Freier Fall

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Genau zehn Jahre ist es her, dass „Freier Fall“ in die deutschen Kinos kam. Zum runden Geburtstag kehrt der schwule Kultfilm und Publikumshit über die Liebe zweier junger Polizisten mit Hanno Koffler und Max Riemelt in den Hauptrollen für einen Monat auf die große Leinwand zurück und ist – im Juli in der Queerfilmnacht. Unser Autor Paul Schulz feierte „Freier Fall“ 2013 als den wichtigsten schwulen deutschen Film seit „Sommersturm“, weil ihm etwas gelingt, an dem die meisten anderen Filme scheitern: Er zeigt keine Klischees, sondern echte Figuren, die so sind wie wir.

Foto: Edition Salzgeber

Provinzbullen
(oder: Dahinter, daneben und drauf)

von Paul Schulz

Große Momente der Filmgeschichte: Nathan Lane als Michelle Pfeiffers Nachbar in „Frankie and Johnny“, Rupert Everett als Julia Roberts bester, genervter Freund auf einer Hochzeit, Matthew Broderick in „Das Kuckucksei“, Niels Bormann in „Mondlkalb“, „Beautiful Thing“. Die, in denen ich mich selbst auf der Leinwand entdecke. Das ist meistens irgendwo hinter, wenn ich Glück habe neben und, in ganz seltenen Fällen, auf dem Hauptdarsteller. Auch deswegen gehe ich ins Kino, immer noch. Seit 30 Jahren.

Die ersten 12 davon, bis „Coming out“, sah ich überhaupt niemanden, der wie ich war. Es gab schon Homosexuelle: bei Visconti oder Pasolini oder John Schlesinger, aber die hatten mit meinem jungen, schwulen Leben in der ostdeutschen Provinz ungefähr so viel zu tun wie Robert Preston in „Victor/Victoria“: nüscht. Trotzdem war ich dankbar für ihre Existenz. Harvey Fierstein hat diesen Effekt in „The Celluloid Closet“ mal so zusammengefasst: „I like the sissy. Is it used in negative ways? Yeah, but… I’d rather have negative than nothing.“ Ich gewöhnte mich daran, dass man als Homosexueller im Film im Wesentlichen drei Möglichkeiten hatte: Arschverkäufer, Aschenbach oder armer Wurm. Dann kam das New Queer Cinema und eröffnete neue Möglichkeiten: Arschverkäufer, Aidskranker oder Araki. Ich war hingerissen. Bis ich nach einigen Jahren merkte, dass mir was fehlte: ich. Da war ich genervt. Und bin es noch. Kleinlich, oder? Welches Recht habe ich schließlich, von dem großen leuchtenden Viereck vor mir zu erwarten, gerade mich abzubilden? Jedes.

Weil, immer wenn ich mich sehe, und das ist so gut wie nie, durchfährt mich ein unendliches Gefühl der Erleichterung: Es gibt mich. Im Licht, da oben. Und alle können es sehen.

Dieses Gefühl ist nicht besonders. Jede Minderheit (Frauen, Farbige, Fette) kennt es, musste und muss sich einen Umgang damit erarbeiten, hat damit zu kämpfen. Frauen sind nicht nur Huren oder Heilige, sondern eben auch Marge Gunderson, Farbige nicht nur Beverly Hills Cops oder Sklaven, sondern auch „Precious“, Fette nicht nur Annie Wilkes sondern auch Melissa McCarthy in „Mike & Molly“. Normalität ist inzwischen fast normal. Für Homos ist der Anspruch nur relativ neu: Sie sind immer noch vor allem Stricher, Feingeister oder Comic Relief. Bei jeder Diskussion über Homosexualität im Kino, bei der ich verlange, so was wie gewöhnliche Homosexuelle sehen zu wollen, schlagen mir von queerer Seite Variationen zweier alter Denkmuster entgegen, die noch mehr nerven als die alten Bilder, und ungefähr so klingen: „Sei froh, dass es uns im Kino überhaupt gibt“, oder: „Sei froh, dass die nicht wissen, wie langweilig wir wirklich sind.“ Was das Heteronormierteste ist, was man so sagen kann, weil es sich eben an angenommenen heterosexuellen Sehgewohnheiten orientiert und das Außergewöhnliche liefern will, um zu gefallen. In den letzten Jahren kam der „James-Franco-Effekt“ hinzu: heterosexuelle Filmemacher, die die Belastbarkeit ihrer eigenen Toleranzgrenzen testen, indem sie sexuell explizite Homofilme drehen, in denen sie schwule Sexualität nicht zeigen, sondern ausstellen, danach auf Filmfestivals mit ihrem minimalen Erkenntnisgewinn protzen und von mir Dankbarkeit für die durch sie hergestellte Sichtbarkeit meiner Leute oder ein Lob für ihren ‚queeren‘ Wagemut erwarten. Sorry James, not gonna happen.

