Die Orpheus Trilogie
Trailer • DVD / BluRay
Jean Cocteaus „Orphée“-Trilogie, entstanden zwischen 1930 und 1960, ist ebenso vom Surrealismus wie vom Klassizismus und der Privatmythologie des französischen Dichters, Zeichners und Filmemachers geprägt. Er passt den Mythos von Orpheus an seine Gegenwart an und erzählt von der Inspiration, den Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten eines Künstlers. „Das Blut eines Dichters“, „Orpheus“ und „Das Testament des Orpheus“ gibt es nun gesammelt als DVD- und BluRay-Box. Andreas Wilink nahm mit Freude auf dem Himmel stürmenden Pegasus von Cocteaus Künstler-Philosophie Platz und ließ sich forttragen.
Am Tisch der Götter
von Andreas Wilink
Schauen wir uns um! Und betrachten einige der die Zeiten überdauernden Filme, die um 1950 gedreht wurden. Eine Poetik der Tatsachen, der Härte und der Tränen durchglühen Vittorio de Sicas „Fahrraddiebe“ (1948), Carol Reeds „Der dritte Mann“ (1949) oder John Hustons „Asphalt-Dschungel“ (1950) und, in Form des Melodrams, sogar Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950) und Joseph L. Mankiewicz’ „All über Eva“ (1950). Nur etwa Luis Bunuels „Die Vergessenen“ (1950) und de Sicas „Das Wunder von Mailand“ (1951) wagen die Verzauberung einer krassen sozialen Wirklichkeit – und sei es um der Entzauberung willen.
Daneben steht nun Jean Cocteau, der „den Unterschied zwischen Geheimnis und Realität“ nicht sieht, für den die Realität („éffet de réalité“) das Geheimnis ist und der in seinem Tagebuch am 16. Juli 1951 notiert hat: „Realität gibt es nicht“. Aber ihn dem Surrealismus zuzurechnen, würde unterschlagen, dass in ihm ein romantisches Erbe wirkt, das freilich durch Spurenelemente des Pariser Dadaismus und des rasanten Futurismus „modernisiert“ wurde. Cocteau stellt sich der Gegenwart und Forderung des Tages entgegen, ruft die Nacht herbei und macht sich auf ins mythische Land, durch das freilich Automobile, Motorräder und Jazz-Rhythmen brausen, Radioapparate kryptische Nachrichten versenden und das dem vom Existenzialismus geprägten Nachkriegs-Frankreich verblüffend gleicht.
Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell schreibt in seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ (1949) von „Schlüssel-Bildern“ ganz im Sinne Cocteaus: „Wo immer die Poesie des Mythos als Biographie, Geschichte oder Wissenschaft verstanden wird, stirbt sie ab“. Cocteaus „Orpheus“-Trilogie umfasst drei Jahrzehnte, von „Das Blut eines Dichters“ aus dem Jahr 1930 über „Orpheus“ von 1950 bis zu dem essayistischen Epilog „Das Testament des Orpheus“ von 1960, fertig gestellt drei Jahre vor dem Tod des Regisseurs im Alter von 74 Jahren. Noch einmal spielt er – schmal wie ein Scherenschnitt, federleicht, die Haut dünn wie Papier – in dem Schlussteil den Fantômas des eigenen Lebens und vollzieht einen eleganten, mit Pathos-Samt umhüllten Seelen-„Striptease“. Er stellt sich selbst vor seine Richter, bekennt sich seiner „Unschuld für schuldig“ und erhält das Urteil: „Lebensstrafe“.
