Jonathan Agassi Saved My Life

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Yonatan aus Tel Aviv war einst einer der bekanntesten Pornodarsteller der Welt: Unter dem Künstlernamen Jonathan Agassi war er Star Dutzender schwuler Hardcore-Filme, er trat in Live-Sex-Shows auf und arbeitete als Escort. Der israelische Regisseur Tomer Heymann („Paper Dolls“) hat Agassi über einen Zeitraum von acht Jahren mit der Kamera begleitet, zu Pornosets, Familientreffen und zum berüchtigten HustlaBall. Sein Film, der im Januar in der queerfilmnacht auf der großen Leinwand zu sehen ist, bietet nicht nur einen ungewohnt tiefen Einblick in die Welt schwuler Pornos und Escorts, sondern ist auch ein berührend aufrichtiger Film über einen getriebenen jungen Mann, der mit seiner Vergangenheit und der komplexen Beziehungen zu seiner Mutter und seinem Vater ringt. Rajko Burchardt über ein abgründiges Porträt.

Foto: Edition Salzgeber

Subjekt, Prädikat, Objekt

von Rajko Burchardt

Jonathan Agassi läuft zugedröhnt durch die Straßen von Berlin Prenzlauer Berg. Er legt sich auf die Motorhaube eines parkenden Autos, strampelt mit den Füßen und verliert kurzzeitig das Bewusstsein. In seiner Wohnung angekommen, zieht es den muskulösen, von Tätowierungen übersäten Mann zu Boden. Er windet sich, stößt mal schmerzverzerrt und mal amüsiert klingende Laute aus, dann schläft er beinahe friedlich ein. Es ist eine unwirklich anmutende, rundum irritierende, höchst ambivalente Szene – ein Hilfeschrei möglicherweise, dessen Verzweiflung beinah wie eine Performance wirkt.

Jonathan Agassi ist der Künstlername des ehemaligen Pornostars Yonatan Langer. Zwischen 2009 und 2014 drehte er mehr als 30 Hardcore-Produktionen. Nach seinem Durchbruch in dem komplett mit israelischen Darstellern besetzten „Men of Israel“ avancierte der Nahe Tel Aviv aufgewachsene Agassi zum international bekannten Objekt schwuler Begierde. Das US-amerikanische Pornostudio Lucas Entertainment (hilfreicher Hinweis der englischsprachigen Wikipedia: „not to be confused with Lucasfilm“) nahm ihn exklusiv unter Vertrag und warb mit seinem muskulösen Körper auf DVDs, Katalogen und Magazin-Covern. Innerhalb kürzester Zeit, heißt es im Film, habe jeder Konsument schwuler Pornos das Gesicht von Jonathan Agassi gekannt. Und selbstverständlich mehr als nur das.

Regisseur Tomer Heymann, dessen Dokumentarfilm „Paper Dolls“ auf der Berlinale 2006 mit einem Teddy-Award ausgezeichnet wurde, begleitete den Star über mehrere Jahre hinweg durch Höhe- und Tiefpunkte seiner Karriere. „Jonathan Agassi Saved My Life“ verknüpft berufliche und private Einblicke in den Alltag des Protagonisten zu einem intimen und manchmal fast unangenehm offenherzigen Porträt, das vor allem aufgrund seiner Kontrastverschiebungen Sogwirkung entfaltet.

Zu Beginn sehen wir Agassi bei den Vorbereitungen zu einer Live-Pornoshow. Er bringt seinen Schwanz in Form, der für diese Nacht wieder sein Arbeitsmittel ist, und hat vor Hunderten Zuschauern Sex auf der Bühne des Clubs. Nur wenige Schnitte trennen diesen Moment von einem Skype-Gespräch zwischen Yonatan und seiner in Tel Aviv lebenden Mutter, der er über Webcam offenherzig neue Fetischklamotten präsentiert. Lieber wäre es ihr allerdings, sagt die Mutter, wenn Yonatan sich einen neuen Mantel kaufen würde.

Foto: Edition Salzgeber

Die Beziehung zu ihr ist ein Dreh- und Angelpunkt des Films. Stolz teilt der Hardcore-Star nahezu jeden Erfolg mit ihr („Mama, ich bin der beste Pornodarsteller der Welt“, heißt es in einer SMS, die er unmittelbar nach dem Gewinn des HustlaBall-Awards aus dem Berliner KitKatClub sendet), und jeder dieser Erfolge wiederum erfüllt auch die Mutter sichtlich mit Stolz. Vorbehalte oder Berührungsängste scheint es nur sehr wenige zu geben, obwohl Yonatans Einkommensquellen und die Voraussetzungen seines Ruhmes der Familie einiges abverlangen. Sogar zu einem Filmdreh nach Griechenland begleitet die Mutter ihren Sohn – während er am Strand mit Männern flirtet, gönnt sie sich ein ruhiges Sonnenbad.

