Chuck Chuck Baby
Trailer • Kino
Helen ist Ende 30, Single und arbeitet in einer Hühnerfabrik in einem Städtchen in Wales. Ihr trister Alltag wird aufgewirbelt, als plötzlich ihr lange verschollener Jugendschwarm Joanne wieder auftaucht. Die Freundinnen von früher lernen sich noch einmal neu kennen und lassen sich auf einen Flirt ein. Und auf einen Schlag ist Helens alte Lebensfreude wieder da! Mit Witz, überwältigendem Working-Class-Charme und ganz viel Zuneigung für die Figuren erzählt Janis Pugh in „Chuck Chuck Baby“ eine Geschichte über Liebe, weibliche Selbstermächtigung und die Kraft der Gemeinschaft. Barbara Schweizerhof über ein mitreißendes Jukebox-Musical und rebellisches Arbeiter:innnen-Drama mit dem Herz am richtigen Fleck.

Foto: Salzgeber
Love Is the Key
Man sieht es ihr auf den ersten Blick an: Helen gehört zu jenen Frauenfiguren im Kino, die sich für die Zukunft nicht mehr Geld oder Glück in der Liebe wünschen, sondern ein ganz anderes Leben. Zwar sieht man sie in der ersten Szene des Films nicht in einem Gefängnis aufwachen, aber schnell stellt sich heraus, dass sie sich wie eine Gefangene fühlt. Was sie fesselt, sind jedoch keine Wärter, sondern die misslichen Verschränkungen von Klassenzugehörigkeit, falschen Entscheidungen und Angst vor Neuem.
In Filmen, die sich um sozialen Realismus bemühen, wird dieses Konglomerat von unglücklichen Umständen oft mit einer gewissen Ästhetik der Unerbittlichkeit präsentiert. Die britische Regisseurin Janis Pugh aber schlägt von Beginn an einen ganz anderen Ton an. Zu den träumerisch-sehnsüchtigen Klängen von Lesley Duncans „Love Song“ verfolgt die Kamera in der Eröffnungsszene den Flug einer Pusteblume. Im Hintergrund erkennt man am schmutzig-roten Backstein, spielenden Kindern und schmalen Hauseingängen eine typisch britische Arbeitersiedlung. Die Pusteblume findet schließlich ihren Weg ins Zimmer der im Bett liegenden Helen, die sich mit Kopfhörern über den Ohren ganz in die melancholische Welt der englischen 70er-Jahre-Liedermacherin Duncan eintaucht. „Love is the key we must turn“, heißt es im Song. Man wird sehen, dass das für den folgenden Film einer programmatischen Ansage gleichkommt.
In faszinierend kurzer Zeit bringt die in Nordwales geborene Pugh in dem in ihrer Heimat gedrehten Spielfilmdebüt auf den Punkt, was die Heldin im Zentrum ausmacht. Helen führt ein hartes Leben. Sie packt in Nachtschichten Geflügel ab und pflegt tagsüber die todkranke Schwiegermutter Gwen. Die beiden haben ein liebevolles Verhältnis zueinander, und das trotz der Tatsache, dass Helen zwar noch mit Gwens Sohn Gary verheiratet ist, dieser aber inzwischen mit seiner jüngeren Freundin Amy zusammen ein Kind hat. Alle fünf teilen sich in ungemütlicher Nähe den knappen Wohnraum von Gwens kleinem Häuschen.
Warum Helen in dieser doch eigentlich unhaltbaren Situation ausharrt, Seite an Seite mit dem sie vor ihren Augen betrügenden Ehemann zu wohnen, enthüllt der Film beiläufig und nach und nach. Es stellt sich heraus, dass Helen mit Gwen mehr verbindet, als nur die Schwiegermutter-Relation. In einem von Nonnen betriebenen Waisenhaus aufgewachsen, landete Helen als obdachlose Jugendliche irgendwann bei Gwen vor der Tür. Gwen nahm sie auf und wurde für Helen zu dem, was sie nie hatte: eine Mutterfigur. Wie es zur Ehe mit dem grob wirkenden Gary kommen konnte, erklärt Helen an späterer Stelle einer Freundin schulterzuckend mit „Ich war sehr jung“. Dass das nicht die ganze Wahrheit ist, lässt sich aus Helens Schilderung ihres Unglücks mit Schwangerschaften schließen: Nach vier Fehlgeburten habe sie den Kinderwunsch für immer aufgeben müssen. Es fällt nicht schwer, in Garys aggressivem Abwehrverhalten gegen Helen auch den tiefen Schmerz zu sehen, den Fehlgeburten und der innere Rückzug seiner Frau schließlich auch ihm bereitet haben.