Der Absolutist Cocteau, der im filigranen 18. Jahrhundert womöglich lieber beheimatet gewesen wäre, jongliert mit Zeit, Unsterblichkeit und Paradoxien, inszeniert Wiederbegegnungen (an erster Stelle die mit der Cégeste-Figur aus „Orphée“) und nicht nur darin die eigene Legende. Er reitet seine Steckenpferde, zuvörderst den Himmel stürmenden Pegasus seiner Künstler-Philosophie. Allerorten scheint seine Privatmythologie durch, in der sich Götter, Jünglinge und weitaus sterblichere Menschen, Künstlerfreunde wie Charles Aznavour, Yul Brynner und Pablo Picasso (von dem er leichter Hand manch einen Zeichenstrich übernommen hat) und „sein“ Jean Marais als Ödipus sowie Halbwesen wie Harpyie, Zentaur und Stierkämpfer zur Leichenfeier versammeln und der Meister selbst als blinder Seher durch die Landschaft Südfrankreichs wandelt. „Dichter sein heißt, den Göttern nahe sein“, wie es Orphée definiert.
„Das Blut eines Dichters“ strömt direkt von Bunuel und Salvador Dalí her und ist durchpulst von einem lyrisch steilen Grundton, der aber auch den Paukenschlag des spectacle kennt. Dieser „Dokumentarfilm aus irrealen Ereignissen“ gehorcht der Traumlogik ebenso wie der Schaulust und linst durchs Schlüsselloch in die Kammern des Unbewussten. Konstruiert als Collage von „Schlüssel-Bildern“, die jedes für sich das poetische Programm des selbst als plastische Skulptur in Erscheinung tretenden Cocteaus verkünden und darin auch etwas Demonstratives haben. Der homo artista in Gestalt des gut gebauten Enrique Riveros tritt sowohl als expressiver Zeremonienmeister auf wie als aktives Opfer seiner Imagination. Manege frei für einen großen Maskenball und eine klassische Walpurgisnacht mit Traumgesichtern, Phantomen der Kindheit, Anrufung der Götter Eros und Thanatos, aus höherem Hokuspokus und antik gewandeter Kultfeier mit lyrischer Leier, aus Märchenstoff und Tricktechnik, in der ein Mund auf einer Handfläche erscheint, gemalte Augen auf geschlossenen Lidern liegen und Wesen aus Fleisch und Blut zur Skulptur einfrieren. Letztlich geht es um die produktive Selbstbefreiung des Dichters aus den Bannkreisen seiner Erinnerung – im Dienst seiner Unsterblichkeit.
Der Dichter als Enfant terrible, Clown Gottes, Magier und wahrsagender Lügner – das war die Rolle, die Cocteau sich selbst geschrieben und in der er, berauscht von seiner Fantasie (für nicht wenige bis zum Überdruss), brilliert hat. Wer Liebling der Götter sein will und den Spiegel als Schleusentor ins Unbewusste zu seinem bevorzugten Instrument erklärt, dem ist der Orpheus-Mythos nahe: dem Tod die Geliebte entreißen, die Liebe über den Tod triumphieren lassen. Cocteau hat sich den Stoff angeeignet und anverwandelt, zunächst als Theaterstück, dann als Film, dessen Herstellungsvorgang ihm zufolge bedeutet, „dem Tod bei der Arbeit zuzusehen“.
