Indian Summer

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London, Mitte der 1990er. Tonio ist der Startänzer in seiner Ballettgruppe. Schön, stolz, selbstbewusst, eine Primadonna in jeglicher Hinsicht – und HIV-positiv. Für ihn ist klar, dass er bald seinem Lover Drew und seinem besten Freund Ramon in den Tänzerhimmel folgen wird. Bis dahin will er seine Zeit auskosten und tanzen bis zum Umfallen. Keine Frage, dass er in dem neuen Prestigestück der Kompanie die Hauptrolle übernimmt. Und dann tritt plötzlich auch noch Jack in sein Leben – ein ruhiger Typ mit leichtem Übergewicht, Bart und großem Herz. „Indian Summer“ (auch bekannt unter dem Titel „Alive & Kicking“) von Regisseurin Nancy Meckler („Sister My Sister“) und Drehbuchautor Martin Sherman („Bent“) ist ein Klassiker über Lebensfreude und Mut im Umgang mit Aids. Axel Schock über die klug und genau beobachtete Studie einer ambivalenten Beziehung, in der verdichtet Aspekte der Aids-Krise ausgeleuchtet sind, die sonst in Filmen vernachlässigt werden.

Foto: Salzgeber

Unterbrochene Tänze

von Axel Schock

Die Zeichen stehen auf Abschied. In den ersten Szenen von „Indian Summer“ verweist alles auf das Unvermeidliche. Wieder liegt ein Geliebter, Freund, Kollege und Mitstreiter im Krankenhaus und alle, die sich um sein Bett versammeln, sind sich im Klaren darüber, dass seine Tage gezählt sind. Und Tonio, der zwar noch nicht sichtlich erkrankt, aber infiziert ist, weiß, dass es auch bald ihn treffen wird. Alles nur eine Frage der Zeit. Was viele in seinem Tanzensemble ebenfalls denken, wagt endlich einer auszusprechen: „Unsere besten Tänzer sind tot oder werden bald sterben. Wir müssen es uns eingestehen: Die Truppe ist erledigt.“

Nancy Mecklers Spielfilm „Indian Summer“ (der hierzulande 1997 unter dem Titel „Alive & Kicking – Jetzt erst recht“ ins Kino kam), erzählt exemplarisch anhand dieser Londoner Modern Dance-Kompanie, welche Lücken Aids bis in die Mitte der 1990er Jahre insbesondere auch im internationalen Kulturschaffen gerissen hat. Die Berliner Neue Gesellschaft für Bildende Kunst hatte für eine Ausstellungsreihe in der Jahrtausendwende dafür den Begriff „Unterbrochene Karrieren“ geprägt. Tonio ist an einem entscheidenden Punkt seiner Laufbahn angekommen. Er ist reif genug, um in der Wiederaufnahme einer für die Truppe legendären, weil wegen seiner deutlichen Homoerotik einst umstrittenen Produktion „Indian Summer“ die Hauptrolle zu übernehmen. Wissend, dass danach nichts mehr kommen wird und ihm vielleicht sogar währenddessen die Krankheit zuvorkommen und die Kräfte nehmen könnte. Diese Aufführung würde gleichermaßen sein Karrieregipfel und -ende sein.

Die Auswirkungen der Aids-Krise ausgerechnet mit einer in der Tanzszene angesiedelten Geschichte zu erzählen, ist einerseits naheliegend, hatten in den 1980er und 1990er doch faktische alle Kompanien, ganz gleich ob im Musical, beim klassischen Ballett oder in der Freien Szene, Tote zu beklagen. Zugleich steht die kräftezehrende und die Körperlichkeit beschwörende Kunstform im größtmöglichen Kontrast zu der aufzehrenden, oft genug den Körper entstellenden Krankheit. Wenig verwunderlich, dass auch andere Filme über Leben, Lieben und Sterben in Zeiten von Aids ausgerechnet Tänzer zu Hauptprotagonisten machen, etwa Chris Masons „Test“ von 2013.


Doch auch wenn es die Kurzfassung des Plots vermuten ließe, „Indian Summer“ ist alles andere als ein Aids-Melodram wie etwa Jonathan Demmes zwei Jahre zuvor erschienene Hollywood-Produktion „Philadelphia“. Martin Sherman, der hierzulande vor allem für sein vielgespieltes und 1997 verfilmtes Drama „Bent“ über ein schwules Liebespaar im Konzentrationslager Dachau bekannt wurde, hat mit „Indian Summer“ ein weitgehend unsentimentales Drehbuch geschrieben, das trotz aller Tragik auch sehr humorvolle, bisweilen gar bissig-böse Dialoge liefert.

