Fabian Hischmann: Alle wollen was erleben

Buch

Nach zwei Romanen hat Fabian Hischmann jetzt die Story-Sammlung „Alle wollen was erleben“ veröffentlicht. Anders als in Neil Postmans Klassiker „Wir amüsieren uns zu Tode“ liegt der Akzent dieses Bands auf dem „Wollen“ – denn wie sich in der Komfortzone der Ersten Welt ein gutes Leben gestalten ließe, kann kaum eine der Figuren Hischmanns beantworten. Unser Rezensent Christian Lütjens meint: Ein Meisterstück der mehrdimensionalen Diversität in 13 Teilen.

Glühbirnen eindrehen

von Christian Lütjens

Es beginnt mit einer Geschichte über die Beiläufigkeit eines Trans*-Coming-outs und endet mit einem Mini-Sequel zu Hischmanns Romandebüt „Am Ende schmeißen wir mit Gold“. Dazwischen: elf „Stories“ über Verlust, Trauer, Einsamkeit, Freundschaft, die kleinen Fluchten des Alltags und die großen Fragen des Lebens. Klingt nach praller Panoramaprosa, aber Hischmann wäre nicht Hischmann, wenn er dem bunten Strauß von Themen nicht seinen eigenen sprachlichen Anstrich von Sparsamkeit und Kälte verpassen würde, der mal als lakonische Gesellschaftskritik gelesen werden kann, oft aber auch als nackte Ratlosigkeit eines Sinnsuchers, der in einer globalisierten Gegenwart, in der jeder Augenblick nur dem nächsten entgegenhastet, keinen Halt findet. Oder um einen Satz aus der Story „Niagara“ zu zitieren: „Obwohl seine Sehnsucht nach dem Jetzt riesig war, verdrängte er sie auf dieses unscharfe Später“.

Will sagen: Trotz des knalligen, in Verbindung mit dem Covermotiv vom österreichischen Jugendkarikaturisten Markus Muntean hübsch ironisch daherkommenden Titels ist Plakativität das Ding von „Alle wollen was erleben“ nicht. Eher könnte man auf den Titel des Vorgängers, „Das Umgehen der Orte“, Bezug nehmen und vom Umgehen klassischer Handlungsbögen und erzählerischer Eindeutigkeiten sprechen. Situationen werden meist nur umrissen, Auslassungen sind oft beredter als das Gesagte oder Geschriebene.

An Hischmanns Umgang mit Diversität und Queerness lässt sich die programmatische Zurückgenommenheit der Texte gut verdeutlichen. So ist das erwähnte Trans*-Coming-out in der Auftakt-Story zwar der Motor der Geschichte, doch indem es in den Kontext einer lebenslangen Freundschaft gestellt wird, verpufft es zur Randerscheinung in einem andauernden Strom von Entwicklungen. In „Niagara“ baut Hischmann in die Story zweier Hetero-Kumpels, die am Eingang des titelgebenden Clubs jobben, die Nebenfigur des Unsympathen Gordon ein („Ein aufgepumptes Klischee, das angeblich mal Personenschützer war“), um diesen Gordon später ohne viel Tamtam als schwul zu outen. In „Wouldn’t it be nice“ flackert vor der alpinen Kulisse eines sterbenden Bergdorfs unterschwellig eine lesbische Befreiungsgeschichte auf, die einerseits wie ein Hoffnungsschimmer in der unwirtlichen Einöde anmutet, sie aber andererseits noch öder macht, weil sie der Grund für die Einsamkeit des Protagonisten ist. Das schwule Paar in „Fingerübung“ ist derweil mit Eigenheim, zwei Autos und einem putzigen Leihmutter-Sohn voll in der Mitte der Spießergesellschaft angekommen, scheint dafür aber zumindest aus Sicht des zweifelnden Ich-Erzählers mit der Aufgabe seiner Freiheit bezahlt zu haben.