Das „Café des Poètes“ ist der Ausgangsort von Cocteaus Filmerzählung. Dort, wo es aussieht wie auf der Pariser rive gauche, beobachtet der viel bewunderte und ebenso verhasste Orphée den Unglückstod eines jungen Dichters, Cégeste, der von zwei Motorrädern erfasst wird und in der Limousine seiner Mäzenin, der „Prinzessin“, fortgeschafft wird, nachdem diese schwarz gewandete Dame Orphée angewiesen hat, ihr zu Diensten zu sein. Sie fahren zu einem Schloss, wo, wie schon in „Das Blut eines Dichters“, der Spiegel den Eintritt nach „Drüben“ gewährt. Madame La Mort, der weibliche Tod, denn um sie/ihn handelt es sich, ihre zwei Gehilfen und Cégeste durchqueren die Grenze, die vor unserem Auge und dem der Kamera als quecksilbrig flüssiges Element durchlässig scheint. Das technische Mittel der Doppelbelichtung steigert sich zum psychologischen Motiv. In der von Winden durchwehten Kunst-Gegenwelt, die (wie immer bei Cocteaus Filmen) Georges Aurics Musik programmatisch unterstützt, existieren andere Gesetzmäßigkeiten. Schwerelos – der Film läuft an einigen Stellen sekundenweise rückwärts – bewegen sich die Gestalten, geschrieben mit der „Tinte des Lichts“, im Schattenreich einer malerischen Trümmer- und Ruinenlandschaft. Cocteau, der auch Zeichner und überhaupt in allen Künsten zuhause war, benutzt die „Feder“ des Aufnahmeapparats für seine Bilder-Poesie der raffinierten Effekte, des kunstvollen Helldunkels und optischer Täuschung im Dienst (s)einer höheren Wahrheit. Cocteau: „Die Herren vom Kinematographen wissen nicht, dass nichts leichter ist, als einen schwierigen, und nichts schwieriger, als einen leichten Film zu machen.“
Auch in „Orphée“ gilt, wie oft in Cocteaus Werk, das Prinzip eines dualistischen Ichs, das seinen Weg durchs eigene Innere als äußeres Abenteuer nimmt. Orphée – verkörpert von Jean Marais, dessen klassisch geformtes Profil selbst einen griechischen Tempelfries schmücken könnte – kehrt mit Heurtebise, dem Chauffeur von Madame, einer menschenfreundlichen Hermesfigur und Vermittlungsinstanz aus dem Jenseits, heim zu seiner Eurydice. Aber er ist der Welt abhandengekommen. Abwesend lauscht er aus dem Rundfunkempfänger seltsamen Morsezeichen-Botschaften, einer Art konkreter Poesie, die Cocteau mit giftigem Hohn platziert.
Des Nachts sucht heimlich Madame La Mort, die Orphée unsterblich liebt, das Haus des Paares auf, tötet, ohne Weisung, Eurydice und verbringt sie in die Unterwelt. Orphée, der sich seiner Frau gegenüber der Vernachlässigung schuldig gemacht hat, folgt ihr mit Heurtebise. Ein wie von Kafka eingesetztes Tribunal – überhaupt scheint Cocteau der Prager Jahrhundert-Autor näher, als man vordergründig meinen würde – verurteilt das eigenmächtige Vorgehen der Sendboten. Das Paar darf – unter Schweigegebot und Anschauungsverbot – weiterleben, was nicht ohne komische Situationen abgeht, wenn sich Eurydice unter dem Tisch im Salon versteckt, damit Orphée sie nicht sieht. Aber es ist nun eher Zwang und Kompromiss einer Ehe. Orphée ist der menschlichen Meute entfremdet und verbunden seinem (weiblichen) Tod, die sich schließlich für den Geliebten opfert und ihr Schicksal erfüllt „in Träumen, die traurig sind“. Ihre Tränen sind noch schmerzlich ungeheuerlicher, als die des Königs Philipp in Schillers „Don Carlos“. La Mort ist die tragische Hauptfigur – ihre wesenlose Existenz, zeitlose Schönheit und Entsagungs-Religion das Symbol ewiger Liebe und unendlicher Einsamkeit. Verstärkt noch durch Cocteaus ursprüngliche Absicht, die Rolle mit den Leinwand-Göttinnen Marlene Dietrich oder Greta Garbo zu besetzen, die der Ruhm und die Erhöhung zum Idol zuletzt zur absoluten Unsichtbarkeit verdammt haben.
„Das Testament“ enthält, wie der Titel sagt, eben dies, Cocteaus künstlerisches Glaubensbekenntnis: „Fragen Sie mich nicht warum“, und endet mit dem Verschwinden des „seligen Geistes“ Jean, um es mit Christoph Willibald Glucks „Orpheus und Eurydike“ (1774) zu sagen und mit einer zu Boden fallenden Hibiskusblüte. Wir haben mit Cocteau seinen Traum geteilt, den prosaische Menschen für die Realität des Lebens oder für die Wirklichkeit der Kunst halten würden.
Die Orpheus Trilogie
von Jean Cocteau
FR 1930-1960, 220 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT und DF,
Arthaus/StudioCanal
Seit 2. Dezember auf DVD & BluRay erhältlich.