Gendernauts (1999)

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Im zweiten Teil unserer neuen Artikelserie „Queer Cinema Classics“ stellen wir einen bahnbrechenden Film des Trans* Kinos vor. „Gendernauts“ führt uns ins Land der Neuen Geschlechter und nach San Francisco Ende des zweiten Jahrtausends. Der Film von Monika Treut stellt uns eine Gruppe faszinierender Künstler:innen vor, die zwischen den Polen herkömmlicher Geschlechter-Identität leben. Er zeigt uns Gender-Mixer und sexuelle Cyborgs, die ihre Körper mit Hilfe neuer Technologien und Biochemie verändern und damit die Identität von männlich und weiblich in Frage stellen. Auf die Frage: Sind Sie ein Mann oder eine Frau? antworten die Gendernaut:innen mit Ja. Wie die Kosmonaut:innen durch das Weltall und die Cybernaut:innen durch die Netzkultur, so reisen sie durch die vielfältigen Welten von Geschlecht. Noemi Yoko Molitor hat ihnen einen Liebesbrief geschrieben.

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Ozeane des Begehrens

von Noemi Yoko Molitor

Wissen über Gender wird selten so lustvoll und zugleich behutsam vermittelt wie in den Worten von Sandy Stone in Monika Treuts „Gendernauts“. Die Medientheoretikerin und Mitbegründerin der Trans Studies ist nur eine von vielen Protagonist:innen in Treuts Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999, doch ihre weiche Stimme trägt diesen wortwörtlich bis zum Schluss. Um uns von den Mechanismen verabschieden zu können, die uns glauben lassen, dass es nur zwei Geschlechter gibt, so legt es uns die Autorin des Essays „The Empire Strikes Back: A Posttranssexual Manifesto“ (1987) im Film nahe, müssen wir unsere Art zu denken und uns selbst und andere zu lesen von Grund auf neu programmieren: „Wir müssen unsere Wahrnehmungsfähigkeit wiederentdecken.“

„Gendernauts“ ist ein cyborgianischer, trans* futuristischer Film über Gender-Expansion, die Menschen, die sie leben, und die Orte, die sie ermöglichen. Da ist die Stadt San Francisco, die im Film als Sanctuary City für genderqueere Personen und die transgender Community in Erscheinung tritt. Da ist der „Club Confidential“, eine Performance-Reihe, zu der die Organisator:innen Jordy Jones und Stafford Gäste aus ganz USA auf die Bühne bitten. Und schließlich ist da das Internet als großer Hoffnungsraum, der neue Arten von Beziehungen und neue Denkweisen in Bezug auf Gender ermöglichen kann. 1999 war „Gendernauts“ auch als Dokumentarfilm revolutionär, denn Treut verzichtet darin weitgehend auf das Sprechen über trans* und inter* Menschen und zentriert stattdessen deren eigenen Stimmen und Perspektiven. Diese sind mal reflexiv und lustig, mal eigenbrötlerisch und ein wenig cringy und vor allem immer wieder voll scharfer Analyse der Verhältnisse.


Monika Treut, die Ende der 1980er für einige Jahre nach New York gezogen war, geht für die Dreharbeiten zu „Gendernauts“ nach San Francisco. Hier will sie alte und neue Freund:innen besuchen und mehr von einer Gruppe von Künstler:innen, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen lernen, die Gender erweitern, trans* Sein selbstverständlich leben und Körperlichkeit neu denken. Unter den alten Bekannten ist auch der Dichter Max Valerio, dessen Transition Treut 1992 in ihrem Porträt „Max“ begleitete, das kurz darauf ein Teil ihres Kurzfilmprogramms „Female Misbehavior“ geworden ist. Die Stadt an der US-amerikanischen Ostküste spendet ihren Protagonist:innen Sonne. Der Strand ist mit Sand und Steinen gesäumt, die Videokünstler:in Texas Tomboy dazu dienen, dort in unmittelbarere Nähe des Meeres ein Symbol für den eigenen Namen zu entwerfen. Immer wieder filmt Elfi Mikesch mit ihrer Kamera das Meer und die Wellen, die auch die metaphorischen Gewässer spiegeln, die Sandy Stone heraufbeschwört, wenn sie beschreibt, wie die Gendernauten:innen den Ozean des Begehrens durchschwimmen.

San Francisco ist auch die Stadt, in die Treuts „Lieblings-Sexkünstlerin“ Annie Sprinkle gerade gezogen ist und in der wir die Ökofeministin, die Jahre später das Meer in Venedig und den Kallavesi-See in Finnland heiraten wird, bei ihrem Hobby der Vogelbeobachtung erleben. Als Texas Tomboy sie durch die Dreharbeiten kennenlernt, möchte Texas gleich in einem von Annies Filmen mitspielen – ein Zeichen, dass „Gendernauts“ nicht nur Community vor Ort begleitet, sondern auch Community schafft, zumal Treut sich auch selbst ins Bild setzt bzw. von ihren Protagonist:innen filmen und fotografieren lässt.