Das liegt zum einen an der zentralen Figur des Tonio, die durchaus auch unsympathische Züge trägt. Der muskulöse, sexy Tänzer, gespielt von Jason Flemyng, ist auf penetrante Weise selbstverliebt, eitel und arrogant. Einer, der sich seine Männer immer aussuchen konnte und jene schnippisch ablehnt, die nicht seinen hochgesteckten Körperidealen entsprechen. Dass er in der Disco ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Psycho Bitch“ trägt, will wohl selbstironisch und camp sein, aber erweist sich dann doch als treffende Selbstbezeichnung

Auftritt Jack. Einer der definitiv nicht in Tonios Beuteraster fällt: Stämmig, bärtig und ein paart Jahr älter, aber hartnäckig. Und schließlich erfolgreich. Jason Flemyng, mittlerweile zum Blockbuster-Helden („X-Men“, „Kampf der Titanen“) aufgestiegen, 1996 aber noch ganz am Anfang seiner Karriere, trifft hier auf einen erfahrenen britischen Theaterautor als Spielpartner. Antony Sher, einer der renommiertesten Shakespeare-Actors seiner Generation und zudem Ikone der britischen Gay Community, gelingt mit Jack eine überaus komplexe Figur. Smart und souverän kontert er den Narzissmus seines Geliebten und verströmt einen mitreißenden Sexappeal. Sherman und Meckler haben ihm zudem einige der besten, tiefgründigsten Szenen und Monologe geschenkt, in denen ungemein verdichtet Aspekte der Aids-Krise ausgeleuchtet sind, die sonst in Filmen eher vernachlässigt werden. Dabei geht es vor allem um die komplexen Beziehungsverhältnisse zwischen nicht-infizierten und erkrankten Partnern. Wie geht man eine Bindung mit einem anderen Menschen ein, wenn man weiß, dass dieser in naher Zukunft erkrankten und sterben wird? Hat Jack bei Tonio womöglich nur deshalb eine Chance, weil dieser Angst davor hat, allein zu sterben, und weil er, wie ihm Jack in einem Streitgespräch vorhält, „jemanden Robustes“ gesucht hat, bei dem er sich anlehnen kann – und eben keine Schönheit, die ihm womöglich wie die vielen anderen vor der Zeit wegstirbt?

Foto: Salzgeber

In einer weiteren Schlüsselszene stellt Jack gegenüber Tonio ihre Beziehung in Frage, dreht sich doch alles nur um die Befindlichkeiten des Tänzers und seine Konflikte bei den Proben. Tonio interessiert sich jedoch mit keiner Silbe dafür, wie Jack seinen Arbeitsalltag erträgt. Der arbeitet als Psychotherapeut in einer Aidsberatungsstelle. Die Einrichtung ist nicht nur überlastetet und unterfinanziert, man spart offenbar auch an der Supervision. Jack ist am Rande des Burnouts und erträgt die Missstände und das tagtägliche Leid nur noch mit Sarkasmus und Alkohol.

Es sind vor allem Szenen wie diese, die „Indian Summer“ heute noch sehenswert und auch jenseits des Aidskontextes interessant machen: als klug und genau beobachtete Studie einer ambivalenten Beziehung zweier gegensätzlicher Persönlichkeiten. Wie sich die beiden trotz aller Hindernisse und Abwehrreaktionen dann doch ineinander verlieben, miteinander streiten und aneinander wachsen, ist immer noch großes Kino. Auch, weil Sherman die Beziehung der beiden Männer mit großer Ernsthaftigkeit und frei von Eitelkeit, aber auch mit viel Sinn für Komik darstellt.

Es ist eine Beziehung freilich, die unweigerlich zeitlich begrenzt ist. Die Dramaturgie des Films will es, dass am Ende die Aufführung der Neuinszenierung von „Indian Summer“ steht. Premiere und Derniere fallen zusammen. Dass Sherman und Meckler dieses Finale mit einem hochdramatischen und kitschigen Schlussakkord auskosten, scheint der Zeit und dem Genre geschuldet zu sein. Denn Hoffnung auf ein wirkliches Happy End konnte es in „Indian Summer“ noch nicht geben. Die ersten Medikamente, die zur Verfügung standen, als der Film 1995 produziert wurde, konnten Aids-bedingte Erkrankungen bestenfalls ausbremsen – und hatten meist überaus schädliche und kaum zu ertragende Nebenwirkungen. Auch deshalb lehnt Tonio deren Einnahme konsequent ab.

Nur wenige Monate nach der Uraufführung von „Indian Summer“ hatte sich die Lage grundsätzlich verändert: Im Juli 1996 wurde auf der XI. Internationalen Aids-Konferenz im kanadischen Vancouver über eine Therapieform berichtet, mit der es erstmals gelang, HIV-Infektionen dauerhaft und wirkungsvoll zu behandeln. Diese sogenannte antiretrovirale Kombinationstherapie wurde zu einem Wendepunkt und bedeutete das Ende der Aidskrise. Diese Entwicklung macht „Indian Summer“ gewissermaßen zu einem filmischen Schlussstein dieser Ära, der aber auch mit fast drei Jahrzehnten Abstand nicht an Kraft und Relevanz verloren hat.




Indian Summer
von Nancy Meckler
UK 1996, 95 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

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