Giant Little Ones

Trailerqueerfilmnacht

Franky und Ballas sind seit Ewigkeiten beste Freunde. Die Stars des Schwimm-Teams sind beliebt in der Highschool und begehrt bei den Mädchen. Doch als sich die beiden im betrunkenen Zustand sexuell näherkommen, ist plötzlich alles anders: Ballas will mit Franky nichts mehr zu tun haben und die Gerüchteküche in der Schule brodelt. Franky erlebt Mobbing und Gewalt, aber auch eine neue Nähe zu seinem Vater, der selbst seit einigen Jahren schwul lebt. Allmählich wird dem Teenager klar, wer er sein möchte. Keith Behrmans „Giant Little Ones“ wurde nach seiner gefeierten Weltpremiere in Toronto vielfach ausgezeichnet – und läuft im November in der queerfilmnacht. Christian Lütjens über einen außergewöhnlichen Coming-of-Age-Film, der mit leuchtenden Bildern und mitreißenden Darsteller*innen Herzen und Horizonte öffnet.

Foto: Edition Salzgeber

Die Welt aus den Angeln heben

von Christian Lütjens

19 Minuten lang ist dieser Film eine große Party – ein euphorischer, perfekt getimter Ritt durch eine kanadische Teenager-Idylle voller Slush-Drinks, Fist bumps und erster Male, der in bonbonbunten Farben eine innige Jungsfreundschaft skizziert. Franky und Ballas sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Sie gehen in die gleiche Klasse, trainieren gemeinsam im Schwimm-Team und haben beide hübsche Freundinnen. Das Kraftzentrum ihrer Freundschaft lässt die kleinen Probleme des Highschool-Alltags zu Nichtigkeiten schrumpfen und Mitschüler, Eltern und große Schwestern zu blassen Stichwortgebern am Rande ihrer verschworenen Gemeinschaft werden.

Doch dann, nachdem die beiden auf Frankys Geburtstagsparty mal wieder die Welt aus den Angeln gehoben und mit der Leuchtpistole, die Ballas Franky geschenkt hat, den Nachthimmel in leuchtendem Rot erstrahlen lassen haben, folgt auf einmal diese eine, in undurchdringliches Schwarz getauchte Filmminute, in der nichts flackert und leuchtet, in der nur unscharfe Umrisse, leises Rascheln und ein paar hastige Atemstöße das düstere Nichts durchbrechen und nach der nichts mehr ist, wie es war.

Was dann passiert, ist nichts weniger als ein Meisterstück filmischer Erzählkunst mit leichtfüßigem Tiefgang. Was genau Franky und Ballas in der schwarzen Minute angestellt haben, verschwimmt im Sog von Schuldzuweisungen und Verleumdungen. Klar ist nur, dass es mit Sex zu tun hatte, und dass Ballas nicht damit umgehen kann. Er stößt den vormals besten Freund von sich, tritt die Flucht nach vorn an und erzählt überall herum, Franky habe sich an ihn rangemacht. Von einem Tag auf den anderen steht Franky allein da.

Das Kraftzentrum der verschworenen Gemeinschaft fällt in sich zusammen, die Teenager-Idylle zerplatzt. Stattdessen lauert nun überall Feindseligkeit. Die Freundin macht Schluss, in der Schule ist er nur noch „die Schwuchtel“, im Schwimm-Team wird er geschnitten. Die kleinen Probleme des High-School-Alltags werden auf einmal riesengroß. Franky würde wohl von ihnen übermannt werden, wenn da nicht die Stichwortgeber am Rande wären, die im Angesicht der unerwarteten Verlassenheit aus ihrer Konturenlosigkeit heraustreten und Frankys Horizont Stück für Stück mit Einblicken in eine Welt jenseits des heterosexuellen Überschwangs einer Jungsfreundschaft erweitern.

Klingt nach klassischer Coming-of-Age-Katharsis – und ist auch eine. In seiner unangestrengten Intensität nimmt „Giant Little Ones“ aber seinen ganz eigenen Platz im Kanon der schwulen Teenager-Dramen ein. Regisseur Keith Behrman transportiert die altbekannte „Sommersturm“-Story in die Gegenwart und reichert sie mit der Leichtigkeit von „Love Simon“ und der Poesie von „Call Me by Your Name“ an. Der Effekt: Hoffnung, Glück und perfekte Unterhaltung.

