Dennis Cooper: Die Schlampen

Buch

Der gänzlich aus fiktiven Web-Einträgen, E-Mails und protokollierten Telefonaten bestehende Roman „Die Schlampen“ von Dennis Cooper aus dem Jahr 2004 ist erstmals in deutscher Sprache erschienen. Der kalifornische Autor entwirft darin ein Gedankenspiel um Fantasien und Identitäten, um Wahrheit und Lüge, um Abhängigkeiten und extreme Formen von Liebe und Sexualität. Anja Kümmel hat sich in dessen düstere Gedankenwelt vorgewagt – und genoss die virtuose Verschachtelung und die ironischen Spitzen.

Zu allem bereit

von Anja Kümmel

Auf den ersten Blick hat Dennis Coopers Neo-Briefroman „Die Schlampen“ etwas beinahe rührend Anachronistisches an sich: Es wird gemailt und gefaxt, von Pagern und Anrufbeantwortern ist die Rede; eine E-Mail endet nicht etwa mit dem Aufruf „Folgt mir auf Instagram!“, sondern „Piept mich an!“ Zugleich ist dieser komplett aus Web-Einträgen, Forumsdiskussionen, E-Mails und Telefon-Protokollen zusammengesetzte Roman (im Original 2004 erschienen) außerordentlich hellsichtig, denn er nimmt vieles voraus, was mit dem Aufkommen von Social Media virulent geworden ist, wie etwa Fake News, Trolling und Hate Speech. Die Möglichkeiten und die Macht des Digitalen haben es dem 1953 geborenen Skandal-Autor ganz offensichtlich angetan: Etwa zur selben Zeit wie „Die Schlampen“ entstand ein weiterer unbedingt lesenswerter, wenn auch thematisch eher untypischer Cooper-Roman, „God Jr.“, in dem ein trauernder Vater in den digitalen Avatar seines verstorbenen Sohnes schlüpft und in dessen Computerspielwelt eintaucht, um ihm auf diese Weise näher zu sein. Vergleicht man die beiden Bücher – die transgressive, durch und durch queere Sex-und-Gewalt-Orgie „Die Schlampen“ und das eher zurückhaltend erzählte „God Jr.“ über den Trauerprozess eines Hetero-Paars – schälen sich trotz aller Unterschiede zwei zentrale Gemeinsamkeiten heraus: eine Faszination mit dem Tod und der Wahrheitsfindung.

Seit 2017 hat es sich der Luftschacht-Verlag zur hehren Aufgabe gemacht, einige bisher nicht auf Deutsch erhältliche Romane des US-amerikanischen Enfant terrible der queeren Literatur für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich zu machen. Wohl um Cooper-Neulinge nicht zu verschrecken, begann Luftschacht-Verleger Jürgen Lagger mit „God Jr.“, in dem sich Coopers universelle Themen voll entfalten, nicht aber sein Hang zu Trash, Splatter und der Darstellung extremer Sex-Praktiken, die seinen übrigen Büchern oft den Vorwurf einbrachten, bloße Provokation zu sein.

Auch in „Die Schlampen“ kreist alles um einen toten Jungen. Nur dass diesmal nicht ganz klar ist, ob er wirklich tot ist, oder lediglich in den feuchten Träumen diverser Snuff-Fetischisten, die sich mit wachsender Erregung über ihn in einschlägigen Internet-Foren austauschen.

