Ich kann nicht schlafen (1993)

DVD

Hochsommer in Paris. Im 18. Arrondissement, zwischen Montmartre und Pigalle, kreuzen sich in den Tagen und Nächten die Wege dreier Menschen: Théo, dessen Familie aus Martinique kommt, schlägt sich als Handwerker durch. Sein jüngerer Bruder Camille ist der Star der Nacht in einer schwulen Bar. Und die junge Litauerin Daiga hat die ganze Strecke aus Vilnius mit dem Auto zurückgelegt, weil ein Theaterregisseur ihr falsche Hoffnungen gemacht hat. Im Netz der Stadt verfangen sich die Sehnsüchte der drei Außenseiter. Doch unter ihnen ist ein Mörder. „Ich kann nicht schlafen“, der dritte Spielfilm von Claire Denis („Beau Travail“, „Trouble Every Day“) aus dem Jahr 1993, ist ein Klassiker des queeren Kinos aus Frankreich: ein sinnliches Meisterwerk, in dem die einzelnen Geschichten die Erotik flüchtiger Fremdheit und die Sehnsucht nach einem anderen Leben umkreisen, ohne jemals die erzählerische Leichtigkeit zu verlieren. Eine Liebeserklärung von Jan Künemund.

Foto: Salzgeber

Ein Film für die Nacht

von Jan Künemund

Es ist eine Herausforderung, einen Text über seinen Lieblingsfilm zu schreiben. Oder, frei nach Manfred Salzgeber, „eines der schwierigsten von den schönen Dingen des Daseins“. Ich fange mal tautologisch an: Als ich eines Nachts Mitte der 1990er zum ersten Mal „Ich kann nicht schlafen“ von Claire Denis gesehen habe, konnte ich danach nicht schlafen. Woran das genau lag, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren – dem Film ist alles fremd, was auf eine Überwältigung, eine emotionale Manipulation des Zuschauers abzielt. Die großen Gefühle sind da, viele Figuren, die nicht ohne einander und nicht miteinander leben können, Liebe, Trennungen, sogar ein Serienkiller geht um. Doch das ist nur angedeutet, aufgehoben in Stimmungen und Atmosphären, in Songs, Tänzen, der Art und Weise, wie jemand eine Jacke anzieht, in den Blicken, mit denen die Außenseiter dieses Films begafft werden.

1993, im Jahr von Robert Altmans „Short Cuts“, erzählt der Film parallel die Tage und Nächte dreier Immigranten in Paris, die sich direkt und indirekt im 18. Arrondissement über den Weg laufen. Da ist eine junge Litauerin, die am Anfang mit ihrem alten Sowjet-Auto in die aufwachende Stadt hineinfährt und am Ende des Films aus der sich schlafen legenden wieder hinaus. Ihr Paris-Abenteuer beruht auf einem falschen Versprechen – sie ist der klassische Festivalflirt eines Theaterregisseurs, der unerwartet und ungewollt plötzlich zu Hause auf der Matte steht. Da der Theaterhimmel bleibt, wo er ist, kommt sie schließlich als Zimmermädchen im Hotel einer Bekannten ihrer Tante unter – aufgefangen vom noch halbwegs intakten Netzwerk der slawischen Immigrantengemeinschaft.

Foto: Salzgeber

Eines Nachts bemerkt sie in einem Café eine schöne rauchende Frau. Das ist Beatrice Dalle, die die Freundin eines Mannes aus Martinique spielt. Dieser Mann, Théo, ist Musiker und lässt sich als „schwarz“ arbeitender Handwerker ausbeuten. Paris hat für ihn jeglichen Glanz verloren – in Momenten der Ruhe setzt er sich auf das Dach des Hochhauses, in dem er lebt, und sieht sich das 18. Arrondissement aus distanzierter Höhe an. Er will zurück in eine nur imaginierte Heimat – seine Familie lebt schon seit Generationen nicht mehr dort, aber Théo glaubt, dass das Leben auf Martinique besser ist als das hier.

Unverständlich für Camille, die rätselhafteste und spannendste Figur in „Ich kann nicht schlafen“. Camille ist Théos Bruder, aber er hat das Leben in Paris vollkommen adaptiert. Soweit man es als schwarzer Immigrant tun kann. Seinen aufwendigen Lebensstil kann er mit Drag-Performances allein nicht bestreiten. Also spielt sich das, was er dafür macht, nicht im warmen Dunkeln der Pariser Nächte ab, sondern im kalten Tageslicht der großstädtischen Anonymität.

