innen, Bohemiens (und solche, die es werden wollten) in die Stadt an der Seine, auf der Flucht vor der Prohibition, auf der Suche nach billigen Mieten, billigem Wein, gutem Essen, einem Gefühl von Freiheit und unbeschwertem Leben. „Die einzige Stadt, wo man leben und sich äußern kann, so wie es einem gefällt“, schwärmt die Autorin, Erbin und Salonlöwin Natalie Barney über ihre Wahlheimat. Und die Journalistin Janet Flanner: „Ein wundervolles Gefühl der Erregung lag über der Stadt.“ Diesen Aufbruchsgeist, dieses Schillern schier unendlich scheinender Möglichkeiten lässt „Paris Was a Woman“ aus dem Jahr 1996 bereits binnen weniger Minuten, die das quirlige Treiben in der französischen Hauptstadt zwischen den Weltkriegen zeigen, wieder aufleben. Regie führte die US-amerikanische Filmemacherin Greta Schiller; das Drehbuch stammt von Andrea Weiss und basiert auf deren gleichnamigem Buch „Paris Was a Woman: Portraits from the Left Bank“.

Während die prägenden Pariser Jahre berühmter männlicher Expats wie Ernest Hemingway, Pablo Picasso, F. Scott Fitzgerald, James Joyce & Co längst in die kollektive Fantasie eingegangen waren, musste am Mythos rund um die kunstschaffenden und intellektuellen Frauen, die sich ebenfalls an der Rive Gauche niedergelassen hatten, erst noch gefeilt werden. Man darf vermuten, dass „Paris Was a Woman“ entscheidend dazu beigetragen hat.

Foto: Salzgeber

Zunächst einmal muss man sich klarmachen, in wie vielerlei Hinsicht die hier Porträtierten Pionierinnen ihrer Zeit waren. Sie gehörten nicht nur zur ersten Generation von Frauen, die an der Universität studieren durften, sondern gingen in ihren Anschauungen und ihrer Lebensführung direkt aus der ersten Welle der feministischen Bewegung hervor. Die Widerstände waren immens: Trotz des avantgardistischen Geistes, der in Paris wehte, schloss die renommierte Académie française weibliche Künstlerinnen weiterhin aus (woraufhin Natalie Barney aus Protest eine „Académie des Femmes“ in ihrem legendären Salon veranstaltete). Ihre Verdienste, ihr Schaffen, ja allein ihre pure Anwesenheit im künstlerischen und intellektuellen Leben von Paris können somit als feministischer Akt gelesen werden. Paris erscheint bei Schiller und Weiss nicht mehr als passive Muse für das männliche Genie, sondern als Raum für weibliche Kunst- und Kulturschaffende, um sich zu entfalten und (neu) zu entdecken, als Schöpferinnen und Musen zugleich, für sich selbst und füreinander.

Neben der umtriebigen Barney und deren Lebensgefährtin, der Malerin Romaine Brooks, stehen die exzentrische Dichterin, Verlegerin und frühe Picasso-Sammlerin Gertrude Stein und ihre Partnerin (und Lektorin und Sekretärin und Köchin) Alice B. Toklas im Fokus des Dokumentarfilms, in deren legendären Salons sich die wichtigsten Vertreter:innen der literarischen Moderne die Klinke in die Hand gaben. Ein weiterer zentraler Teil ist dem Paar Sylvia Beach und Adrienne Monnier gewidmet, deren Buchhandlungen „La Maison des Amis des Livres“ (die zugleich als Leihbücherei fungierte) und „Shakespeare and Company“ zum kulturellen Dreh- und Angelpunkt der Expat-Szene in Paris wurden. Auch als Verlegerinnen leisteten sie Pionierinnenarbeit: 1922 ging Beach das Wagnis ein, James Joyce’ Roman „Ulysses“ zu veröffentlichen, nachdem englischsprachige Verlage das Werk als „zu obszön“ abgelehnt hatten. Gemeinsam übersetzten und veröffentlichten Monnier und Beach außerdem T.S. Eliot’s Gedicht „The Lovesong of J. Alfred Prufrock“ erstmals auf Französisch.

Foto: Salzgeber

Auch Djuna Barnes, eine weitere herausragende Vertreterin der literarischen Moderne, darf natürlich nicht fehlen. Deren anonym veröffentlichter Schlüsselroman „Ladies Almanack“ bot bereits 1928 erste (wenn auch recht verschleierte) Einblicke in die sapphischen Zirkel des zeitgenössischen Paris. Janet Flanner, Colette, Josephine Baker, Gisèle Freund und weitere Akteur:innen im Umfeld der bereits Genannten komplettieren das Bild. Visuell wird dies mithilfe eines Stadtplans der einschlägigen Viertel am linken Seine-Ufer dargestellt, auf dem immer mehr Punkte für die neu hinzugekommenen Wohn- und Schaffensorte „sprießen“, so wie ein einzelner Wassertropfen auf der Oberfläche eines Sees immer größere Kreise zieht.