Familiäre Reibungspunkte gibt es dennoch. Fällt das Gesprächsthema auf seinen Vater, der die Familie vor Jahrzehnten verließ und ebenfalls in Berlin lebt, macht Yonatan dicht. Inmitten des Interviews sackt er zusammen, als breche schon mit der bloßen Erwähnung seines Vaters unbändige Erschöpfung und Müdigkeit über ihn herein. Als es gegen Ende des Films zu einem niederschmetternden Zusammentreffen kommt, bei dem sich das Bild des homophoben und verantwortungslosen Vaters bestätigt, verliert Yonatan sich in tagelangen Drogenzuständen. Unbeholfen versucht er seinen Dauerrausch vor der Mutter geheim zu halten, nicht mal einen Videoanruf scheint Yonatan nüchtern zu überstehen. Die Kamera nimmt dazu ein komplizenhaftes Verhältnis ein. Schonungslos hält sie den Konsum von Crystal Meth, Liquid Ecstasy und Kokain fest.

Foto: Edition Salzgeber

Manche Abschnitte des Films, in denen der körperliche zum seelischen Striptease gerinnt, kann man vielleicht ein wenig erzwungen finden (die Aufnahmen der einsam Spiegeleier brutzelnden Mutter zum Beispiel). Ergiebiger als beim Aufspüren und Bebildern psychologischer Risse innerhalb der Familienbiographie ist „Jonathan Agassi Saved My Life“ dort, wo sich Tomer Heymann der subjektiven Erfahrungswirklichkeit seiner gleichermaßen destruktiven wie reflektierten Figur annähert. Aufschlussreich sinniert Yonatan zwischen Fotoshootings in Berliner Altbauwohnungen und ohrenbetäubenden Szene-Events über die Arbeit als leibhaftiges Sexsymbol, den hohen Leistungsdruck in der Branche und Dreharbeiten, bei denen er sich bedrängt und unwohl fühlte.

Spricht er von seiner Tätigkeit als Escort, der Fan-Fantasien scheinbar Wirklichkeit werden lässt, kommen Yonatans ungestillte Bedürfnisse zum Vorschein, besonders eine Sehnsucht nach bedingungsloser Zuneigung. Es fällt ihm schwer, diesen Wunsch mit Jobs zu vereinbaren, bei denen sein öffentlich gemachter und regelmäßig zur Verfügung gestellter Körper freilich die Bedingung schlechthin ist. „Wenn jemand mit Jonathan Agassi ins Bett geht, will er einen Gott, er will nicht enttäuscht werden“, sagt Yonatan in der Überzeugung, gleich doppelt abliefern zu müssen: als Star zum Anfassen, der vor Kunden einen bestimmten Ruf zu wahren habe, und als hochpotenter Muskelmann. Ohne Viagra und SKAT, der Schwellkörper-Autoinjektionstherapie für anhaltende Erektionen, ist diese Illusion nicht aufrechtzuerhalten.

Foto: Edition Salzgeber

Ob in den Penis eingeführte Spritzen oder knallharte Drogenabstürze – das Drehteam von Tomer Heymann ist stets dabei. Ein distanzierterer, sich in Abblenden flüchtender Film über das Pornostarleben wäre auch unehrlich gewesen, zumal „Jonathan Agassi Saved My Life“ den Kontext seiner Entstehung gerade in jenen Momenten sichtbar macht, die von Selbstbekenntnis und Selbsttäuschung erzählen. So greift Regisseur Heymann wiederholt ins Geschehen ein, vergewissert sich, ob es Yonatan gut geht, und lässt zugleich das offensichtliche Spiel des Protagonisten mit der Kamera zu. „Jonathan Agassi übernimmt, wenn ich Hilfe brauche“, gesteht dieser am Anfang des Films. Heute hat Yonatan mit der Pornoindustrie nichts mehr zu tun. Er ist zu seiner Mutter nach Tel Aviv zurückgekehrt und arbeitet in einem Supermarkt.




Jonathan Agassi Saved My Life
von Tomer Heyman
IL/DE 2019, 106 Minuten, FSK 16,
hebräisch-englisch-deutsche OF, teilweise mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD (OmU): € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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