Camille wird gespielt von Richard Courcet. Kein professioneller Schauspieler. Nach einigen weiteren Auftritten in Claire Denis’ Filmen und einer weiteren Hauptrolle („Black Dju“, 1997) war’s das wohl auch mit seiner Schauspielkarriere. Ein schöner junger Mann von der Straße, mit kurzen Dreadlocks und heller Stimme, vom Sozialarbeiter aufs Filmset geschickt, um einen schwarzen homosexuellen Transvestiten zu spielen, der mit Drogen dealt und alte Frauen umbringt. Nach historischem Vorbild: Der Fall des Thierry Paulin, Serienkiller, Eartha-Kitt-Impersonator, schwul, HIV-positiv, gestorben, bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, beschäftigt die französische Skandalpresse bis heute.

Foto: Salzgeber

Camille im Film ist laut Selbstaussage „ein ganz normaler Typ“. Der Lieblingssohn seiner Mutter, ein stylishes Wesen in hippen Anzügen, Fotomodell einer Mapplethorpe-Epigonin, ein Nachtmensch in den Clubs, der schöne Junge beim Abendessen mit reichen Künstlern und Ärzten, ein Drag-Performer in kalten Bars, ein Liebhaber und fremder Bruder. Seine Morde begeht er nüchtern, brutal. Er braucht eben Geld – für Klamotten. Redet seine Mutter verzweifelt vom „Teufel“, den sie geboren hat, weist er auf seine teuren Anzüge hin, die sie nun haben könne. In einem Club trägt er eine schwarze Kappe mit Hörnern, die gab es Mitte der 1990er, ich glaube sie war von Jean-Paul Gaultier.

Aber Camille ist auch ein Objekt der Begierde. Er wird angegafft, von Daiga, vom schwulen Publikum im Club, von den Polizisten auf der Straße. Eine Fotografin sagt zu ihm: „Dich bringe ich nur nackt unter.“ In seinem Hotelzimmer hängen die Aktbilder von ihm. Auf einem Steckbrief der Polizei sein Konterfei. Es ist der Blick auf ihn, der klar ist – er selbst, sein Körper, seine Psyche, bleiben fremd und unerklärlich.

Wo Psychologie fehlt, zählen die Stimmungen. Das ist in „Ich kann nicht schlafen“ ganz präzise inszeniert – man hat eine genaue Orientierung im Tages- und Nachtrhythmus (es sind im Ganzen sechs aufeinander folgende Tage, mit den beiden Nächten davor und danach), jeder Figur ist eine Farbe zugeordnet (Camille blau, Théo rot), die Menschen hängen im Netz ungelöster Situationen, aus denen die ganze Stadt zu bestehen scheint. Gruppen von Einwanderern teilen sich eine Wohnung, alte Frauen sterben unbemerkt, da sich niemand um sie kümmert, Fremdenfeindlichkeit ist überall präsent, Frauen werden auf den Straßen und Theaterbühnen von Männern belästigt, rätselhafte Geräusche dringen aus den Wohnungen der so proper wirkenden Nachbarn, man reicht sich einen Zuckerstreuer und stellt später fest, dass man die Hand eines Mörders gestreift hat… Das Ganze ist ein Sound, eine Atmosphäre, ein Netz aus Zeichen im ständigen erregenden Austausch, aus Oberflächen, hinter denen wer weiß was lauert.

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Auf ihre Erinnerungen an die Dreharbeiten angesprochen, antwortet Claire Denis mit dem Hinweis auf die besondere Schwierigkeit, in Paris zu drehen: „Der Film gliederte sich in die Stadt ein, ohne Bewusstsein für das Dekorative, für die schönen Aussichten und typischen Paris-Bilder. Ich hatte Angst, von der Stadt vereinnahmt zu werden, von dem, was sie laufend als Bild ihrer selbst produziert. Ich hatte Angst, die physischen, die Sinnes-Eindrücke zu verpassen, um die es mir ging. Ich komme nicht aus Paris. Paris ist für mich keine Schachtel mit Erinnerungen. Mich lässt diese Stadt kalt, ich fühle mich fremd, sobald ich sie betrete.“

Die eingefangenen physischen Eindrücke der Stadt erzeugen eine aufgekratzte und eigene Atmosphäre des Erotischen in diesem Film. Körper, die aneinander vorbeigleiten, Blicke, die einander kreuzen, flüchtige Aufregungen und Ablenkungen, Jagdgründe und Crusing-Areale („Ich komme ein Stück mit“, sagt Théo zu Camille).

