Hot Milk
Trailer • Kino
Eine unglückliche Studentin reist mit ihrer kranken, kontrollsüchtigen Mutter nach Südspanien und findet Erleuchtung in der Affäre mit einer verührerischen Fremden: Als Drehbuchautorin von „Ida“ und „She Said“ ist Rebecca Lenkiewicz bekannt geworden. Jetzt kommt ihr mit Spannung erwartetes Regiedebüt „Hot Milk“. Ihre Adaption des gefeierten Romans von Deborah Levy ist gleichzeitig Sommerromanze, Befreiungsgeschichte und psychologisches Drama. Ein Film mit erzählerischen Höhen und Tiefen, findet sissy-Autor Christian Horn – jedoch stets mit virtuosen Bildern: „Manche Aufnahmen wirken wie Gemälde, und der flirrende Hochsommer legt sich wie eine Milchschliere am Wasserglas über alles.“

Bild: MUBI
Impressionen im Sommerdress
von Christian Horn
Sofia (Emma Mackey) döst am heißen Strand der spanischen Küste. Die Augen sind halb geschlossen. Da galoppiert ein Pferd heran, mit Ingrid (Vicky Krieps) darauf, im weißen Kleid. Sie schaut Sofia an. Ein milder und sehr präsenter, Zuversicht stiftender Blick. Für die Londoner Anthropologie-Studentin Sofia ist das so etwas wie ein Weckruf aus einer anderen Welt, die vielleicht besser ist und sofort begehrenswert. Eine wortlose, doch vielsagende Begegnung. Daraus entspinnt sich eine Liebelei mit der freigeistigen Ingrid, die Sofia auf eine neue Spur lockt. Der Beginn eines Befreiungsschlags.
Befreit werden muss Sofia von ihrer herrischen Mutter Rose (Fiona Shaw), mit der sie in die spanische Küstenstadt Almería gereist ist. Dort hofft Rose auf eine neue Behandlungsmethode des unkonventionellen Arztes Gomez (Vincent Perez). Denn sie hat aus ungeklärten Gründen kein Gefühl mehr unterhalb der Knie und sitzt seitdem im Rollstuhl. Eine körperliche Ursache wurde nicht festgestellt, also ist es wohl psychosomatisch. Allerdings: Einmal im Jahr kann Rose wieder kurz laufen, was alle sehr rätselhaft finden. Und den Verdacht nahelegt, dass die Misere nur gespielt ist. Damit Sofia ja kein eigenes Leben führt. Sondern eins unter der Fuchtel ihrer Mutter.
In ihrer Adaption von Deborah Levys Roman „Hot Milk“ muss sich die Regiedebütantin Rebecca Lenkiewicz, bekannt geworden als Drehbuchatorin von „Ida“ und „She Said“, nicht lange mit Charakterzeichnung aufhalten: Schon am Anfang spricht Sofias unglücklicher Gesichtsausdruck Bände, schwankt zwischen resigniert bis wütend. Sie nennt die Mutter beim Vornamen, reagiert oft einfach nicht mehr auf deren Rufe. Und Rose? Ist bestimmerisch, gemein, undankbar – und setzt ihre Tochter in einem fort herab, gern auch vor Anderen: „Denkst du, du wirst bald heiraten?“, „Ich brauch ein anderes Wasser“, „Sofia ist viermal durch die Fahrprüfung gefallen“ und „eine Langzeitstudentin“ (weil sie die Mutter umsorgt). Und wenn Sofia mal Paroli bietet: „Hast du deine Tage?“
Die späte Rebellion der Tochter kündigt sich früh an, wenn Rose sie bittet, nicht in der Nähe ihres Kleides zu rauchen – und Sofia dann extra draufpustet. Die später wiederholte Begegnung mit Ingrid am Strand ist schon deshalb ein Kontrapunkt zur verhärteten bis co-abhängigen Mutter-Tochter-Beziehung, sie verläuft still, ohne Forderungen. Erstmal. Bald startet ein sommerliches Techtelmechtel, das für Ingrid eins von vielen ist und für die sexuell viel unerfahrenere (oder gar erst erwachende) Sofia viel mehr. Also droht auch an dieser Sollbruchstelle Ungemach. Aber diesmal fordert Sofia.

Bild: MUBI
So wie sie es schon in ihren Drehbüchern getan hat, konzentriert sich Rebecca Lenkiewicz auch im Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Hot Milk“ klar auf feminine Perspektiven. Der Arzt Gomez bleibt ebenso ein Stichwortgeber wie Sofias Vater, den sie kurz mal in Athen besucht. Lenkiewicz fokussiert sich lieber auf die Dynamik zwischen den Frauenfiguren. Mit Sofia in der Mitte, in der es gärt und die im Lauf des Films immer mehr eine eigene Stimme entwickelt. Es ist sofort anzunehmen und erweist sich dann auch als wahr, dass hier Geheimnisse mit sich herumgetragen werden, die irgendwann ans Licht kommen.
Obwohl Rebecca Lenkiewicz sonst als Autorin Erfolge feiert, liegt die Stärke ihres ersten selbst inszenierten Films auch nicht im Plot, der aus seinen Themen wie Selbstfindung, Selbstermächtigung und ein bisschen Coming of Age nicht übermäßig viel herausholt. In den ersten Szenen sortiert sich der Film und hört dann nie wirklich damit auf.

Bild: MUBI
Was „Hot Milk“ stattdessen ausmacht, ist die besondere Atmosphäre, die Lenkiewicz heraufbeschwört. Die Bilder des Kameramanns Christopher Blauvelt, der bereits in „Mid90s“, „First Cow“ oder „May December“ Beachtliches geleistet hat, weiß sie perfekt einzusetzen. Manche Aufnahmen wirken wie Gemälde, und der flirrende Hochsommer (gedreht in Griechenland) legt sich wie eine Milchschliere am Wasserglas über alles. Impressionen im Sommerdress, Alltag, dazu etwas Piano. Dieser ziemlich eigene Fluss von Stimmungen erinnert an das mysteriöse, zu Unrecht untergegangene Familiendrama „Sundown – Geheimnisse in Acapulco“ von Michel Franco.
Nicht alle Inszenierungsideen sind gleich stark. Passend und denkwürdig ist zum Beispiel der beharrlich bellende Hund, den ein Arschloch-Nachbar in der Hitze auf dem Dach angekettet hat. Sofias immer wieder kurz eingestreute Alpträume wirken dagegen auch mal etwas peinlich. Eingeleitet wird der Film mit einem Höllenzitat der Künstlerin Louise Bourgeois, am Ende erreicht das zwischenmenschliche Inferno dann wirklich einen Siedepunkt. Das ist schon ein runder, wenngleich offener Abschluss für eine nicht immer vor Leidenschaft brodelnde Sommerromanze.
Hot Milk
von Rebecca Lenkiewicz
AUS/GR/GB 2025, 92 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT,
MUBI
Ab 3. Juli im Kino