Fabian Hischmann – Foto: Daniel Sommer

In dieser Form könnte man alle 13 Geschichten durchdeklinieren, aber die vier Beispiele sollten genügen, um zu verdeutlichen, dass die Figuren hier keine eindimensionalen Stichwortgeber im Kanon queerer Emanzipationsdramaturgie sind. Statt Diversität an Einzelpersonen zu illustrieren wird das Dasein als solches zur Folie der Diversität. Da sind LGBTIQ* eben nicht zwangsläufig bessere Menschen als Heten, queere Identität ist nur eine von vielen Facetten einer Persönlichkeit, und was im ersten Moment Glück bedeutet, kann sich im nächsten als Keim des Unglücks entpuppen.

Kennern der Hischmann-Romane ist diese Sichtweise bereits vertraut, aber die Story-Sammlung treibt sie durch eine Vielzahl von Situationen, Settings und Erzählformen (von personaler bis zur „Ich- und Du“-Perspektive ist alles dabei) auf die Spitze. Durchgehend unproblematisch ist das zugegebenermaßen nicht. Wenn klassische Dramatisierung und Erfüllung von Lesererwartungen zwar mit großer Geste verweigert, zugleich aber konsequent zur Nebensache erklärt werden, ist der Grat zwischen subtilem Tonfall und Monotonie schmal. Auf der anderen Seite kranken besonders einige Dialoge daran, überreflektiert, und damit künstlich und leblos zu wirken – ein Punkt, der sich in der letzten Story („Kreise“) ins Absurde steigert, wenn in einer wörtlichen Rede das Gender-Sternchen verwendet wird („Wusstest du, dass nur jede*r Dritte hier überhaupt eine Krankenversicherung hat?“).

Dem entgegen stehen allerdings Passagen, die in ihrer Treffsicherheit alle Unzulänglichkeiten vergessen machen, weil sie die Welt, von der sie erzählen, meisterhaft spiegeln. Etwa wenn es in der hintersinnigen Hypochonder-Parabel „Real Pain“ heißt: „Alle in der Gruppe sind weiß, männlich, erbärmlich. Wie der Aufsichtsrat einer Bank oder eines Autokonzerns. Mit dem Unterschied, dass wir uns für uns schämen.“ Oder wenn die Erkenntnismomente in der Trans*-Geschichte mit der schönen Metapher beschrieben werden: „Ich war eine leere Lichterkette, in die Sophie nach und nach die fehlenden Glühbirnen eindrehte.“ Oder wenn in der Titel-Story ohne jede Galligkeit zwei saturierte Gutmenschen von der bitteren Realität in ihre Schranken gewiesen werden. Das Glanzstück der 13 Storys ist eine verstörend stille Miniatur namens „DIN A6“. Wie diese Geschichte völlig unsentimental auf nur fünf Seiten Schlaglichter aus einer schwerelosen Vergangenheit mit dem Schmerz, den Fluchten und der Sprachlosigkeit einer Trauma-überschatteten Gegenwart kreuzt und nebenbei den bürokratischen Titel mit Emotionalität auflädt, ist nichts weniger als herzzerreißend. Ohnehin ist es eine der großen Stärken der Storys, wie sie Trauer ohne Pathos und Sehnsucht ohne Kitsch vermitteln.

In der Erzählung „Real Pain“ wird das Grundgefühl dieser Geschichtensammlung mit einem Zitat aus einem fiktiven Popsong auf den Punkt gebracht: „First World Problems surround me/I’m just another bubble floating into triviality/So please, let me burst.“ Auch die Storys in „Alle wollen was erleben“ sind wie Seifenblasen, die in der Trivialität von Erste-Welt-Problemen dahintreiben. Sie schillern, zittern, schweben und warten darauf zu zerplatzen. Bei letzterem hilft der Autor selten nach. Er überlässt es der Fantasie der Leser, die Nadel einzustechen. Das ist manchmal unbefriedigend und manchmal unbequem, aber es fordert ungemein – eine Qualität, die man von anderen First-World-Problem-Bubbles der deutschen Gegenwartsliteratur (wie zum Beispiel der jüngst mit „Kintsugi“ für den Deutschen Buchpreis nominierten Miku Sophie Kühmel) nicht gerade behaupten kann.




Alle wollen was erleben
von Fabian Hischmann
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten, 18 Euro,
Piper Verlag

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