Erotisch sind die Filme von Claire Denis immer, weil sie an den Körpern hängen und mitgehen. Zum einzigen Mal bislang zeigt sie hier dezidiert schwule Erotik – obwohl sie auch einen der schönsten Filme über einen pubertierenden Jungen („Nénette und Boni“) und den vielleicht schärfsten Film über eine Männergruppe („Beau Travail“) gedreht hat. Das Schwulsein in „Ich kann nicht schlafen“ hat eine metaphorische Ebene (es passt zur urbanen Fremdheit, zur Außenseiterstudie, zum Thema der „gelösten Verbindungen“ zu Heimat, Kultur, Familie) – aber auch eine konkrete, körperliche. Es erzählt den ausgestellten männlichen Körper, schutzlos und gewalttätig zugleich, objekthaft und narzisstisch mit sich selbst beschäftigt, begehrt und fremd.

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Man könnte versuchen, das Kino von Claire Denis auf den Punkt zu bringen, indem man die Tanz-Szenen aus ihren Filmen nacherzählt. Genauso wie es z.B. die Essens-Szenen bei Hitchcock und die Gesangs-Szenen bei Weerasethakul sind, in denen sich die Poesie ihres Werks in einzelnen Momenten verdichtet. Berühmt ist der Tanz des Fremdenlegionärs zu „The Rhythm of the Night“ in „Beau Travail“, der explodierende Denis Lavant in einer mit Spiegeln verkleideten Disco-Höhle. Oder die sich vor dem Regen in Sicherheit bringende Gruppe ineinander verliebter oder eben nicht verliebter Nachbarn in „35 Rum“, die im Tanz zum Commodores-Hit „Night Shift“ zerfließen. Körper, die sich einem Song hingeben.

In „Ich kann nicht schlafen“ gibt es vier Tanz-Szenen. Zwei Frauen tanzen miteinander zu „A Whiter Shade of Pale“ von Procol Harum. Die eine, Ninon, ist alt, hat das Leben schon hinter sich und erinnert sich durch die Musik an ihre wilde Zeit. Die andere, Daiga, ist jung, sie kennt das Lied gar nicht, sie hat noch alles vor sich. Beide Frauen sind betrunken und nehmen sich eine Auszeit vom Flirt mit den Männern. Währenddessen, nebenan, zu den gleichen Klängen der Musik, trennt sich das Männerpaar Camille und Raphael.

Der Geburtstag von Camilles und Théos Mutter. Mit Ausnahme von Camilles Liebhaber sind alle Gäste schwarz, eine afrokaribische Diaspora. Zum Song „African Music“ („Rhythm avec Coca“) tanzt die Mutter mit ihren beiden Söhnen, von denen einer von einer Rückkehr zu seinen karibischen Wurzeln träumt, der andere längst in der westlichen Metropole angekommen ist. Was sie trennt, ist fundamental. Die Mutter tanzt mit beiden und es entsteht die Illusion einer zusammen haltenden Familie, buchstäblich.

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Théo steht mit der Gruppe Kali auf der Bühne. Sie spielen das Lied „Raçines“ („Wurzeln“). Im Club sind vor allem Immigranten, die miteinander die Sehnsucht nach der Heimat tanzen. Théo spielt ein Geigensolo und schließt die Augen. Er dreht sich leicht von der Kamera weg, er vergisst die Blicke, die auf ihm liegen (die einer schönen Frau zum Beispiel – oder die seines ihm fremden Bruders). Das Lied ist unendlich traurig.

Camilles Auftritt im Gay Club. Er bewegt synchron, aber ohne einen Anflug von Imitation, die Lippen zu Jean-Louis Murats Song „Le lien defait“ („Die gelöste Verbindung“). Die Augen unzähliger Männer sind auf ihn gerichtet, auf ihn, halbnackt, in einem schwarzen Kleid, leicht geschminkt, mit langen schwarzen Handschuhen. Die Männer sitzen teilweise hinter Gittern über ihm, sind an Wände gelehnt, an denen er vorbei muss, es gibt keine Distanz. Camille schließt die Augen. Er verkörpert keine Drag Queen, er tanzt für sich. Seine Arme vollführen Gesten, die halb so aussehen, als ob sie etwas darstellen, und halb so, als würden sie den Körper schützen. Bei einer dieser Gesten verrutscht das Kleid und gibt den Blicken auf eine männliche, gleichwohl verletzliche Brust frei. („Ich habe mich der Sequenz wie einer Sexszene angenähert“, erklärt Claire Denis.)

Was die Körper im Tanz erzählen, ist im Gesagten der Dialoge nicht widergespiegelt. Auch die Texte der Songs erhalten nur getanzt Bedeutung. „Ich kann nicht schlafen“ ist ein Film für die Nacht. Man muss nicht mit wachem Verstand der Geschichte folgen. Man braucht nur etwas Reizbarkeit.




Ich kann nicht schlafen
von Claire Denis
FR 1993, 106 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT

Als DVD