Lesvia

TrailerQueerfilmnacht

Seit den 1970er Jahren zieht es Lesben aus aller Welt auf die Insel Lesbos, zum Geburtsort der antiken griechischen Dichterin Sappho. In dem Küstendorf Eressos entstand in den folgenden Jahrzehnten eine aktive lesbische Gemeinschaft, in der Frauen endlich offen und frei leben und lieben konnten. Die Künstlerin und Regisseurin Tzeli Hadjidimitriou wurde auf Lesbos geboren und sammelte für ihren Film „Lesvia“ jahrzehntelang Material, O-Töne, Anekdoten, Reisegeschichten, Fotos, Interviews und andere Belege von Lesbos und deren Besucherinnen aus aller Welt. Unsere Autorin Manuela Kay war selbst schon auf der Insel. Für sie ist „Lesvia“ nicht nur die faszinierende Erkundung eines lesbischen Sehnsuchtsorts und seiner Gemeinschaft, sondern auch ein Geschichtsfilm über 40 Jahre lesbischer Entwicklung in Europa, der zu unserer Grundausbildung gehören sollte. Im April ist er in der Queerfilmnacht zu sehen!

Foto: Salzgeber

Heimatfilm

von Manuela Kay

Lesben kommen bekanntlich von der griechischen Insel Lesbos (im Griechischen: Lesvia). Zumindest nennen sich ihre Bewohner:innen so. Aber auch die berühmte gleichnamige sexuelle Orientierung bezieht sich auf die Insel und auf die berühmteste griechische Künstlerin Sappho. Diese lebte zwischen 630 und 612 v. Chr., stammte von Lesbos und gilt als die bedeutendste Lyrikerin der Antike. Neben dem Dichten unterrichtete Sappho auch junge Frauen in Musik, Tanz und Gesang und trat mit ihnen gemeinsam bei Festivitäten auf. Sapphos Verse richten sich teilweise in romantisch-schmachtender, mitunter auch erotischer Weise an Frauen und gelten als die erste nachgewiesene Quelle eines weiblichen homosexuellen Begehrens. Da dies bis dahin namenlos war, nannte man die Frauen, die so empfanden ­– gewissermaßen nach „der Gründerin“ – Sapphistinnen (was heute ein eher altmodischer Ausdruck ist, ebenso wie der Begriff „sapphische Liebe“ ) und, nach dem Wohnort der Sappho, Lesben. Zu bedenken ist allerdings, dass sich dies sprachlich nicht von dem Wort für die Einwohner:innen der Insel unterscheiden lässt und so zu mancherlei Verwirrung und auch Ärger führt.


Tzeli Hadjidimitriou ist praktisch doppelt lesbisch. Sie steht auf Frauen und kommt von der Insel Lesbos. Für ihren Film „Lesvia“ sammelte sie jahrzehntelang Material, O-Töne, Anekdoten, Reisegeschichten, Fotos, Interviews und andere Belege aus ihrer Heimat und von deren Besucherinnen aus aller Welt. In leidenschaftlicher und akribischer Arbeit dokumentierte sie damit ein ganz besonderes Phänomen: dass viele tausend Lesben seit den 1970er Jahren auf die für sie namensgebende Insel pilgern. In Ermanglung einer anderen „Heimat“ scheinen sich Lesben bei der Suche nach einem Urlaubsort damals ihrer ersten geschichtlichen Erwähnung erinnert zu haben und begannen, nach Lesbos zu reisen, back to the roots gewissermaßen. Es ist ein Trend, der bis heute anhält.

Die Besucherinnen konzentrieren sich dabei besonders auf das ehemalige Fischerdorf Skala Eressos (Skala Eresou). Genau dort soll sich die Dichterin einst von einem malerischen Felsen gestürzt haben. Angeblich wegen einer unglücklichen Liebe – ob zu Mann oder Frau, darüber wird seit Jahrhunderten gestritten. Somit ist der Ort nicht nur historisch bedeutsam, sondern zugleich auch herrlich morbide und Lebensdrama-tauglich.

Foto: Salzgeber

In penibel gesammelten Bildern und Erinnerungen nimmt uns Tzeli Hadjidimitriou, Jahrgang 1962, mit auf eine grandiose Zeitreise. Ihr Film erzählt die bisher so noch nie dokumentierte, über 40-jährige Geschichte einer Pilgerbewegung der besonderen Art. Die Reise lesbischer Frauen nach Lesbos, genauer gesagt in den winzigen Ort Skala Eressos, um dort frei und ohne Scham Ferien zu machen und sexuelle Abenteuer zu erleben. Sie bauten zunächst einfache Hütten und Unterstände am Strand und campierten dort wochenlang. Sie feierten, spielten, flirteten, hatten Sex. Und bewegten sich obendrein noch überwiegend nackt am Strand. Kein Wunder, dass die Einheimischen zunächst überrascht, dann schockiert und schließlich genervt waren von diesem Lesben-Paradies vor ihrer Haustür.

