Infam

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Die Freundinnen Karen und Martha leiten gemeinsam ein Mädcheninternat. Als sie eine aufsässige Schülerin zurechtweisen, nutzt das Mädchen einen heimlich beobachteten Moment, um seine Lehrerinnen zu verleumden. Bald kreisen Gerüchte um die Schule, die weitreichende, tragische Konsequenzen für die beiden Frauen haben. Der dreifache Oscar-Preisträger William Wyler setzt in seiner Theaterstück-Verfilmung „Infam“ die Hollywood-Superstars Audrey Hepburn und Shirley MacLaine in Szene – und erzählt auf sensible Weise von unterdrückter Liebe. Unsere Autorin Anja Kümmel hat sich den Filmklassiker des lesbischen Kinos, der erstmals auf Blu-ray erscheint, angesehen – und eine erstaunliche Öffnung des Raums für die Möglichkeiten queeren Begehrens entdeckt.

Foto: Studiocanal

Ein Körnchen Wahrheit

von Anja Kümmel

Auf den ersten Blick ist „Infam“ einfach ein gut gemachtes, psychologisch tiefgründiges Drama mit maximalem Staraufgebot: Regie führte William Wyler, der mit Filmen wie „Die besten Jahre unseres Lebens“ (1946) oder „Ben Hur“ (1959) bereits Weltruhm erlangt hatte; vor der Kamera standen Audrey Hepburn, Shirley MacLaine und James Garner im Zenit ihrer Schönheit und ihrer Hollywood-Karrieren. Schaut man etwas genauer hin, verbirgt sich zwischen den Zeilen – erstaunlich wenig codiert, wenn auch das Wort „lesbisch“ oder „homosexuell“ nie ausgesprochen wird – die berührende Geschichte eines lesbischen Coming-Outs. Und auf den dritten Blick, taucht man in die Produktionsgeschichte des Films ein, stecken in „Infam“ gar 150 Jahre Sozial- und Kulturgeschichte hinsichtlich des Umgangs mit lesbischem Begehren.

Die Story rund um zwei junge Lehrerinnen, die von einer böswilligen Schülerin bezichtigt werden, eine Liebesbeziehung miteinander zu führen, basiert auf dem Theaterstück „The Children’s Hour“ von Lillian Hellman aus dem Jahr 1934. Hellman wiederum hatte sich inspirieren lassen durch die wahre Geschichte zweier schottischer Lehrerinnen, denen im Jahr 1809 eine lesbische Affäre nachgesagt wurde. Obwohl die beiden Frauen den Prozess wegen Verleumdung gewannen, war ihr Leben danach zerstört.

Als Hellmans Stück 1934 am Broadway uraufgeführt wurde, wäre es um ein Haar ebenfalls zum Prozess gekommen – denn jegliche Erwähnung von Homosexualität war in jener Zeit auf New Yorker Bühnen verboten. Allein der unerwartete Erfolg der Produktion sorgte dafür, dass sein queerer Gehalt geflissentlich übersehen bzw. geduldet wurde. Auf einen solch erfolgreichen Stoff hätten sich die Filmstudios normalerweise gestürzt – doch der berühmt-berüchtigte Hays Code sorgte auch in der Filmwelt für Zurückhaltung. Zumal der von Will Hays zusammengestellte Production Code, der „moralisch akzeptable“ Darstellungen von Sexualität, politischen Inhalten und Kriminalität auf der Leinwand garantieren sollte, im Zuge der zunehmenden Popularität des Tonfilms gerade massiv verschärft worden war.

Die erste, wenig bekannte Verfilmung von „The Children’s Hour“, bei der ebenfalls William Wyler Regie führte, nahm deshalb einige heute abstrus anmutende Änderungen am Originalplot vor: Flugs wurde aus dem Gerücht der lesbischen Affäre die Anschuldigung, eine der Frauen hätte mit dem Verlobten der anderen geschlafen (merke: Betrug ist weitaus weniger schlimm als eine einvernehmliche lesbische Beziehung!); unter diesen veränderten Vorzeichen kam der Film 1936 mit dem Titel „Infame Lügen“ („These Three“) in die Kinos.

Foto: Studiocanal

Erst 25 Jahre später, als die Zensurbestimmungen sich gelockert hatten und der Hays Code nur noch pro forma existierte, traute sich Wyler, den Stoff noch einmal zu verfilmen, diesmal mehr oder weniger originalgetreu. Das bittere Zugeständnis an den Moralkodex der Zeit: Nach wie vor muss Martha, die sich im Laufe der Geschichte als lesbisch outet, am Ende des Films sterben. An anderen Stellen wiederum zeigt sich der Film erstaunlich einfühlsam und vielschichtig im Hinblick auf queeres Begehren, weshalb „Infam“ heute als wichtiger Meilenstein des schwul-lesbischen Kinos gilt.

