Ein Virus kennt keine Moral (1985)
DVD
Rosa von Praunheims 1985 produzierter Spielfilm „Ein Virus kennt keine Moral“ war einer der ersten überhaupt, der die damals noch neue Krankheit Aids thematisierte. Den Ängsten und der Hysterie begegnet er mit schwarzem Humor und einer makabren Revue. Ganz anders seine Dokumentarfilm-Trilogie, in der von Praunheim fünf Jahre später den politischen und künstlerischen Aktivismus im Zeichen von Aids zu beleuchten versucht – und vor allem im letzten Teil „Feuer unterm Arsch“ zum zornigen Moralprediger wird, der staatliche Repression fordert. Eine Rolle, die ihm weit weniger gut stand, wie sissy-Autor Axel Schock schreibt.

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Politik der Moralisierung
von Axel Schock
Der Titel wirkte damals schon befremdlich. „Schreck von drüben“ hatte DER SPIEGEL im Mai 1982 einen Artikel überschrieben, in dem erstmals in der deutschsprachigen Presse von „einer „Reihe geheimnisvoller, nicht selten tödlicher Krankheiten“ unter schwulen Männern in den USA berichtet wurde. Ärzte hätten sich daher „mit den Bräuchen der Homosexuellen-Szene beschäftigt“, um der geheimnisvollen Krankheit auf die Spur zu kommen. Allein in den kommenden drei Jahren werden im SPIEGEL rund 60 weitere Texte zu dieser neuen Epidemie, darunter einige Titelgeschichten erscheinen.
Doch bereits mit diesem ersten Artikel hatte das Hamburger Nachrichtenmagazin den Ton gesetzt für eine sensationsheischende wie diffamierende Berichterstattung mit immer apokalyptischeren Untergangszenarien – und unter schwulen Männern gleichermaßen Angst und Verunsicherung, wie Wut und Empörung ausgelöst. „Ich las im SPIEGEL zu Tode erschreckt den Artikel über die tödliche Schwulenkrankheit, den schwulen Krebs, an dem in New York jeden Tag einer stirbt“, notiert der Filmemacher Rosa von Praunheim in seinem Tagebuch. „Sie schreiben sehr zynisch.“ Nur zweieinhalb Jahr später wird er selbst für den SPIEGEL schreiben und dessen Politik der Moralisierung und die Forderung nach strengen Maßnahmen unterstützen.
1985 waren die offiziellen Fallzahlen in Deutschland noch gering, doch mit Blick auf die USA war Schlimmstes zu befürchten, und die Medizin stand dem neuen Virus weitgehend hilflos gegenüber. In der schwulen Community wuchs die Verunsicherung bis hin zur Panik, andere reagierten mit Verdrängung, Verleugnung und Ignoranz. In der Politik und in Medien wie BILD und SPIEGEL hingegen wurde bereits offen eine staatlich angeordnete Absonderung und „Konzentrierung“ der Aidskranken gefordert.
Man muss sich diese gesellschaftspolitische Atmosphäre in Erinnerung rufen, um zu verstehen, wie der Berliner Regisseur Rosa von Praunheim damals auf die Aidskrise reagierte – und zwar als erster Filmemacher in Deutschland überhaupt. Doch anders als man erwarten könnte, ist „Ein Virus kennt keine Moral“ weder ein pädagogischer Aufklärungsfilm, noch ein um Verständnis und Mitgefühl werbendes Drama. Stattdessen überraschte von Praunheim mit einer grellen, polemischen Revue voll schwarzem Humor.

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Ein reaktionärer Saunabesitzer (gespielt von Praunheim selbst), der mit einem Theologiestudenten (Christian Kesten) zusammenlebt, will in seinem Etablissement keine Kondome verteilen, weil dies dem Geschäft schaden könnte. Eine Therapeutin (Ina Blum) bietet Todesmeditationen für Aids-Kranke an. Eine Skandalreporterin (Eva-Maria Kurz) verkleidet sich als Mann, um so inkognito die Schwulenszene ausspionieren zu können – und trifft dabei auf einer Klappe den eigenen Sohn in Flagranti. Prof. Dr. Blut (Maria Hasenäcker) vom „Institut für Seuchen, Pest und Tod“ kommt angesichts der goldenen Zeiten für die Pharmaindustrie ins Schwärmen: „Aids eröffnet uns einen solch weiten Markt an Möglichkeiten. Auch finanziell ist jetzt etwas zu holen.“
Aber, Karma is a bitch. Auf einer Expedition in Afrika auf der Suche nach den Anfängen der Seuche wird die Forscherin von Grünen Meerkatzen gebissen und dabei mit dem Virus infiziert. Am Ende haben alle Aids, die Pflegerinnen auf der Krankenstation schließen wetten ab, wer zuerst sterben wird, und die Regierung verfrachtet alle Infizierten ins Exil nach Hell-Gay-Land. Zum Abschied gibt’s am Steg ein Ständchen mit deutschem Liedgut: „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“.