Susan Stryker, Historikerin und eine weitere zentrale Gründungsfigur der Trans Studies, beschreibt San Francisco als Ort, in dem unkonventionelle Lebensweisen mehr Platz einnehmen. Wo die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse anders verteilt sind, es mehr selbstverständlichen Zugang zu Ressourcen gibt, so hält sie fest, kann sich die queere Community in der Öffentlichkeit anders bewegen und auch anders auftreten.

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Die Aufzüge, in denen das Publikum zu den Veranstaltungen im legendären „Club Confidential“ erscheint, steht den Outfits der Performer:innen in nichts nach. Einige Bühnenstars, so erzählt es Stafford, laufen beim Anblick der Audience sogar schnell wieder nach Hause, um sich noch einmal umzuziehen. Joan Jett Blakk, die 1992 als „Drag Queen for President“ antrat („Lick Bush in ’92!“) und im Film viel zu kurz auftaucht, bringt es als MC auf den Punkt: „There is nothing sexier than a woman in a suit!“ Wer den Club betritt, wird an besonderen Abenden von Papparazzi mit Blitzlicht empfangen und per Name angekündigt. VIP-Treatment bekommen im „Club Confidential“ alle. Und der Name des Clubs ist natürlich eine herrliche Aneignung: Ein Begriff, der sonst auf FBI-Akten steht, dient der Bezeichnung eines großartigen Safe Spaces.

Auf die Frage „Are you a man or a woman?“ antwortet Stafford mit „Yes“. Es ist ein Satz zum Verhältnis von Gender, der später für viele Demonstrationen, auch in Deutschland, auf Plakate gemalt werden sollte. Im Film sitzt Stafford auf einem Kindheitsfoto auf dem Schoß von Santa Claus – mit verschränkten Armen. Ein Archivbild als Sinnbild des Widersetzens. Welche Pronomen andere verwenden, ist Stafford gleich, solange sein Gegenüber ihm mit Respekt begegnet. Eine Einstellung, die auch Leslie Feinberg sein:ihr Leben lang vertrat. Gender ist in diesem Film an vielen Stellen komplexer und weniger statisch als es das heute – auch in queeren Kreisen – immer stärker wirkende Verlangen nach klar ausdifferenzierten Kategorien erlaubt.

Und schließlich ist da das Netz, das World Wide Web, als großer Ort der Verheißung. Seit den ersten Webseiten und Chaträumen der früher 1990er Jahren versprach das Internet nicht nur Verbindungen über nationale Grenzen hinweg, sondern auch das Neuschreiben von Geschlecht im virtuellen Raum. Stafford arbeitet zum Beispiel an einer Webseite über Getrude Stein und nennt sich dabei nicht „Webmaster“, sondern „Webmaven“, also Webexpert:in. Noch spannender ist Jordy Jones` Bericht über seine und Susan Strykers Arbeit am „Venus Extravaganza-Interface“, das die beiden als Ergänzung des webbasierten Projekt „Brandon“ der Multimediakünstlerin Shu Lea Cheang entwickelten. Benannt nach dem trans* Mann Brandon Teena, der 1993 in Nebraska ermordet wurde, thematisiert das vom New Yorker Guggenheim Museum in Auftrag gegebene Projekt genderbasierte Gewalt und fragt gleichzeitig nach den Wegen, wie Gender und Sexualität im Cyberspace als neuem öffentlichem Raum anders verhandelt werden können. Das Interface von Stryker und Jones gedenkt einer weiteren ermordeten trans*Person: der New Yorker Ballroom-Performerin Venus Xtravaganza (1965-88), die auch in Jenni Livingstons „Paris is Burning“ (1990) zu sehen ist. In einem imaginären Chatraum treffen Brandon Teena und Venus Xtravaganza aufeinander und lernen sich kennen. 2017 für heutige Webbrowser restauriert, ist „Brandon“ inzwischen wieder über das Guggenheim im Netz zugänglich (direkt zum Xtravanganza-Teil-Archiv geht es außerdem hier).

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Der virtuelle Raum ist in „Gendernauts“ also potentiell ein reparativer Gedenkraum, in dem ein Leben in gewisser Weise weiter gelebt werden kann. Der Cyberspace ist zum Zeitpunkt der Filmentstehung aber auch ein Ort, der verspricht, Beziehungen auf neue Art zu pflegen und Körperlichkeit anders zu erfahren. Sandy Stone erzählt von einem Kollegen, der davon träumt, seinen Körper gänzlich hinter sich lassen und nur noch im Netz zu leben. Sie selbst scherzt, dass sie gerne im Netz leben, mit ihrem physischen Körper aber in San Francisco bleiben würde.