Foto: Edition Salzgeber

So richtig schwierig wird es aber erst, wenn ich immer mal wieder mitbekomme, wie filmmächtige Queerlinge selbst mit Filmen umgehen, die einen eher durchschnittlichen schwulen Lebensentwurf anbieten: Wieland Speck sagte in einem Interview vor der diesjährigen Berlinale, so was wie „Freier Fall“, ein wunderbarer, deutscher Film über zwei schwule Polizisten, könne jetzt überall laufen und bräuchte eine Einladung zum Panorama deswegen nicht. Echt? Wo sind denn die offensichtlich im Dutzend vorhandenen und überall gespielten Filme über schwules Leben in Deutschland? Hab ich was verpasst? Gab es seit „Sommersturm“, der immerhin neun Jahre auf dem schmalen Buckel hat, auch nur einen einzigen schwulen Mainstreamerfolg im deutschen Kino? Den Teddy hat mit „Im Namen des…“ 2013 ein poetisches Meisterwerk über einen polnischen Priester gewonnen, das mit meiner eigenen Lebensrealität und der der allermeisten schwulen Kinozuschauer ungefähr so viel zu tun haben dürfte wie jeder Film über einen schwulen Priester: nüscht. Haben wir es wirklich so satt oder haben wir einfach nur solche Angst davor, das, was wir in der breiten Masse sind, im Kino zu sehen? Böse Frage, ich weiß.

Deutsche Produzenten und Redakteure könnten jetzt antworten, dass schwule Durchschnittlichkeit doch niemand sehen will oder, dass die echt durch ist. Und tun das oft. Ich halte mal die Zuschauerzahlen von „Brokeback Mountain“, „Aimee und Jaguar“ und „The Kids Are All Right“ und die Kritiken für „Weekend“ dagegen. Vielleicht muss man nur angstfrei eine queere Geschichte erzählen, vor deren Allgemeingültigkeit man nicht davonrennt, sondern die man voraussetzt, und hat dann Erfolg?

Foto: Edition Salzgeber

Diesen Versuch unternimmt der eben schon erwähnte „Freier Fall“. Und bekommt etwas hin, was ich eben seit „Sommersturm“ nicht im deutschen Homo-Kino gesehen habe: Er traut sich an die ganz großen Brocken und jongliert publikumswirksam mit ihnen.

Das sieht so aus: Hanno Koffler spielt Marc, einen Polizisten, der mit seiner schwangeren Freundin Bettina (Katharina Schüttler) gerade ins Haus neben seinen Eltern gezogen ist, irgendwo in der deutschen Provinz. Er lernt bei einer Fortbildung den Kollegen Kay (Max Riemelt) kennen. Der kifft und fährt einen dicken Jeep und kann schneller laufen als Marc. Beim gemeinsamen Training passiert ein erster, zufälliger Kuss, dann nichts. Marc fährt nach Hause, schläft mit Bettina, lässt sich von seiner spießigen Mutter (Maren Kroymann) bekochen, geht zum Dienst. In der zweiten Runde der Fortbildung trifft er Kay wieder, der ihn während eines gemeinsamen Waldlaufs nochmal küsst und mehr macht, woraufhin Marc ihm wegrennt. Wieder geht es nach Hause. Und es passiert nichts, außer, dass Marc grübelt. Bis Kay sich in seinen Zug versetzen lässt. Und etwas anfängt, von dem man weiß, dass es kein gutes Ende nehmen kann. Obwohl „Freier Fall“ so was wie ein Happy-End hat, wenn auch kein herkömmliches.

Foto: Edition Salzgeber

Drehbuchautor Karsten Dahlem war Tom Tykwers Regieassistent bei „Drei“, es ist sein erstes Drehbuch. Regisseur Stephan Lacant hat noch nie vorher einen Langfilm gedreht. Beides merkt man nicht. Die Szenen und Bilder sitzen, die Handlung nimmt in eleganten Bahnen ihren Lauf, 100 Minuten sind schnell um, weil hier drei Schauspieler (Koffler, Riemelt, Schüttler) auf der Höhe ihrer Kunst zu sehen sind, die darin besteht, dass man die Kunst nicht sieht, sondern echte Menschen. Ein Regisseur weiß, was er zeigen, und ein Autor, was er erzählen will. Ein Freund und ich sitzen atemlos im Großstadt-Kino und gruseln uns vor den Insignien unserer Herkunft: einstöckige Einfamilienhäuser mit einem Stück Rasen dahinter, davor mit Wicken umrankte Carports. Und im Mauerwerk die Haustüren: massiv, Plastik, wie ein luftdichter Deckel für all die Lügen und Geheimnisse, die hinter ihnen lauern.

Von denen es im Laufe des Films immer mehr gibt, bis Bettina mit Kind geht und Marc begreift, wer er ist und was das heißt. Dazwischen gibt es die eindringlichsten Sexszenen zwischen zwei Männern, die mir im deutschen Kino je begegnet sind. Weder Koffler noch Riemelt scheuen sich davor, ihre Körper zu blanken, schauspielerischen Instrumenten zu machen, an denen voyeuristische Augen schlicht abrutschen, weil sie viel mehr als nur Nacktheit erzählen. Glück ist schwierig und gelingt nur in Momenten, wenn man sich nicht sehr darum bemüht.