Im Rückblick erscheinen viele dieser oft kabarettartigen Auftritte wie krude und völlig aus der Luft gegriffene Szenarien. Tatsächlich aber bilden sie, lediglich leicht zugespitzt, den Diskurs dieser Zeit ab. Es gab damals tatsächlich die monströse Idee, Helgoland zur Quarantäne-Insel für HIV-Infizierte zu machen. Auch die Schlagzeilen, mit denen das Büro der Boulevardjournalisten tapeziert ist, sind echt. Ja, da wurde ernsthaft eine feuchte Aussprache als Infektionsrisiko ins Spiel gebracht.
Stilistisch ist diese Kollektivproduktion, die von Praunheim mit seinen Protagonist:innen aus der Berliner Tunten- und Schwulenszene entwickelte, wohl am besten als Revue zu bezeichnen. Trotz des sichtlich schmalen Budgets gibt es sogar Musiknummern, beigesteuert von der West-Berliner Tuntentruppe „Die Bermudas“.
Die innerhalb weniger Monate realisierte, bitterböse Rundum-Attacke gegen schwule Dummköpfe, rücksichtslose Geschäftemacher in den eigenen schwulen Reihen, gegen zynische Mediziner:innen, die Spekulationspresse und verlogene Frömmler:innen war schamlos überzeichnet – und zugleich der akuten Situation im Entstehungsjahr 1985 weit voraus. Einige der grellen Szenen reißen in ihrer Übertreibung manche der zentralen Debattenthemen an, die in den Folgejahren den Diskurs um Aids bestimmen sollten. Etwa die Frage, ob der Schutz der gesellschaftlichen Mehrheit über der Freiheit des Einzelnen steht oder ob zwischen „unschuldigen Aidsopfern“ und selbstverschuldeten Erkrankten unterschieden werden muss.

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„Ich hoffe, dass mein Film auch einen Teil leisten kann, um Ängste abzubauen und dass die Form der Komödie, der Groteske, des Tuntenhumors ein Weg ist, sich lustvoll zu engagieren, zu helfen – ohne Druck und falsche Moral“, hatte von Praunheim 1985 seine Herangehensweise begründet.
Nicht alles, worauf „Ein Virus kennt keine Moral“ anspielt, dürfte für jüngere Menschen, die die Aidskrise nicht direkt miterlebt haben, zu entschlüsseln und zu verstehen sein. Die Sache mit den Meerkatzen etwa. Der zwischen Trash, Drama und Kolportage oszillierende Film vermittelt jedoch auch nach über 40 Jahren immer noch die kreative und politische Energie, mit der man 1985 auf die existentielle und damals schwer einzuschätzende Bedrohung reagierte. Das liegt auch an manch pointierten Zuspitzungen wie etwa der Auftritt der Kabarettgruppe „Die 3 Tornados“ als perfide Regierungsberater.
An anderer Stelle rutscht die Satire dann aber auch in vordergründigen Klamauk ab. Seine Message jedoch formuliert von Praunheim deutlich: nämlich die Gefahren anzuerkennen, die sich durch das neue Virus ergeben haben – und deshalb das promiske Sexleben zu überdenken. Und nicht zuletzt in dieser Krise die mühsam erkämpften Rechte von Homosexuellen zu verteidigen.
Von Praunheim geht damit auch mit der schwulen Community ins Gericht, ist aber keineswegs so selbstherrlich richtend, wie in Teilen der einige Jahre später entstandenen Aids-Trilogie (1990/1991), die mit dem Film „Schweigen = Tod“ beginnt. Die Arbeit an seinem früheren Dokumentarfilm „Armee der Liebenden oder Aufstand der Perversen“ über die homosexuelle Emanzipationsbewegung in den USA hatte in den 70er Jahren Praunheims Verständnis von politischem Aktivismus geprägt. Sie war und blieb für ihn Vorbild, ihr fühlte er sich näher verbunden als der Homosexuellenbewegung in Deutschland. Er erlebte die Eskalation der Epidemie in den US-Metropolen wie auch die Mobilisierung von Teilen der Community auf direktem Wege mit.
In „Schweigen = Tod“ – der Titel lehnt sich an den Slogan der Aktionsgruppe ACT UP („Silence = Death“) an – porträtiert von Praunheim Akteur:innen der New Yorker Kunstszene, die unmittelbar durch Aids betroffen sind und ihre Kunst als dezidiert politischen Aktivismus verstehen. Von Praunheim erweist sich hier als überraschend zurückhaltender Interviewer. Er gibt seinen Protagonist:innen den Raum, sich zu ihrem Umgang mit der Krankheit und ihrer Arbeit zu äußern und ihre Kunst zu zeigen. Gleich mit den ersten Szenen, wenn sich der Performancekünstler Emilio Cubeiro eine geladene Waffe in den Hintern schiebt und abdrückt, fordert Praunheim sein Publikum heraus. David Wojnarowicz schreit in seinem Spoken-Word-Vortrag seine Wut auf die Ignoranz der US-Regierung und seine Verzweiflung über das mit Aids verbundene Elend direkt in die Kamera. Mit den bildenden Künstler Don Moffet und Keith Haring, dem Künstlerkollektiv Gran Fury oder der Avantgarde-Sängerin Diamanda Galás kommen zudem eine ganze Reihe weitere wichtigster Akteur:innen zu Wort, die sich in ihren Arbeiten offensiv mit Aids auseinandersetzen. Porträtiert wird zudem auch das NAMES Project, das mit dem Aids-Memorial-Quilt eine individuelle wie öffentliche Form des Trauerns und Gedenkens schuf.

