Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte
Trailer • Kino
In welcher Welt lebe ich? Wer bin ich? Wie möchte ich leben? Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 stellt sich die junge Fotografin Libuše Jarcovjáková genau diese Frage und versucht mit ihren Bildern den Zwängen des repressiven tschechoslowakischen Regimes zu entkommen. Sie geht auf die Straßen von Prag, in verstaubte Kneipen, zur Nachtschicht in eine Druckerei, in die Communities der Roma und vietnamesischer Migrant:innen. Schnappschüsse von Nacktheit, Sex und Alkohol wechseln sich ab mit Bildern von Lethargie und Restriktionen. Aus einem Werk von zehntausenden Negativen und dutzenden Tagebüchern hat Klára Tasovská einen poetischen Filmessay montiert. „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ erzählt von einem besonderen Künstlerinnenleben und einer bewegenden Reise in die Freiheit, die sich über sechs Jahrzehnte spannt und von der sowjetisch „normalisierten“ ČSSR der späten 1960er und frühen 70er über das Ost-Berlin der 80er bis ins Prag nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und von heute führt. Ab heute ist der Film im Kino zu sehen. Alexandra Seitz über die tiefschürfende (Selbst-)Beobachtung einer großen Fotografin.

Foto: Libuše Jarcovjáková/Salzgeber
Die ewig Suchende
von Alexandra Seitz
Die Ausgangssituation: Im Zuge der Vorbereitungen für eine ihrem Werk gewidmete Ausstellung sichtet die Fotografin Libuše Jarcovjáková ihre Arbeiten. Es sind abertausende Bilder, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind. Was soll am Ende an den Wänden hängen? Was soll ihre spezifische ästhetische Herangehensweise belegen? Was Zeugnis ablegen von ihrem kreativen Impuls? Was ihre Identität als Künstlerin repräsentieren? Schon gerät die Frau ins Stolpern, denn: Hat sie überhaupt eine Identität als Künstlerin? Ist sie tatsächlich Künstlerin? Hat sie eigentlich eine Identität?
Der Dokumentarfilm „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ von Klára Tasovská läuft gerade erst eine Viertelstunde, da tut sich bereits der Abgrund auf: zwischen Selbstwahrnehmung und Abbild und dem, was ist – denn es ist kein Vögelchen, sondern der Teufel, der im Fotoapparat steckt. Er will einem weis machen, das aufs Fotopapier Gebannte sei die Wahrheit. Dabei ist das fotografische Abbild der Frau, die ihr Abbild im Spiegel fotografiert, kein Bild ihres Selbst.
Unermüdlich schaut Libuše Jarcovjáková in den Spiegel, unermüdlich fertigt sie Selbstporträts an, unermüdlich ist sie auf der Suche nach dem Ich und nach dem Sinn, nach dem Zusammenhang, der sich im Laufe eines Lebens zwischen beidem ergeben sollte. Idealerweise. Denn Jarcovjákovás Suche ist ebenso unermüdlich wie sie vergeblich bleibt. Warum ist es so schwierig, einen Begriff von sich zu haben? Warum ist es schwierig, man/frau selbst zu sein? Geschweige denn, sich zu akzeptieren, gar zu mögen. Möglicherweise lässt sich diese Fotografin ja nur davon irritieren, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. In jedem Fall haben wir es hier mit einer Künstler:innen(auto)biografie zu tun, deren Gegenstand zur Abwechslung einmal nicht stolz die eigenen Verdienste präsentiert und selbstgewiß bis eitel Reflexionsvermögen wie Sendungsbewußtsein ausstellt.
Die alles bestimmende Grundströmung ist vielmehr der Selbstzweifel, der immer wieder auch in eine Verzweiflung über (vielleicht nur eingebildetes) existenzielles Scheitern hinüberreicht. Zugleich ist „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ ein Fotoroman; auf ihrer Suche nach den Bildern wühlt sich Jarcovjáková durch Berge von Abzügen, fächert Panoramen auf, wählt Lebensabschnitte aus, blättert durch Kapitel ihres Werdegangs, schaut zurück, reminisziert, schätzt ein. Das heißt, eigentlich tut all dies natürlich Filmemacherin Tasovská, die Jarcovjákovás Fotoarchiv gesichtet und ihre Tagebücher gelesen hat, die ausgewählt und collagiert und montiert hat und die doch bescheiden hinter die Protagonistin zurück tritt.

Foto: Libuše Jarcovjáková/Salzgeber
Jarcovjákovás fotografische Kunst ist unmittelbar und autobiografisch: sie lichtet ab, wo sie ist und was sie sieht und was die Menschen, mit denen sie Zeit verbringt, so machen. Die spontaneistische Anmutung, die sich daraus ergibt, erinnert manche Betrachter:innen an den Content sozialer Medien; ein zwar naheliegender Gedanke, der aber völlig Mühe und Aufwand, mithin die kreative Intention verkennt, die in Jarcovjákovás Fotografien steckt und sich wesentlich unterscheidet vom teils beliebigen Auslösen der Handykamera. Es ist eine Frage der Haltung, die hier die Differenz ausmacht und die im Voiceover wieder und wieder thematisiert wird: Nicht das Anekdotische treibt die Fotografin an und ebenso wenig das besessene Dokumentieren eines oft banalen Alltags, das so manchen Instagram-Account prägt; vielmehr begreift Jarcovjáková den Bildgegenstand als über sich hinausweisend. Ihre Bilder sind welthaltig nicht nur in einem dokumentarischen Sinn. Wie in einer Zeitkapsel ist auch (historisches) Lebensgefühl in ihnen aufgehoben. Sie fotografiert an Arbeitsplätzen, in Wohnungen, bei Festen und in Spelunken, auf der Straße, am Strand und in der U-Bahn, sie fotografiert ihr erhitztes Gesicht nach dem Sex und die trunkene Visage der Partner:innen. Sie fängt den Blick eines unbeteiligt Vorübergehenden ein. Und weil sie zu Beginn der 1980er Jahre umfangreich das ekstatische Treiben der Prager LGBTIQ*-Community in der Szene-Bar T-Club dokumentiert hat, wird sie des öfteren mit der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin verglichen, die mit „Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit“ gleichfalls das Porträt einer Subkultur (New York, 1980er Jahre) geschaffen hat.