Als realen Raum mit ebenfalls beinah utopischer Anmutung erscheint im Film die Tom-Waddel-Klinik in San Francisco. Hier kümmern sich Ärzt:innen wie Linette Martinez liebevoll und emphatisch um die trans* Community – und bilden damit einen krassen Gegensatz zu der Art und Weise, wie Ärtzt:innen leider allzu oft zu Gatekeeper:innen der Gendernormen erzogen werden. Genderqueerness, trans* Weiblichkeit und auch trans* Männlichkeit, der in späteren medialen trans*-Repräsentationen oft weniger Raum eingeräumt wird, stehen im Zentrum von „Gendernauts“. Mit Hida Viloria, die später als inter* Aktivstin bei Oprah Winfrey zu Gast sein wird und 2017 die Autobiografie „Born Both: An Intersex Life“ veröffentlicht, kommt zudem eine intergeschlechtliche Person zu Wort. Der Film verzichtet dabei bewusst auf die Reproduktion von Bildern medizinischer Gewalt. Die Chiffren, die Intergeschlechtlichkeit auf eine Metapher für Genderqueerness reduzieren, schweben im Laufe des Filmes dennoch implizit über einige Erzählungen – ein Problem, das die Queer Studies bis heute viel offensiver aufarbeiten müssten. Viloria selbst, die:der inzwischen gender-expansiv lebt, berichtet in humorvollen Anekdoten davon, wie lesbische Kommiliton:innen am College von ihrem:seinem Auftreten als High Femme eingeschüchtert waren und wie Viloria sich später Männlichkeit bis zu einem Punkt aneignete, an dem sie:er bei Kolleg:innen als „Super Dude“ galt. Ähnlich erfrischend ist es, wenn Sandy Stone unterstreicht, dass sie von Männern „im kulturellen Sinne“ spricht. Denn Gender ist Performance – und die Signale, die wir einander senden.

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Gut 20 Jahre nach „Gendernauts“ besuchte Treut für „Genderation“ einige der Protagonist:innen noch einmal. Das Netz ist im Zuge des Tech-Booms in San Francisco und der Bay Area zu seinem Generator der Gentrifizierung geworden. Mieten, Lebensmittel- und Heizkosten sind inzwischen so gestiegen, dass sich Max Valerio das Leben in der Stadt nicht mehr leisten kann. Er lebt inzwischen wieder bei seinen in die Jahre gekommenen Eltern, um die er sich kümmert. Susan Stryker und ihre Partnerin Mimi, die das Glück hatten, vor vielen Jahren ein Haus in San Francisco gekauft zu haben, erzählen, wie ihre Nachbarschaft, die eine traditionelle „working class neighborhood“ war, immer mehr zu einem Investitions- und Einzugsgebiet für die Tech-Industrie aus Silicon Valley wird, wie Häuser nacheinander verkauft und alle im gleichen Farbton angestrichen werden. Ihr Haus mit einer bunten und widerständigen Wandmalerei sticht als Zeugnis der Geschichte eines anderen San Franciscos heraus. Wo die Netzkunst und der Cyborg in „Gendernauts“ noch als Motoren eines Transfuturismus erschienen, wirkt in „Genderation“ der Backlash, den die Trump-Regierung vorangetrieben hat, tiefgreifend nach. Stafford, der inzwischen als trans* Mann lebt und ein Umzugsunternehmen in Oakland betreibt, lebt in der Wüste südöstlich von LA. Dass er sich keine Solarpanels leisten kann, liegt auch daran, dass die Trump-Regierung Subventionen für grüne Energietechnik wieder abgeschafft und erneut auf Öl gesetzt hat. Nun dominieren nicht mehr das verschachtelte Stadtpanorama San Franciscos, sondern der offene Highway, auf dem Stafford mit seinem Truck Meile um Meile zurücklegt, die Außenaufnahmen. Die Synthesizer im Soundtrack sind sparsam platzierten Gitarrenklängen gewichen. Klimakrise und Neofaschismus wüten durch das Land.

Susan Stryker, die seit „Gendernauts“ wegweisende Essays wie „Transgender Studies: Queer Theory’s Evil Twin“ (2004) veröffentlicht, einschlägige Transgender Studies Reader herausgegeben und die Transgender Studies Initiative an der University of Arizona gegründet hat, greift in „Genderation“ schließlich zu einem Bild aus einer filmischen Dystopie: Um die ewigen Verknüpfungen zu verändern, die zwischen der Biologie und sozialen Kategorisierungen heraufbeschworen werden, müssen wir uns „das binäre Geschlechtersystem quasi aus dem Körper herausziehen“, ganz so wie Neo es in „The Matrix“ (1999) tut, wenn er sich den Apparat, der sein Bewusstsein in der Matrix gefangen hält, aus dem Körper reißt. Stryker plädiert in „Genderation“ zudem dafür, Wege zu finden, nicht ständig wahrnehmbar und konsumierbar zu sein. Das Umprogrammieren ist also wortwörtlich zu nehmen, und so wiederholt Sandy Stone auch 20 Jahre später mit Nachdruck: „The code creates community.“




Gendernauts
von Monika Treut
DE 1999, 86 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

Als DVD und VoD