Dennis Cooper – Foto: privat

Formal ist „Die Schlampen“ einer der stringentesten Texte aus Coopers Feder: Er folgt einer geometrisch perfekten Struktur, in deren Mitte sich der Plot quasi an sich selbst spiegelt. Der erste Romanteil besteht aus einer Reihe Online-Bewertungen eines jungen Hustlers namens Brad. Augenfarbe, Haarfarbe, Schwanzlänge, Präferenzen („Top, Bottom, Versatil“) des Escorts werden abgefragt, gefolgt von der Frage: „Hat er erfüllt, was er versprochen hat?“ sowie einer Sektion, in der die Kunden ihren Erfahrungsbericht eintippen dürfen. Dieser „Brad“, kristallisiert sich nach einigen Rezensionen heraus, ist unglaublich süß (insbesondere sein Arsch), sieht aus wie 14, ist ein williger Bottom („zu allem bereit“), scheint aber auch ein gewaltiges Drogen-/Alkoholproblem und vermutlich die ein oder andere psychische Störung zu haben. Nicht nur die ekstatische Beschreibung der sexuellen Grenzerfahrungen mit diesem Jungen, sondern v.a. die sich mehrenden Widersprüche und Spekulationen rund um ihn lösen eine veritable Lawine an weiteren Spekulationen und Spinnereien aus. Schon bald herrscht heillose Verwirrung: Ist der „Brad“, der auf einige Behauptungen über ihn mit erbosten Klarstellungen reagiert, tatsächlich Brad? Oder heißt er in Wirklichkeit doch Steve oder Kevin, wie einige Rezensenten angeben? Ist „Brad“ in Wahrheit längst tot, zu bestaunen nur noch in einem ominösen, heiß begehrten Snuff-Video, das angeblich in Long Beach und San Diego die Runde macht?

Irgendwann meldet sich ein Mann namens Brian zu Wort, Brads Zuhälter/Sugardaddy/Lover/Retter/Killer, der behauptet, Brad sei unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt, weshalb er ihm, Brian, die Erlaubnis gegeben hätte, ihn beim Sex zu töten. An diesem Punkt schnellen die Anhänger harter Gewalt- und Snuff-Fantasien förmlich von ihren Sitzen und posten, was das Zeug hält – der Brad-und-Brian-Mythos ist geboren und gerät binnen kürzester Zeit außer Kontrolle.

Die graphische Darstellung immer drastischerer Sex-, SM- und Folterszenen (Cooper-Fans dürften darauf vorbereitet sein) ist sicherlich nichts für zarte Gemüter und nur mit einer fetten Triggerwarnung zu genießen. Doch machen sowohl die virtuose Verschachtelung der perversen Polyphonie als auch die immer wieder darunter aufblitzende Komik deutlich, dass es Cooper um weitaus mehr geht, als seine morbiden Fantasien zu Papier zu bringen.

Schon bald beginnen die Diskussionsteilnehmer einander als pathologische Lügner und Hochstapler zu beschimpfen; es folgen Selbstenttarnungen und Geständnisse, die ein paar Seiten später wieder zurückgenommen werden. Als der überforderte Webmaster den Thread schließt und die Diskussion rund um Brad und Brian in einem separaten Forum weiterläuft, ist es längst unmöglich geworden, sich in dem Dickicht aus Wahrheit und Fiktion zurechtzufinden. Und genau das dürfte Coopers augenzwinkernde Absicht gewesen sein. Klar ist einzig, dass wir (Lesenden) Teil einer Versuchsanordnung geworden sind, aus der uns Cooper so schnell nicht wieder zu entlassen gedenkt. Nach allen Seiten hin wirft er seine Angelhaken aus, bedient sich nonchalant in den Bilderwelten der Popkultur, der Pornographie, aber auch der Erkenntnistheorie. Denn letztendlich geht es in „Die Schlampen“ um hochphilosophische Fragen: Wie gelangen wir zu bestimmten Überzeugungen? Woher wissen wir, was wahr ist, und was nicht? Lässt sich unser individuelles Bewusstsein überhaupt von der kollektiven Fantasie trennen?

Hin und wieder bietet uns Cooper vermeintliche Autoritätsfiguren an – den Webmaster, „den echten originalen, wahren Brian“, oder jemanden, der Brad in Portland, Oregon gesehen haben will – denen wir ein paar Passagen lang Glauben schenken, weil sie irgendwie vertrauenswürdiger erscheinen als die übrigen Stimmen. Aber ist eine Information wirklich verlässlicher, nur weil darin das Wort „Fakten-Check“ auftaucht? Mit derlei kleinen Tricks führt uns Cooper immer wieder vor Augen, wie dankbar wir uns an Autoritäten klammern, wie sehr wir uns nach Ordnung und Struktur sehnen – und wie schnell wir in dem heillosen Durcheinander auf alles hereinfallen, was sich als „Tatsachen“, Ordnung und Struktur ausgibt. Man sieht den Autor förmlich in sich hinein kichern, wenn er einen Diskussionsteilnehmer die schockierende Vermutung äußern lässt, sämtliche Einträge könnten von ein und derselben Person stammen. „Das kann nicht sein!“ möchte man im ersten Moment ausrufen – dabei hat sich ja tatsächlich ein einziger Mensch all dies ausgedacht: Dennis Cooper.