Die wilde Collage aus Archivmaterial und privaten Filmaufnahmen, literarischen Fragmenten, Interview-Sequenzen, historischen Fakten und kolportierten Anekdoten versprüht einen unverkennbaren Low-Budget-Charme, der den Zuschauer:innen quasi automatisch das von der New-Yorker-Kollumnistin Flanner beschworene „wundervolle Gefühl der Erregung“ vermittelt. Insbesondere die Eloquenz und der trockener Humor Flanners stechen in den Interview-Ausschnitten hervor, etwa wenn sie sich subtil über Picassos Routinen mokiert („Er hätte doch als verrückter Modernist immer mal einen anderen Weg wählen können.“) oder pointiert Gertrude Steins Verwandlung nach einem Haarschnitt von einer „vollschlanken kalifornischen Dame mit Hochfrisur“ in einen „gutaussehenden römischen Kaiser“ beschreibt. Eine kommentierende Stimme aus dem Off hält die Materialfülle und -vielfalt mehr oder weniger zusammen, dennoch drohen die umfangreichen Recherchen von Schiller und Weiss bisweilen den Rahmen zu sprengen. So wirkt das zusammengetragene Material stellenweise etwas unstrukturiert, und es ist nicht immer nachvollziehbar, woher die Zitate oder von wann die Interviewausschnitte stammen, was das Verständnis teils erschwert.

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Etwas kurios wirkt zudem aus heutiger Sicht, dass die offensichtliche Gemeinsamkeit der Porträtierten – alle waren lesbisch oder bisexuell – nie explizit thematisiert wird. In „Paris Was a Woman“ fällt das L-Wort nur ein einziges Mal fällt (in Bezug auf ein Gedicht von Gertrude Stein), ansonsten ist eher vage von der „sexuellen Doppeldeutigkeit“ der Salons oder von „Freundinnen“ die Rede. Ob das den in lesbischen Kreisen ja tatsächlich nicht ganz unüblichen fließenden Übergängen von Freund:innen- und Liebschaften geschuldet ist, bleibt unklar. Vielleicht war der Film zunächst schlicht vor allem für eine Zielgruppe von „Eingeweihten“ bestimmt, von denen angenommen wurde, dass sie den Subtext ohnehin verstehen würden.

Auf einige bedeutende Werke der Protagonistinnen nimmt die Doku zwar Bezug – etwa auf Djuna Barnes’ Roman „Nachtgewächs“ und die Amour Fou der Autorin mit der Künstlerin Thelma Woods, die dem Plot zugrunde liegt, oder auf die stilistischen Experimente in Gertrude Steins Lyrik und ihre Parallelen zum Kubismus. Auch einige der vieldeutig androgynen Porträts von Romaine Brooks werden eingeblendet. Implizit liegt der Fokus jedoch auf den Dynamiken innerhalb einer homosozialen, (unausgesprochen) queeren Community und ihrer letztendlich meist unbezahlten und oftmals unsichtbaren kreativen, sozialen und kulturellen Arbeit (heute würde man wahrscheinlich „Care Work“ dazu sagen). Schade, dass „Paris Was a Woman“ diese Perspektive und Motivation nicht direkter thematisiert. So hätte man vielleicht noch mehr erfahren über die lesbisch/queere Subkultur im damaligen Paris, und wie sich Barneys sapphische Salons in diesen Kontext einfügten. Oder auch über die freien, unkonventionellen Formen, in denen in ihrem Dunstkreis Beziehungen und Sexualität gelebt wurden – etwa Barneys mehrere Jahrzehnte andauende Dreiecksbeziehung mit Romaine Brooks und Élisabeth de Gramont, oder Janet Flanners über 50 Jahre währende offene Beziehung mit der Dichterin und Journalistin Solita Solano. All diese heute schon fast wieder utopisch anmutenden Möglichkeitsräume werden eher nur angerissen oder lassen sich zwischen den Zeilen erahnen.

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Aber natürlich lässt sich all dies in 75 Minuten gar nicht erzählen. Wer bereits ein Fan der hier Porträtierten ist und ihr Leben und Wirken zumindest teilweise kennt, wird beeindruckt sein von so manchen überraschenden Blicken hinter die Kulissen, ganz zu schweigen von der Fülle an Material, die Schiller und Weiss zusammengetragen haben, zumal aus einer Zeit, in der nicht jedes Ereignis fotografisch oder gar filmisch festgehalten wurde. Auch dass die Regisseurin noch einige Zeitzeuginnen befragen konnte, ist ein großes Glück.

Interessant ist auch, mit etwas Abstand betrachtet, wie sehr ihre Entstehungszeit dem Film eingeschrieben ist. Eine gewisse Nostalgie für Verlorenes oder Im-Verloren-Gehen-Begriffenes scheint bereits mitzuschwingen. Relativ abrupt enden die „Années folles“: die 30er Jahre bringen zunächst die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit sich, dann den Faschismus und schließlich den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der die Gemeinschaft versprengt und die frisch errungenen Freiräume schlagartig zunichtemacht. Auch deshalb lohnt es sich den Film gerade heute wieder anzusehen (zusammen mit „Before Stonewall“) – als Erinnerung daran, wie in verschiedenen Epochen Freiheiten erkämpft werden mussten, und wie sie immer wieder verteidigt werden müssen.




Paris Was a Woman
von Greta Schiller
GB/DE/US 1996, 75 Minuten, FSK 12,
deutsche-englische OF, teilweise mit deutschen UT,
Salzgeber

Als DVD und VoD