Escape to Life (2000)
Trailer • DVD/VoD
Erika Mann und ihr Bruder Klaus – die begabten Kinder des übermächtigen „Zauberers“ Thomas Mann – waren unzertrennlich. Ihre schillernden Biografien sind Ausdruck ihrer Zeit: Sie waren Schriftsteller:innen, homosexuelle Bohemiens, Schauspieler:innen, Reisende und überzeugte Antifaschist:innen. „Escape to Life“ erzählt die dramatische Lebensgeschichte des Geschwisterpaares und versammelt dabei die ganze Spannung, Hoffnung und Tragödie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich: die liberalen 1920er Jahre, der Kampf gegen das Hitler-Regime und die Heimatlosigkeit. Andrea Weiss („Paris Was a Woman“) und Wieland Speck („Westler“) erzählen die eng verflochtenen Biografien von Klaus und Erika in gekonntem Wechsel von seltenen Archivaufnahmen, Interviews mit Zeitgenossen und Spielszenen nach Motiven von Klaus Mann. Andreas Wilink über eine faszinierende, vielschichtige Hommage an ein ungewöhnliches Geschwisterpaar, die sich jetzt in digital restaurierter Fassung neu entdecken lässt.

Foto: Salzgeber
In Unruhe
von Andreas Wilink
„Woher wir kommen und wohin wir müssen“ heißt ein Band mit frühen und nachgelassenen Schriften von Klaus Mann. Es war die entscheidende Frage für den Schriftsteller und politischen Aktivisten, der das auch literarische Erbe der Väter in sich trug – Romantik, Symbolismus, psychologischen Realismus – und doch von ihm fortstrebte. Die Synthese von Moral und Schönheit war sein Fernziel, das er während seiner 43 Lebensjahre nicht oder nur unzulänglich fand. Unstet, unterwegs, unbehaust – das Unruheprinzip als Programm.
Der Film „Escape to Life“ beginnt mit einem fahrenden Pullmanzug, der die Weiten des US-amerikanischen Kontinents durchquert und den Klaus und seine um ein Jahr ältere Schwester Erika von ihrem New Yorker Hauptquartier, dem Hotel Bedford, oder vom elterlichen Domizil im kalifornischen Pacific Palisades, Santa Monica, häufig bestiegen, um in großen oder kleinen Städten Lectures (Vorträge) zu halten, etwa über die Kindererziehung im Dritten Reich. Unterlegt sind die Bilder von Stadt und Land, Mensch und Landschaft mit den Stimmen von Vanessa und Corin Redgrave bzw. Barbara Nüsse und Ulrich Matthes, die Texte der Mann-Geschwister vortragen. Wie sie sich bühnenreif einander wie beim Pingpong die Bälle zuspielen und dabei von ihrer verlorenen Heimat München berichten. Aber auch davon, dass sie lange das Politische als Sache der Politiker von sich fern gehalten hätten – und dass dies eine Haltung sei, die Hitlers Machtübernahme mitverursacht habe.
Es klingt wie ein Hilferuf. Letztendlich war es ein vergeblicher. Zunächst aber meint „Escape to Life“ etwas anderes. Das Buch, das Klaus und Erika Mann unter diesem Titel gemeinsam geschrieben und 1939 in den USA erfolgreich publiziert haben, stellt die emigrierte deutsche Kultur und Wissenschaft (und in einem Kapitel auch im Gegensatz dazu die im Dritten Reich verbliebene Kultur) vor, um die amerikanische Öffentlichkeit ins Bild zu setzen über diese geballte Brain Power. Es geht – von Albert Einstein bis Bruno Walter – um all die, denen es, wohl oder weh, gelungen war, Europa unterm Hakenkreuz zu entkommen und in ein oft wenig heimeliges und ungewisses Exil zu gelangen. Die nackte Haut war gerettet. Und für manch eine:n kaum mehr, wenn man an Heinrich Mann denkt, den Onkel von Erika und Klaus, und dessen Frau Nelly.