Foto: Edition Salzgeber

Nichts davon drängt sich einem auf, weder Dahlem noch Lacant verraten ihre Figuren ans Publikum und das Ensemble weiß, dass alle gebraucht werden, um die Geschichte zu erzählen. Selbst Kroymann, die ihre Rolle als homophobe Mutter als offensichtliche Karikatur hätte anlegen können, spielt auch nur eine Frau, der ihr Lebensentwurf entgleitet und die nicht weiß, was werden soll. Niemand ist das Arschloch, aber alle sind im Arsch. Klischees werden gezeigt, aber schnell umschifft oder als solche ausgestellt. Es darf gelacht und geflennt und mitgelitten werden.

Kino eben. Für den Kopf und den Bauch und den Schritt. „Freier Fall“ ist ein Film, der das ganz Außergewöhnliche in komplett gewöhnlichen Existenzen findet, die Momente, an denen sich Leben drehen. Und der dann in der Lage ist, einfach zu beobachten, wie sich Menschen in solchen Situationen verhalten.

Hanno Koffler ist kein Neuling, was schwule Rollen anbelangt. Vielleicht deswegen gelingt ihm mit Marc die vollständigste vielleicht schwule Figur seit langer Zeit. Es ist einfach nur eine große Freude, was er hier macht und wie er das tut. „Freier Fall“ ist sein Film, auch wenn es vielleicht Riemelt sein wird, der mehr Aufmerksamkeit bekommt, weil er das bekanntere Gesicht ist. Die beiden Schauspieler sind seit Jahren befreundet, was dazu beigetragen haben dürfte, dass ihre gemeinsamen Szenen eine leichte, ganz und gar realistische Intimität haben. Was die heißt, bleibt dankenswerter Weise offen. Man kann „Freier Fall“ als Coming-out-Drama sehen, macht den Film damit aber vielleicht kleiner, als er ist. Der erste der vorschlägt, Marc könnte schwul sein, ist weit in der zweiten Stunde des Films Kay, während eines Wutanfalls, um den Geliebten zu einer Entscheidung zu zwingen, die dieser verweigert. Als wenig später Bettina wissen will, ob Marc schwul ist, verneint der das und bekommt ein halb gefluchtes „Was bist du dann?“ zur Antwort. Eine Frage, die er sich selbst in den verbleibenden Filmminuten beantwortet, aber nicht notwendigerweise dem Zuschauer.

Foto: Edition Salzgeber

Der Film nimmt nicht vor der komplexen Gefühlslage reiß aus, die hier erzählt wird, sondern lässt seinem Publikum Raum, um sich selbst einen Reim auf das Gesehene zu machen. Ich erzähle das sofort jedem, der es hören will.

Das Resultat: Noch während der Berlinale streite ich mich mit einer Freundin, die den Film noch nicht gesehen hat, per Facebook-Chat darüber, ob sie reingehen soll oder nicht. „Zwei Bullen in der deutschen Provinz, und einer hilft dem anderem aus dem Schrank. Na Hilfe! Wie oft soll ich das denn noch sehen? Das ist doch garantiert wieder so Kram für’s geneigte Heteropublikum ohne jeden queeren Ansatz und die fassen sich nicht an. Stimmt’s?“ „Wirklich nicht. Guck ihn doch einfach.“ „Ich will das überhaupt nicht sehen. Bewegungskino! Aber kannst du mir Karten für den Franco besorgen?“ Ich sitze mit knirschenden Zähnen im Büro. „Nein, kann ich nicht.“ „Wieso denn nicht?“ „Da hätten wir also einen Film, der eine Annäherung an deutsche, schwule Realität versucht, mit tollem Buch, großartigen Schauspielern, feiner Regie, realistischen Sexszenen und einer Reihe spannender Fragen an seine Figuren und sein Publikum. Und einen heterosexuellen Hollywoodstar, der Schwule beim Blasen filmt, sich dabei von Travis Mathews helfen lassen muss und zwischendurch mit seinem Hauptdarsteller darüber diskutiert, wie freaky schwuler Sex doch ist, aber dass man bestimmt ein besserer Mensch wird, wenn man es aushält, sich das anzusehen. Während er das dann tut, macht er ein Gesicht, als ob er einer Augen-Operation beiwohnt.“ „Klingt doch aufregend.“ „Wir brechen die Diskussion an dieser Stelle ab.“

Es ist so: Es mag auch 2013 noch merkwürdig sein, queere Figuren im Kino zu sehen, die noch mehr zu tun haben, als queer zu sein, weil sie in einer Welt leben, die großen Teilen Deutschlands aufs Haar gleicht. Aber vielleicht, und das ist meine Vermutung, wartet das Publikum auf genau solche Figuren, weil es die Bodenhaftung braucht, die sie vermitteln, um sich den komplexen Fragen zu stellen, die queeres Leben heute bereit hält. „Freier Fall“ unterbreitet genau dieses Angebot. Es nicht anzunehmen, wäre dämlich.




Freier Fall
von Stephan Lacant
DE 2013, 100 Minuten,
deutsche OF,
Salzgeber

Im Juli in der Queerfilmnacht.

Hier auf DVD.

Hier auf Blu-Ray.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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