Die nackten Urlauberinnen kamen überwiegend aus Nordeuropa: aus Großbritannien, aus Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Italien oder den skandinavischen Ländern. Und wie es Urlaubsparadiese so an sich haben, erzeugte das ungezwungene Leben am Strand von Skala Eressos einen Sog quer durch die lesbische Community der 70er, 80er und 90er-Jahre. Immer mehr kamen, und mit ihnen natürlich auch jene, die sich sogleich dort für immer ansiedeln wollten. Jede Menge Lesbenbars und Lesbenhotels entstanden, und bis zu drei große Musik- und Partyfestivals wurden im Jahr abgehalten. Heute ist die Insel in der Ägäis geprägt von lesbischen Ex-Pats aus aller Welt und ihren mal kleinen, mal protzigen Ferienhäusern oder auch Dauerdomizilen. Das kleine Fischerdorf und die umliegende Gegend wurde sozusagen komplett von Lesben vereinnahmt. Und auch wenn der Trend etwas abgeebbt ist, so hat Skala Eressos mit seinen knapp 1.500 Einwohner:innen Mitte der 2020er Jahre noch immer mehr Lesbenbars als Berlin!

Foto: Salzgeber

Voller Humor und in liebevoll zugewandter Art, gelingt es Tzeli Hadjidimitriou in ihrem gefühlvollen Film, die Brücke zwischen den teils befremdeten ursprünglichen Einwohner:innen und den ihrerseits sehr territorialen Feriengästen und Zugezogenen zu schlagen. Aus touristischer Perspektive ist der „lesbische Fluch“ über Skala Eressos freilich auch ein wirtschaftlicher Segen für das Dorf, in dem jährliche viele tausende Urlauberinnen ihr Geld lassen.

2024 erhielt die Filmemacherin den QueerScope-Debütfilmpreis der queeren deutschen Filmfestivals. Zurecht, denn Hadjidimitriou bringt in „Lesvia“ sowohl unreflektierte Feriengäste als auch homophobe Einheimische zueinander und wird beiden Gruppen ohne jede Art der Bloßstellung gerecht. Fast nebenbei ist ihr Film auch noch wunderbar sexpositiv und bricht mit vielen bösen Klischees über Lesben. „Lesvia“ zeigt, dass Lesben sehr wohl auch anders können, als ihnen oftmals nachgesagt wird – und dass sie bzgl. sexueller Offenheit, Abenteuerlust, Gründerinnengeist und Hedonismus den Schwulen in nichts nachstehen müssen.

Foto: Salzgeber

Auch wenn die Insel Lesbos in jüngster Zeit eher durch das Camp für Geflüchtete, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen, und die dort herrschenden verheerenden Zustände in den Nachrichten war und ist, machen die Lesben dort unbeirrt weiter Urlaub. Nur wenige kümmern sich um das Schicksal derer, die im Lager vor sich hin vegetieren und auf ein Asylverfahren bzw. eine Weiterreise warten. Den Lesben von Skala Eressos stünde hier durchaus mehr Solidarität und Hilfe gut zu Gesicht; stattdessen kümmern sich viele dort eher um die streunenden Katzen und das nahe gelegene Tierheim. Doch dies ist nicht das Thema des Films. Vielmehr geht es um gewisse Konflikte zwischen den einheimischen Lesben, also den ursprünglichen Bewohner:innen der Insel, die bis dahin mit alternativen Lebensstilen oder Homosexualität nur wenig am Hut hatten, und den Lesben, die dort im einzigen Urlaubsparadies dieser Art auf der Welt ihre Spaß haben wollen, zur Not eben auch auf Kosten der Nerven der Einheimischen.

„Lesvia“ ist eine faszinierende Reise durch die letzten 40 Jahre lesbischer Entwicklung in Europa, über einen kilometerlangen Mittelmeer-Strand voller nackter Lesben und ein kleines Dorf, in dem bis heute Lesbenbars, Hotels und eine eigene Infrastruktur den Einheimischen nicht immer den nötigen Respekt entgegenbringen. Zugleich ist der Film auch ein positives, humorvolles Statement für mehr Miteinander unterschiedlicher Kulturen. Und für jüngere Queers ist es auch ein Geschichtsfilm, der eigentlich zur Grundausbildung gehören sollte.




Lesvia
von Tzeli Hadjidimitriou
GR 2024, 77 Minuten, FSK 12,
griechische OF mit deutschen UT

Im April in der Queerfilmnacht