Seine pointiert gesetzten Meta-Kommentare, seine ironischen Spitzen und seine Selbstreflexivität waren es wohl auch, die dem Roman und seinem Autor endlich eine gewisse Anerkennung außerhalb der Nische in der Nische einbrachten. Zwar liest sich „Die Schlampen“ ähnlich düster und verstörend wie die fünf Romane seines George-Miles-Zyklus, doch stehen das formale Experiment und der philosophische Anspruch in „Die Schlampen“ so sehr im Vordergrund, dass sich der Roman nicht einfach als perverse Fantasie abtun lässt. U.a. gewann er den französischen Prix Sade 2007, was vermutlich nicht allzu sehr überrascht. Thematisch steht Cooper ganz sicher in der Tradition eines Marquis de Sade oder auch Jean Genet – seine nüchterne, geradlinige Sprache dagegen erinnert eher an die unterkühlte Prosa von Bret Easton Ellis.

Im Gegensatz etwa zu „American Psycho“ sind Coopers Figuren allerdings keine kaltblütigen, amoralischen Killer. Immer wieder klingt durch all das (fantasierte) Gemetzel eine Verletzlichkeit und Sehnsucht, die sie ambivalenter und komplexer erscheinen lassen, als man es von Serienmördern erwarten würde. Deutlich wird dies vor allem in den Mails von „Brad“ an „Brian“, ein zentraler Abschnitt, der den Roman in zwei akkurat aneinander gespiegelte Hälften teilt. Zwar weiß man auch hier nicht, wer hinter den Verfassern steckt. Doch egal, wer die Mails schreibt, in der toxisch-leidenschaftlichen Dynamik zwischen Absender und Empfänger scheinen all die realen Traumata, all die Ängste und Projektionen auf, die zwischenmenschliche Beziehungen seit jeher vergiften können – auch abseits von Snuff-Porn und schwulem SM-Sex. „Wenn du mir hilfst, liebe ich dich, okay?“ schreibt „Brad“, nachdem „Brian“ ihm eröffnet hat, dass er jemand anders ist, als der, für den „Brad“ ihn hielt. Wer „Brad“, wer „Brian“ tatsächlich sind, wird an dieser Stelle vollkommen irrelevant – es geht allein um ein Gegenüber als leere Projektionsfläche für die eigenen Fantasien und Bedürfnisse.

In gewisser Weise kondensiert sich in „Brad“, was bereits mit der Kult-Figur George Miles geschah: Eine permanent fluide Identität wird endlos konstruiert und dekonstruiert, in dem verzweifelten Versuch, ihrer Essenz näher zu kommen – was sie jedoch, paradoxerweise, bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt. Nicht einmal im Tod, scheint Cooper sagen zu wollen, wird sich die „Wahrheit“ offenbaren.

Dass dieses repetitive Spiel rund um Identitäten, Fakten und Fiktionen irgendwann ermüdet, ist nur konsequent. Wie jede pathologische Obsession oder Pornographie à la Sade beginnt „Die Schlampen“ ab einem gewissen Punkt zu langweilen. Auch das hat Cooper mit einkalkuliert und im Text kommentiert: „Geht es nur mir so, oder ist der Spaß und die Erotik und die Faszination raus aus dieser Brad-Sache?“, schreibt ein User im letzten Kapitel. Es gibt keine „logische Weise“, diese Geschichte zu beenden; sie kann sich nur totlaufen – eine ungewöhnliche, mutige Entscheidung seitens des Autors. In den Köpfen seiner Leser_innen wird sie sich ohnehin fortspinnen.




Die Schlampen
von Dennis Cooper
Aus dem Englischen von Raimund Varga
Gebunden, 224 Seiten, € 24,00
Luftschacht Verlag

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