Foto: Libuše Jarcovjáková/Salzgeber
Geboren wird Libuše Jarcovjáková am 5. Mai 1952 in Prag in eine Künstler:innen-Familie. Sie beginnt früh zu fotografieren, studiert Grafik, arbeitet in einer Druckerei, bringt vietnamesischen Gastarbeiter:innen Tschechisch bei, hat Freund:innen in der Rom:nja-Gemeinschaft; schließlich beginnt sie ein Studium an der Film- und Fernsehschule der Prager Akademie der musischen Künste, das sie 1982 abschließt. Sie führt ein unstetes Leben. Mehrfach hält sie sich in Japan auf, wo sie kurzzeitig als Modefotografin reüssiert. Sie geht eine Scheinehe mit einem Bundesdeutschen ein und emigriert Mitte der Achtziger nach Westberlin. 1990 kehrt sie wieder zurück. Mal hält sie sich mit Jobs notdürftig über Wasser, mal hat sie Lehraufträge inne und ein einigermaßen komfortables Auskommen. Einfach ist es nie. Sie erlebt hautnah den Prager Frühling und den Zerfall des Ostblocks. Dem Sturm der Geschichte hält sie ihr skeptisches, fragendes, forschendes Gesicht entgegen. Dass sie gerne feiert und zu viel raucht, ist ihr anzusehen. Ebenso wie die Reibung an der Wirklichkeit, die ihre Wahrnehmung prägt. An Komfortzonen jedweder Art hat Jarcovjáková keinerlei Interesse.
Das heißt auch, dass wir als Zuschauer:innen ein ums andere Mal konfrontiert sind mit Intimität, dass wir mitten im Privaten landen und ungefragt ins Vertrauen gezogen werden – obwohl wir das vielleicht eigentlich gar nicht wollen. Womöglich reagieren wir sogar peinlich berührt und ist uns, was Jarcovjáková uns zumutet, zu eng und zu nah und zu detailliert. Allerdings würde eine Distanzierung uns den Film versemmeln. Gelegenheiten wie diese bieten sich schließlich selten genug: dass sich eine Andere, eine Fremde derart rückhaltlos offenbart und dass in dieser Offenbarung, was uns alle verbindet ersichtlich wird. Respektive spürbar. Spürbar – und schließlich nachvollziehbar – als konstante Irritation über das In-der-Welt-Sein: Das Leben vergeht, während wir lernen, wie es gehen könnte. Insofern ist „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ ein weiser Film und wir lassen diese Frau mit ihrer trügerischen Schnappschussfotografie und ihrer selbstquälerischen Nabelbeschau sehr gerne an uns heran.

Foto: Libuše Jarcovjáková/Salzgeber
Zumal zum großen Glück Regisseurin Tasovská, die den Bilderberg mit Jarcovjáková zusammen erklommen hat und mit „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ einem internationalen Publikum erschließt, auf den in dokumentarischen Formen betrüblich modisch gewordenen Animationsfirlefanz verzichtet. Weder künstliche Bildbewegungen noch dreidimensionale Effekthascherei, oder was es an dergleichen entbehrlichen Manövern der Zuschauer:innenbespaßung sonst noch geben mag, fallen einem hier auf den Wecker. Die Fotografien werden vielmehr klassisch präsentiert in Form einer Diashow – manchmal ergeben sich kurze Daumenkinofilme, die zwanglos auf die Geschichte des Laufbilds verweisen – und das in ihnen wohnende Leben – Es ist eben doch ein esoterischer Apparat! – wird vermittelt über die Tonspur: Schuhgetrappel, Gläserklirren, Rascheln und Rauschen, Knistern und Quietschen, leises Gelächter, verhaltenes Murmeln – was die Geräuschebibliothek so hergibt. Sowie die Tagebücher, aus denen Jarcovjáková gänzlich uneitel vorliest. Vieles an diesem Leben, das solcherart nachvollzogen wird, ist auch typisch für das Leben einer Frau: das ewige Vordrängen der Männer, dem das weibliche Zurückstecken korrespondiert, das Verdrängen der eigenen sexuellen Bedürfnisse, die Fallstricke und Herausforderungen der Biologie, die unermüdliche Suche nach Sicherheit, konstant beantwortet von Verunsicherung, das Enttäuscht- und Betrogen- und Marginalisiertwerden, die allzu lange vorenthaltene Anerkennung. Letzteres wenigstens hat nunmehr ein Ende.
Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte
von Klára Tasovská
CZ/SK/AT 2024, 90 Minuten, FSK 16,
tschechische OF mit deutschen UT
Ab 27. Februar im Kino