Ausgangspunkt für das Projekt waren Meldungen über steigende Selbstmordraten unter queeren Mobbing-Opfern in den USA und Kanada Ende des ersten Jahrzehnts der 2000er. Allerdings wollte Behrman, der für sein Spielfilmdebüt „Flower & Garnet“ (2002) viel Kritikerlob bekommen hatte, kein Drama über einen Selbstmord drehen. Vielmehr schwebte ihm, wie er es im Canadian Cinema Yearbook formuliert, „ein Film wie ein Popsong“ vor, der den tragischen Fakten eine Prise Optimismus entgegenstellen könne. Diesem Anspruch wird „Giant Little Ones“ in jeder seiner 93 Filmminuten gerecht. Nicht nur treibt der treffsichere Soundtrack den Puls der Erzählung kongenial voran, auch das Skript atmet mit seiner spielerischen Verbindung von Melancholie und Euphorie perfekten Pop-Appeal.

Foto: Edition Salzgeber

Das größte Verdienst von Behrmans Geschichte ist allerdings, dass sie es schafft, Diversität vom Reißbrett mit einer Lebendigkeit aufzuladen, die trotz aller Konstruiertheit nie unglaubwürdig wirkt. Dass der zur „Schwuchtel“ degradierte Franky eine alleinerziehende Mutter hat, die von ihrem Gatten für einen Mann verlassen wurde, dass er in Freund*in Mouse einen erfrischend genderfluiden Support findet und von Ballas‘ Schwester Natasha sowie seinem schwulen Vater ein normbefreites Verständnis von Sex und Liebe lernen darf, grenzt an Sozialromantik, kommt in „Giant Little Ones“ aber nie aufdringlich oder schulmeisterlich rüber.

Vielmehr funktioniert der ganze Film wie seine lustigste Szene: Da will die burschikose Mouse, die ihrer Faszination für maskulines Protzgehabe durch das Anlegen von Schwanzprothesen aus Socken und Vorschnalldildos Luft macht, endlich mal wissen, wie sich ein echter Penis anfühlt, und überredet Franky, ihr seinen Schwanz zu zeigen und ihn berühren zu dürfen. So eine Sequenz könnte schnell zum pubertären Schenkelklopfer werden. In diesem Fall ist sie aber vor allem Sinnbild einer ehrlichen, unschuldigen und universellen Neugier auf eine Körperlichkeit und Sexualität, die nicht die eigene ist. Diese Neugier ausleben zu können, ist in der Realität wohl den wenigsten Teenagern vergönnt, könnte aber manch hysterische Gepflogenheit im Umgang mit Sexualität abmildern. „Giant Little Ones“ überträgt dieses Anschauungsprinzip auf die Gesellschaft. Der Film ist wie ein Kaleidoskop aus Lebensentwürfen, das mit einem zutiefst menschlichen Blick auf die Protagonisten Lust auf Akzeptanz und Vielfalt weckt.

Foto: Edition Salzgeber

Womit wir beim Herzstück des Ganzen wären: den zauberhaften Darstellern. Neben „Twin Peaks“-Ikone Kyle MachLachlan in der Rolle des schwulen Vaters und „Coyote Ugly“-Queen Maria Bello, die nicht nur Frankys Mutter spielt und mitproduzierte, sondern während der Dreharbeiten auch den öffentlichen Umgang ihrer eigenen Beziehung mit einer Frau verarbeiten musste, ist vor allem die Ensemble-Leistung der jungen Darsteller zu würdigen. Niahmh Wilson ist als Mouse schlicht zum Niederknien, Taylor Hickson als Natasha bestechend anrührend und verletzlich, Darren Mann gelingt in seiner beeindruckenden Physis die sprichwörtliche Verkörperung der ambivalenten Figur des Ballas. Und was Josh Wiggins als Franky angeht: nicht nur die schwebende Sexualität der Rolle gibt ihm das Zeug zur Pansexualitätsikone des Jahres 2019.

„Giant Little Ones“ ist ein Film, der jeder seiner Figuren ihre eigenen riesengroßen kleinen Probleme zugesteht, ohne sich je über sie lustig zu machen. Weil er weiß, dass sie ein essenzieller Bestandteil dieses anderen riesengroßen kleinen Dings sind, das er mit allen seinen Ecken und Kanten feiert – das Ding namens Leben. Kurzum: der ultimative Leuchtpistolenschuss für den queeren Kinoherbst.




Giant Little Ones
von Keith Berman
CDN 2018, 93 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT,

Edition Salzgeber

Im November in der queerfilmnacht.

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