Freak Show

TrailerDVD / VoD

Jetzt als DVD und VoD: Billy Bloom will nur eins in seinem Leben: fabelhaft sein! Für den frühreifen Teenager heißt das, größten Wert auf die richtige Kleidung, auf Haare und Make-up zu legen, perfekten Sinn für den besonderen Auftritt zu haben und vor allem nie langweilig zu sein. In der konservativen US-Kleinstadtschule, in die ihn sein steinreicher Vater gesteckt hat, stößt Billy mit seinem Charisma auf breites Unverständnis und offenes Mobbing. Nachdem ihn eine Gruppe homophober Mitschüler krankenhausreif geprügelt hat, holt Billy zum Gegenschlag aus – und erklärt seine Kandidatur zur Homecoming Queen. Als High-School-Film getarnt, erzählt „Freak Show“ mit campem Humor, skurrilen Nebenfiguren und viel Herz die Außenseitergeschichte eines sonderbaren Jungen als nicht-heterosexuelles Selbstermächtigungs-Märchen. In Trudie Stylers Regiedebüt glänzen neben dem britischen Nachwuchsstar Alex Lawther („Departure“) auch Abigail Breslin („Little Miss Sunshine“) als biestige Chef-Cheerleaderin und Schauspielikone Bette Midler als Billys exzentrische, aber weitgehend abwesende Mutter Muv. Anja Kümmel über einen extravaganten Coming-of-Age-Film, der eine Lanze für die Magie des schillernden Andersseins bricht.

Foto: Edition Salzgeber

Gotta Be Me

von Anja Kümmel

Könnte sich Oscar Wilde eine Gestalt aussuchen, in der er erneut auf der Erde wandeln dürfte, seine Wahl fiele zweifellos auf Billy Bloom. Schon als Kind hat die schillernde Hauptfigur in Trudie Stylers „Freak Show“ unentwegt ein Zitat des irischen Ästheten auf den Lippen. Und selbst wenn er mit Eigenkreationen aufwartet – wie etwa sein Lebensmotto: „Ich hab’s mir nicht ausgesucht, fabelhaft zu sein. ,Fabelhaft‘ hat mich ausgesucht“ –, könnten diese gut und gerne von Wilde höchstpersönlich stammen.

Stylers Regiedebüt basiert lose auf dem gleichnamigen Roman der Ex-„Club Kid“-Legende James St. James („Party Monster“, 2003). Und eine bessere Besetzung als den 1995 geborenen britischen Schauspieler Alex Lawther könnte man sich für die Rolle des postmodernen Dandys kaum vorstellen. 2014 gab Lawther in „The Imitation Game“ sein Spielfilmdebüt als junger Alan Turing, in „Departure“ (2015) spielte er seine erste Hauptrolle – erneut als schwuler Teenager. Mit seiner androgynen Gestalt, der hohen Stirn und den welligen Haaren wirkt er in der Tat wie eine Wiedergeburt des scharfzüngigen Poeten.

Im Gegensatz zu Wilde lässt Billy Bloom jedoch nicht nur seinen boshaften Kommentaren und spitzen Bemerkungen freien Lauf, sondern auch seiner Queerness und Drag-Leidenschaft – was in seiner neuen Umgebung, in die er zu Anfang des Films verpflanzt wird, nicht so gut ankommt. Nachdem seine exaltierte, freigeistige Mutter (großartig: Bette Midler) von der Bildfläche verschwindet, muss Billy zu seinem Vater (Larry Pine) nach Texas ziehen. Der ist zwar stinkreich und kann Billy ein Luxusleben in einer gigantischen Villa mit Angestellten bieten, hat jedoch in seiner schablonenhaften Anzugträger-Maskulinität zu seinem extravaganten Sohn keinen Zugang. Sein Credo lautet: „Der Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen.“ Im krassen Kontrast dazu geistert die abwesende Mutter als idealisiertes Sehnsuchtsbild durch Billys Tagträume, nebst deren Rat: „Wenn das Leben dich tritt, trittst du einfach höher!“

Foto: Edition Salzgeber

Und das tut Billy dann auch: In ausladenden Röcken, meterlangen Schleppen, und natürlich mit den höchsten Slingpumps, die sein unerschöpflicher Kleiderschrank hergibt. Auch in die neue Schule stolziert Billy schon bald als Marilyn Monroe, Adam Ant, oder kunstblutbeschmierte Gothic-Braut. Hauptsache: „Glamour, Prunk und eine gute Frisur!“ Mit sichtlicher Lust am Übermaß inszeniert die Regisseurin Billys Auftritte als Modenschauen und Kampfansage zugleich, gefilmt in Slow Motion, im Hintergrund die mausgrauen, gaffenden Mitschüler. Um deren Attacken und Wurfgeschossen zu entgehen, kommt Billy anderntags im Fechtanzug, dann mit Skibrille zur Schule. Selbst aus seinen Verteidigungsstrategien zieht er noch Fashion-Potential. Eine Buchvorstellung zu „The Great Gatsby“ verwandelt er gar in eine Multimedia-Show, mit ihm selbst als Zombie-Zelda in der Hauptrolle. Wie Billy die Klassenräume und Schulflure Tag für Tag in seinen persönlichen Laufsteg verwandelt, wie er der Ablehnung, die ihm entgegenschlägt, mit immer größerem Exzess begegnet, hat unbestreitbar visuelle Kraft und brennt sich ins Gedächtnis. Funktioniert allerdings nur – und das ist eine Falle, in die der Film gelegentlich tappt – durch die stereotype Kontrastfolie der biederen Kleinstadt und der formlosen Masse konformistischer Schüler_innen, aus denen auch Billys wenige Verbündete nicht wirklich herausstechen.