Wenn man Escape to life jedoch existentiell verstehen will, als Entscheidung zum Leben, so haben Klaus und Erika sie auf unterschiedliche Weise jeweils für sich selbst nicht getroffen. Klaus Mann nahm sich im Mai 1949 in Cannes das Leben – auch deshalb, weil er die Nachkriegswelt und die dauernde Erfolglosigkeit seines Schreibens und Wirkens nicht mehr ertrug. Umso überraschter wäre er gewesen, wenn er seine Renaissance in den 1980er Jahren mit der Publikation seines Werks, auch der Briefe und Tagebücher, erlebt hätte, die bis heute andauert, da etwa vielerorts die Dramatisierung seines Romans „Mephisto“ (1936) an den Theatern läuft. Erika, „der schwierige Mensch“ (so ihre jüngste Schwester Elisabeth), ist 1969 verbittert, vereinsamt und abhängig von Medikamenten sowie anderen Rauschmitteln, im letzten Heim von Katia und Thomas Mann, der Villa in Kilchberg oberhalb von Zürich, gestorben. Tödliche Spätfolgen, nicht nur, doch auch der Entwurzelung und Verlusterfahrung von Heimat, Sprache, Publikum, Gewissheiten.
Die Manns sind so etwas wie die deutschen Windsors, ins Bürgerlich-Literarische gewendet. Monarchie-Ersatz. Dass sie serientauglich sind, hat Heinrich Breloer mit seinem TV-Dreiteiler bewiesen, wodurch das Bild von Thomas Mann mit dem seines Darstellers Armin Mueller-Stahl verschmilzt. Breloer hatte, zusammen mit Horst Königstein, bereits weit davor, 1983, in „Treffpunkt im Unendlichen“ Klaus Manns Lebensreise filmisch nacherzählt und darin Zeitzeugen befragt, deren Erinnerungen von herzrührender, tieftrauriger und kluger Wahrhaftigkeit sind. Dieser Methode folgten im Jahr 2000 auch Andrea Weiss und Wieland Speck.

Foto: Salzgeber
Eingewoben in die biografische Collage und Recherche sind neben Spielszenen (u.a. mit Cora Frost, Maren Kroymann, Christoph Eichhorn) und Interviews eine Fülle an historischem Bildmaterial, die den Werdegang von Erika und Klaus begleiten, erhellen, einordnen, vitalisieren. Wir hören Elisabeth Mann-Borgese, die von der „freien Kindheit“ und künstlerischen Fantasie und Energie der ältesten Geschwister erzählt; sehen das stattliche großbürgerliche Haus auf der Poschinger Straße in München. Fotoalben blättern sich auf, die sensitive Porträts von Klaus zeigen. Schon früh will der Junge das sein und werden, was der Vater und Literaturnobelpreisträger – unerreichbar – ist: Schriftsteller. Für die Schule hatte der frühreife Knabe wenig übrig.
Nach Klaus’ Aufenthalt in der Odenwaldschule, wo die Zöglinge gemäß der Grundsätze der freigeistigen, körperertüchtigenden und „erotisch offenen“ Reformbewegung lebten, deren proklamierte Freiheiten heute freilich in einem ganz anderen Licht erscheinen, beginnt für die Geschwister das Abenteuer Berlin: das Babylon des „verdorbenen“ Nachtlebens, der George-Grosz- und „Cabaret“-Atmosphäre und ihrer beruflichen Anfänge als Journalist bzw. als Schauspiel-Elevin an den Bühnen von Max Reinhardt. Klaus schreibt sein Stück „Anja und Esther“ über ein Quartett morbider Figuren, in dem die Geschwister selbst auftreten – zusammen mit Pamela Wedekind und Gustaf Gründgens, der bald darauf für eine kurze Weile Erikas Ehemann, also Thomas Manns Schwiegersohn und Klaus Manns Schwager wird. Von daher rührt auch das Gefühl des Verrats, der Stachel der Eifersucht, der ablehnenden Bewunderung, des Hassneides, der in Klaus Manns kritisch-satirischer Abrechnung „Mephisto“ – Untertitel: „Roman einer Karriere“ – münden sollte. István Szabós gleichnamige, Oscar-gekürte, kolportagehafte Verfilmung (1981) mit Klaus-Maria Brandauer als „Mephisto“ Hendrik Höfgen gibt mit einem kurzen Ausschnitt einen Eindruck.

Foto: Salzgeber
1927 brechen Erika und Klaus zur Weltreise auf und schlagen mit dem Buch „Rundherum“ Publicity und Kapital daraus. Wenige Jahre später hat das Abenteuer ein anderes Gesicht: 1938 werden sie vom Spanischen Bürgerkrieg berichten, in dem die Franco-Faschisten die Republik auch mit Hilfe der deutschen Luftwaffe vernichten.