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In dem parallel entstandenen Dokumentarfilm „Positiv“ widmet sich von Praunheim dem Aids-Aktivismus in den USA. So besucht er beispielsweise Larry Kramer, den Mitbegründer der Aids-Hilfsorganisation Gay Men’s Health Crises und führenden Kopf der Aids-Aktionsgruppe ACT UP, die mit spektakulären wie innovativen Protestformen der Regierung, den Kirchen und der Pharmaindustrie den Kampf angesagt und die Demonstrationskultur nachhaltig geprägt hat. Für diese beiden Teile seine Aids-Trilogie wurde von Praunheim 1990 mit dem Teddy Award der Berliner Filmfestspiele ausgezeichnet. Sie bleiben ein wichtiges Dokument einer der tiefsten Krisen der queeren Community der Nachkriegszeit.
In der Bundesrepublik war zu dieser Zeit ein richtungsweisender Kampf entschieden. Der bayrische CSU-Staatssekretär Peter Gauweiler hatte mit seiner Strategie der Stigmatisierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung von Menschen mit HIV und Aids keinen Erfolg. Durchgesetzt hatte sich die neue CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Sie lehnte Gauweilers Forderungen nach namentlicher Meldepflicht, Zwangstests und Schließung schwuler Treffs ab und setzte stattdessen auf Prävention durch Aufklärung und auf eigenverantwortliches Handeln.
Im dritten Teil seiner Aids-Trilogie wendet sich von Praunheim nun der Situation in Deutschland bzw. in Berlin zu – und wechselt die Seiten, wie es ihm viele Kritiker aus den eigenen schwulen Reihen vorwarfen, etwa der Journalist Elmar Kraushaar. Waren „Positiv“ und „Schweigen = Tod“ vor allem emphatische Reportagen, in denen sich von Praunheim als Person auffallend zurückhält, so ist „Feuer unterm Arsch“ ein filmisches Pamphlet und fragwürdiger Frontalangriff auf wichtige Akteure der Schwulenbewegung. Ihnen wirft er Ignoranz gegenüber der lebensbedrohlichen Situation vor, was er auch schon zuvor getan hatte. Doch wo von Praunheim in „Ein Virus kennt keine Moral“ mit polemisch und provokativen Mitteln Aufmerksamkeit zu erregen suchte, holt er in „Feuer unterm Arsch“ zu einem wütenden, die Grenze der Denunziation überschreitenden Rundumschlag aus.
Von Praunheim porträtiert zunächst einige Berliner schwule Männer und deren Umgang mit ihrer Aidserkrankung, darunter den Kabarettisten Günther Thews, von den „3 Tornados“. Doch Safer-Sex-Aktivisten, so die Message Rosa von Praunheims, sind eine Minderheit. Stattdessen werde weitergefeiert und ohne Kondom weitergevögelt, als gäbe es kein Morgen und kein Virus. Dass Aidshilfen, der Berliner Abgeordnete der Alternativen Liste Dieter Telge, der Journalist Matthias Frings oder der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker statt auf Verbote vielmehr auf Prävention und Selbstverantwortung setzen, ist für Praunheim nicht nachvollziehbar.
Sie kommen zwar kurz zu Wort, erhalten aber kaum Raum, um ihre Argumentation ausführen zu können. Das Urteil hat der Filmemacher da längst gefällt. Für ihn sind sie „Schuldige am Tod von vielen Unschuldigen“, und „Kriminelle“, die es zu bekämpfen gilt. In einem Text der Begleitung zum Kinostart im Mai 1990 im SPIEGEL, legte Praunheim noch nach. Seine Philippika mündet in der Sehnsucht nach staatlicher Repression und einem hart durchgreifenden Mann: „Vielleicht wäre es besser, wir hätten mehr Gauweiler und weniger Süssmuth gehabt.“
Praunheim kalkuliert platzierte Provokation sorgte für die gewünschte Aufmerksamkeit. Ob er mit den Reaktionen gerechnet hat, ist zu bezweifeln. Es gab Boykottaufrufe, wütende Proteste, Praunheim wurde zur Persona non grata erklärt. Aidshilfen und Positivengruppen sagten ihre Mitwirkung bei Veranstaltungen rund um die Premierentour des Films ab. Von den drei Teilen der Aids-Triloge ist „Feuer unterm Arsch“ am schlechtesten gealtert. Denn anders als in „Ein Virus kennt keine Moral“, wo die Übertreibung der Wirklichkeit zu deren Kenntlichkeit beiträgt, sind hier die Verzerrungen, Vereinfachungen und Auslassungen Mittel zum Zweck, nämlich um von Praunheims persönliche Agenda und Sicht zu untermauern.
Ein Virus kennt keine Moral
von Rosa von Praunheim
DE 1985, 82 Minuten, FSK 16,
deutsche OF
Auf DVD erhältlich