Foto: Edition Salzgeber

Dass Billy schließlich von ein paar homophoben Mitschülern ins Koma geprügelt wird, ist leider nur allzu realistisch. Die folgende platonische Romanze mit dem sensiblen Quarterback Flip (Ian Nelson) und die überspitzte Märtyrer-Geschichte, in die sich „Freak Show“ mehr und mehr verwandelt, allerdings eher weniger. Nach einem halbherzigen Versuch, sich an Jeans und Sweatshirt zu gewöhnen (nun sieht er wirklich aus, als sei er in Drag!) läuft Billy noch einmal zu Höchstform auf: Einem spontanen Impuls folgend, verkündet er seine Kandidatur als „Homecoming Queen“. Was das bedeutet, mag für deutsche Zuschauer_innen vielleicht nicht ganz nachvollziehbar sein – in den USA jedoch steht diese nicht totzukriegende Praktik an High Schools und Colleges, bei der das beliebteste (schönste) Mädchen und der beliebteste (sportlichste) Junge gekürt und für den Abschlussball zusammengeführt werden, wie kaum eine andere für die Aufrechterhaltung klassischer Geschlechterrollen und Heteronormativität. Klar, dass Billy diese Tradition um jeden Preis brechen muss.

Foto: Edition Salzgeber

Styler verlässt sich bei dieser dramaturgischen Zuspitzung darauf, dass wir selbstverständlich und beindingungslos mit Billy mitfiebern, der schließlich von Anfang an als Held und Märtyrer der Geschichte inszeniert wird (bzw. sich selbst inszeniert). Doch auch wenn alle, die je in der Schule gemobbt wurden, ihm innerlich applaudieren mögen, wenn er erhobenen Hauptes eine neueste Pailletten-Kreation präsentiert – eine durchweg sympathische Figur ist Billy darüber hinaus nicht unbedingt. Ohne je seine Privilegien zu hinterfragen, setzt er die Ressourcen seines reichen Daddys ein, um sich ins Rampenlicht zu spielen, wobei er seine Mitmenschen herumkommandiert, als seien sie samt und sonders seine persönlichen Bediensteten. Überhaupt scheint er seine Umwelt einzig in Bezug darauf wahrzunehmen, ob/wie sie ihm nützlich sein könnten. So benutzt er seinen dauerquasselnden Sidekick (Anna Sophia Robb) – deren Namen er bezeichnenderweise nicht einmal kennt – im Prinzip nur als Sekretärin und Marketingleiterin für seinen großen Auftritt, während ihr Redeschwall von seinen eigenen Gedanken überblendet wird. Geradezu karikaturhaft wirkt Billys Konkurrentin um das Amt der „Homecoming Queen“, Lynette (Abigail Breslin): eine bigotte, bibeltreue Blondine, die direkt aus der Trump-Familie herauskopiert sein könnte.

Foto: Edition Salzgeber

Gegen diese Hintergründe und Feindbilder hat Billy Bloom leichtes Spiel, im wahrsten Sinne des Wortes zu „blühen“. „Ich muss ich selbst sein“, verkündet er mehrmals trotzig, und, in seiner großen Wahlrede: „Ich bin, wer ich bin.“ Dem kann man nur zustimmen – und fragt sich zugleich unwillkürlich: Wer ist Billy eigentlich, abgesehen von einer Aneinanderreihung opulenter Kostüme? Selbst allein in seinem Zimmer oder mit Flip beim Picknick im Garten scheint er permanent zu performen. In einigen Momenten schafft es Styler, Billys Selbstbezogenheit und Empathielosigkeit als mögliche Antworten auf seine emotionale Vernachlässigung zu zeigen, etwa in dem peinlichen betrunkenen Auftritt seiner Mutter, der Billys kindliche Idealisierung endgültig zusammenbrechen lässt. Doch fügen sich diese Szenen nicht recht ins comichaft überzogene Gesamtkonzept.

Was bleibt, sind viele unvergessliche Kostüme und einige schlagfertige Bonmots. So fragt ihn eine Reporterin (Laverne Cox), wie er sich identifiziert, und wirft ihm die gängigen Schlagworte hin: „Schwul, hetero, transgender?“ Billy erwidert mit kokettem Augenaufschlag: „Transvisionär? Gender-Ignorierer?“ Originelle Neuschöpfungen, die sich wunderbar auf Buttons und Wimpel für die nächste Gay Pride drucken ließen. Ebenso wie Billys spontan erdachtes Wahlprogramm: „Ich bin für Glamour und gegen Khaki. Ich bin für jedes künstlerische Risiko und gegen jede Kategorisierung.“




Freak Show
von Trudie Styler
US 2017, 91 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD (deutsche Fassung): € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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