Foto: Salzgeber
All diese Hintergrundinformationen enthüllt der Film ohne dramatisches Trommelrühren. Was Pugh gleich zu Beginn etabliert, sind die Charakterzüge, die Helen besonders machen – und die die Schauspielerin Louise Brealey mit großartiger Mischung aus Wärme und Verlorenheit hervorzukehren versteht. Helen ist eine Träumerin, die sich zu unbedeutend fühlt, um ihre Träume auch wahr zu machen. Unter ihrem Bett bewahrt sie einen Koffer auf, in den sie ihre schönsten Kleidungsstücke hineinlegt und wie für den Aufbruch in ein fernes, besseres Leben bereithält. Der Koffer steht gleichzeitig für all die Gefühle, die Helen ausfüllen, die sie aber nicht ausleben kann und glaubt, verstecken zu müssen.
Wenn sie mit dem Auto zur Arbeit fährt, kann sie das Aufgestaute auch einmal rauslassen. Neil Diamonds „I am… I Said“ singt sie mit einer Intensität nach, mit der sie sich selbst zum Weinen bringt – wohl auch, weil der Songtext fast überdeutlich ihr zentrales Anliegen ausformuliert: „Ich“ zu sagen, zum eigenen „Ich“ zu stehen und es nach außen zu behaupten.
Bevor die Tonlage des Films zu sehr ins Sentimentale abrutschen könnte, führt Pugh ein weiteres entscheidende Element ein: Helens Kolleginnen in der Geflügelverpackungshalle. Von der temperamentvollen Paula wird sie vor der Schicht solidarisch in Empfang genommen, in dem Paula die Arme hochreißt und gleich mitsingt: „I am…. I said!“. Bald kommen weitere Frauen hinzu – es ist eine rein weibliche Brigade – und gemeinsam führen sie fast eine Art Tanznummer auf, bei der das uniforme Blau ihrer Arbeitskleidung mit bunten Regenschirmen in Kontrast gerät und sich die harte Wirklichkeit für einen stimmungsvollen Moment in etwas anderes verwandelt, in ein utopisches Aufscheinen von Gemeinschaft und Lebensfreude.

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Immer wieder verwendet Pugh in „Chuck Chuck Baby“ in dieser Weise Elemente eines Jukebox-Musicals, in dem einzelne Figuren zu bereits bekannten Songs ihr Innenleben offenbaren. Aber ganz zum Musical wird der Film nie, er bleibt nah auf Helen und ihre Sehnsüchte konzentriert. Auf was der Plot hinausläuft, lässt sich dementsprechend auf Helens Gesicht ablesen, als sie von einer Arbeitskollegin erfährt, dass „Joanne“ zurück sei. Ohne dass sie es in Worte fassen müsste, wird klar, dass es sich bei Joanne um das „girl that got away“ handelt. Obwohl sie gleich nebenan aufgewachsen ist, hat Helen mit Joanne früher kaum ein Wort gewechselt. Es stellt sich heraus, dass beide schon damals heimlich ineinander verliebt waren. Joanne kann es sogar beweisen – mit einem Liebesbrief, den ihr gewalttätiger Vater seinerzeit zerrissen, den sie aber wieder zusammengeklebt und seitdem aufbewahrt hat.
Helen und Joanne müssen sich nun erst noch einmal richtig kennenlernen, um den Mut dazu zu finden, über ihre Gefühle zu sprechen, über die aktuellen genauso wie über die vergangenen. Obwohl die Tatsache, dass jede schon als Teenagerin ein Auge auf die andere hatte, die Stärke der Gefühle zu belegen scheint, stellt sich heraus, dass die Vergangenheit die Dinge auch verkompliziert: Mit den Erinnerungen rührt Joanne auch an den Vorurteilen von damals, die über sie, einem „wild girl“ im Umlauf waren. Und Helen bekommt an einer Stelle von einer Kollegin gesteckt, dass sie hinter ihrem Rücken „Handmaid“ genannt wird wegen ihrer Gefügigkeit gegenüber dem treulosen Gray. Sie nimmt es zuerst mit Verblüffung und dann tiefem Verletztsein auf. Aber wird sie, die sich so klein und machtlos hält in ihrem Leben, genug Mut finden, um auszubrechen?

Foto: Salzgeber
Zwischen Jukebox-Musical und Arbeiter:innnen-Drama gelingt Pugh mit „Chuck Chuck Baby“ etwas ganz Besonderes: Die nostalgische Songauswahl verleiht dem Drama eine bittersüße Atmosphäre, der der natürliche Charme der Popmusik mit ihrem propagierten Glauben an die Macht der Liebe etwas Optimismus einflößt. Die Kolleginnen in der Geflügelverpackung sorgen dabei für die Anbindung an die harten Klassenrealitäten. Sie repräsentieren mit ihren Körpern, ihrem Alter, ihren wenig kleidsamen Schürzen und Frisuren eine lebensnahe Normalität. Aber zugleich lässt Pugh sie mit einem Hang zu Rebellion und Humor agieren, dem etwas Musical-Utopisches innewohnt. Die Scherze können manchmal sogar bösartig sein, und das Rebellentum – man möchte späztestens nach diesen Film kein abgepacktes Geflügel mehr kaufen – selbstdestruktive Züge annehmen. Aber ihre Fähigkeit, das Richtige zu sagen und zu machen, wenn es Not tut, steht außer Frage.
Zu diesem präzisen Gespür für Drama und Genre passt auch die Art und Weise, wie Pugh damit umgeht, dass im Zentrum des Films die Liebesgeschichte zweier Frauen steht. Die klischeehafte Feierlichkeit von Coming-out-Offenbarungen lässt sie genauso weg wie die selbstzufriedene Toleranz eventueller Nebenfiguren, die es immer schon gewusst haben. Sie blendet keinesfalls aus, dass es natürlich persönliche und gesellschaftlich verankerte Homophobie war, die Joannes Vater den Liebesbrief hat verreißen lassen, die Joanne das Leben schwer gemacht und die Helen daran gehindert hat, zum eigenen Ich zu stehen. Die Liebe ihrer Protagonistinnen lässt Pugh jedoch einfach gelten, völlig für sich stehend und keiner Extraerklärung bedürftig. „Love is the key we must turn / Truth is the flame we must burn / Freedom the lesson we must learn“
Chuck Chuck Baby
von Janis Pugh
UK 2023, 102 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber
Ab 26. Dezember im Kino