Die dramaturgische Technik von „Escape to Life“ montiert Skizzen und Episoden aus unterschiedlichen Quellen. Hier Erika in einer Szene von Leontine Sagans Films „Mädchen in Uniform“ von 1931; dort eine Spielszene, die Klaus’ Romandebüt „Der fromme Tanz“ (1926) umkreist. Dann wieder schildert etwa die Fotografin Marianne Breslauer die Beziehung der Beiden zu der unglücklichen Schweizer Freundin Annemarie Schwarzenbach. In diese jugendtolle Lebensphase fällt der Kontakt mit Drogen, von den Klaus Mann nie mehr lassen wird. Und der Tod wirft seinen Schatten auf sie: Ihr Kinderfreund Ricki Hallgarten bringt sich um, der französische Dichter René Crevel folgt. Es bleiben nicht die Einzigen, und sie verstärken in Klaus das, was er seinen „Todestrieb“ nennt, die Verzweiflungsschübe, das Eintauchen in den Morphin-Schlaf.
Dann der Einschnitt des 30. Januar 1933 und als Folge das Exil, das von Klaus Mann in seinem Roman „Der Vulkan“ (1939) als Kaleidoskop von Paris bis Shanghai entworfen werden wird. Zu der Zeit leitet, organisiert, spielt, singt, textet Erika bereits in München ihr literarisch-politisches Kabarett „Die Pfeffermühle“, die dann nach Zürich ins Hotel Hirschen umzieht; Tourneen und Stationen in sieben Ländern erreichen über 1000 Vorstellungen bis 1937. Eine, die mit dabei ist: die große (Brecht-)Schauspielerin Therese Giehse, mit der Erika eine lang anhaltende Beziehung führen wird. „Wir waren indirekt, wir haben nie einen Namen genannt, aber völlig eindeutig für unser Publikum“, so Erika über ihre Programmatik. Um einen Pass zu bekommen, heiratet sie auf dem Papier den englischen Poeten Wystan Hugh Auden.

Foto: Salzgeber
Klaus Mann wiederum etabliert mit Hilfe von Fritz Landshoff in Amsterdam unter dem Dach des Querido Verlags die Zeitschrift „Die Sammlung“, die nicht nur der ausgebürgerten deutschen Literatur ein Forum bietet. Dies führt zunächst zum Konflikt mit dem Vater, der aus Rücksicht auf seine deutsche Leserschaft den totalen Bruch mit Deutschland scheut. Besonders aufgrund Erikas leidenschaftlicher Unerbittlichkeit gegen die Nazis denkt Thomas Mann um. Öffentlich positioniert er sich gegen das verbrecherische Regime, das ihm sein Deutschtum abgesprochen hatte. Die großen Kinder waren hellsichtiger als er, aber der Autor der Höllenfahrt des „Doktor Faustus“ (1947) wurde dann noch der beherrschende Repräsentant des anderen Deutschlands.
Erika, die seit 1936 in den USA und England lebt, publizistisch tätig ist und nach dem Krieg von den Nürnberger Prozessen berichtet, wird mit den Jahren zunehmend Ratgeberin, Betreuerin und „Managerin“ (Elisabeth) des alternden Vaters, der 1955 stirbt. Und sie entfernt sich wohl auch von ihrem Bruder. Klaus, der in den USA ebenfalls das Projekt einer Zeitschrift, „Decision“, versucht hatte und damit scheitert, tritt in die Army ein, nachdem er den vom FBI genährten Verdacht, er sei Kommunist und homosexuell, auszuräumen verstand. Die Einordnung ins Kollektiv tut ihm gut. In Uniform kommt er 1945 ins besiegte, moralisch desavouierte Ruinen-Deutschland zurück, auch nach München und sieht sein Elternhaus wieder, das als „Lebensborn“ benutzt worden war. Pläne misslingen. Desillusioniert, empfindet er das Leben mehr und mehr als unerträgliche Bürde und legt mehrmals Hand an sich, bis die „Flucht“ gelingt. Irre geworden an den Menschen und fremd geworden in der Welt – beide.
Escape to Life
von Wieland Speck & Andrea Weiss
DE/UK 2000, 84 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT
Als DVD und VoD