Wir schreiben das Jahr 1961, irgendwo in der US-amerikanischen Provinz: Die Jugendfreundinnen Karen und Martha leiten gemeinsam ein Mädcheninternat, das sich allmählich zu rentieren beginnt. Mit ihnen unter einem Dach lebt – neben etwa 20 Schülerinnen – auch Marthas Tante, eine narzisstische, einfältige Ex-Schauspielerin. Karen ist mit Joe verlobt, einem jungen Assistenzarzt am örtlichen Krankenhaus. Zwar sieht Martha der Heirat ihrer Freundin nicht gerade begeistert entgegen; zum Eklat jedoch kommt es erst, als eine der Schülerinnen, die intrigante Mary Tilford, ein Gerücht mit weitreichenden Folgen in die Welt setzt: Aus einem belauschten Streit zwischen Martha und ihrer Tante sticht immer wieder das Wort „unnatürlich“ heraus („Diese völlige Hingabe an Karen ist nicht normal“, „Das ist unnatürlich … so unnatürlich, dass es zum Himmel schreit!“) – und da Mary ohnehin eine Abneigung gegen ihre Lehrerinnen und die Schule im Allgemeinen hegt, hat sie nichts Besseres zu tun, als ihrer Großmutter eine verzerrte Version des Gesehenen und Gehörten brühwarm weiterzuleiten. Mrs. Tilford ihrerseits setzt prompt die gesamte Elternschaft über das Gerücht in Kenntnis – und schon haben Karen und Martha keine Zöglinge mehr, dafür aber eine Verleumdungsklage wegen eines „sündigen sexuellen Umgangs miteinander“ am Hals. Ungefähr an diesem Punkt wird es, gerade für queere Zuschauer_innen, hochinteressant: Bevor nämlich der Film auf sein tragisches Ende – den Selbstmord Marthas – zusteuert, zeichnet er in mehreren Szenen ein durchaus empathisches Bild seiner lesbischen Hauptfigur und eröffnet zugleich den (filmischen) Raum für die Möglichkeiten queeren Begehrens.

Foto: Studiocanal

Auch wenn Marys Anschuldigungen auf einer Lüge basieren, so hat sie doch „eine Lüge mit einem Körnchen Wahrheit darin erfunden“ – und dieses „Körnchen Wahrheit“ setzt einen Erkenntnisprozess in Gang, der in einer dramatischen Szene gipfelt: Unter Tränen und mit sich selbst ringend, gesteht Martha ihrer Freundin gegen Ende des Films ihre Liebe. Der Selbsthass und die Schuldgefühle, die hier hervorbrechen („Ich habe dein Leben und meins zerstört! Ich komme mir so schmutzig und ekelhaft vor, dass ich’s nicht mehr aushalten kann!“) sind aus heutiger Sicht schwer zu ertragen und für die jüngere Generation vielleicht nicht mehr nachzuvollziehen. Zugleich verweist der Dialog zwischen den beiden Frauen auf eine queere Subkultur, die zwar nicht konkret verortet wird, jenseits des Filmgeschehens jedoch als Möglichkeitsraum existiert: „Es gibt doch noch mehr Menschen, die das sind, was man von uns behauptet, und dafür nicht verurteilt werden.“

Warum, mag man sich heute fragen, packt Martha nicht ihre Koffer und zieht, sagen wir, nach New York City, um dort ihre Sexualität frei auszuleben? Einerseits ist das obligatorisch tragische Ende sicherlich den Überbleibseln des Hays Code geschuldet; andererseits nutzt Wyler diese Vorgaben immerhin als Chance, die fatalen Folgen der Engstirnigkeit und Intoleranz des provinziellen Umfelds in aller Deutlichkeit anzuprangern. Während Marthas Tod in Hellmans Text als beinahe unausweichliche Konsequenz ihrer Neigungen dargestellt wird, zeigt die Verfilmung sie ganz klar als Opfer einer homophoben Gesellschaft.

Foto: Studiocanal

Auch Karens Begehren erscheint im Film weitaus ambivalenter: Selbst nach Marthas Liebesgeständnis steht sie ihrer Freundin treu zur Seite; in keinem Moment wirkt sie schockiert oder angeekelt. Im Gegenteil – sie unterbreitet Martha den Vorschlag, gemeinsam an einem anderen Ort neu anzufangen. Ob sich in diesem „Willst du mit mir gehen?“ die Möglichkeit einer romantischen Beziehung andeutet oder sie rein freundschaftliche Solidarität beweist, lässt der Film offen. Mehrere lange, tastende Großaufnahmen von Karens Gesicht suggerieren, dass sich auch in Karen etwas bewegt, sich in ihr ein nicht wieder rückgängig zu machender Denkprozess in Gang gesetzt hat. Warum etwa löst Karen ihre Verlobung mit Joe, obwohl er sich den beiden Frauen gegenüber weiterhin loyal zeigt? Die Saat des Zweifels in ihm sei unauslöschlich, behauptet Karen – oder ist es vielmehr sie selbst, die beginnt, ihren heteronormativ vorgezeichneten Lebensweg infrage zu stellen? „Jedes Wort hat eine neue Bedeutung“, sinniert Karen, kurz bevor sie Joe verlässt: „Es gibt kaum noch ein Wort, das nicht gefährlich ist.“ Die vermeintlich sichere Sphäre der heterosexuellen Kleinfamilie, so könnte man diese Szene deuten, ist durch Marthas lesbisches Erwachen für immer „verqueert“.

Während Hellmans Theaterstück eine Rückkehr Karens zu Joe vermuten lässt, verzichtet der Film bewusst auf ein heterosexuelles Happy End. Stattdessen konzentriert er sich mit der Beerdigung als letzte Einstellung auf die Trauer um Martha, deren offenes Grab die Umstehenden stumm anklagt. Zugleich erblüht in dieser Schlusssequenz noch einmal Karens Liebe zu Martha: Ob nun romantisch oder freundschaftlich, in jedem Fall eine Liebe, die keine Verachtung der Welt hätte zerstören können.

Bis zum ersten lesbischen Happy End wird Hollywood noch über die Leichen vieler queerer Figuren gehen – immerhin jedoch verlässt Karen den Film hocherhobenen Hauptes und schreitet allein, die Erinnerung an Martha im Herzen, in Richtung einer neuen, besseren Zeit.




Infam
von William Wyler
USA 1961, 108 Minuten, FSK 12,

deutsche SF & englische OF, deutsche UT,
Studiocanal

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