Der Moment: Teorema

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Christoph Klimke, Jahrgang 1959, lebt als Schriftsteller und Dramaturg in Berlin. Zuletzt sind von ihm der Gedichtband „Fernweh“ (2013) sowie ein langer biographischer Essay zum politisch-künstlerischen Engagement Pier Paolo Pasolinis erscheinen, „Dem Skandal ins Auge sehen“ (2015). Auch Klimkes persönlicher filmischer Moment führt ins Werk des 1975 ermordeten italienischen Dichters und Filmemachers: zu „Teorema“ (1968), Pasolinis visionärer Filmparabel über einen rätselhaften jungen Mann mit strahlend blauen Augen, der sämtlichen Mitgliedern einer Mailänder Industriellen-Familie die Köpfe verdreht.

Foto: Screenshot / cmv-Laservision

Der schöne Fremde

von Christoph Klimke

„Was halten Sie davon, wenn Ihnen der Kapitalist die Fabrik schenkt?“ Mit dieser Frage eines Journalisten an die Fabrikarbeiter beginnt Pier Paolo Pasolinis Film „Teorema“. Aber die Arbeiter wissen mit diesem Geschenk nichts anzufangen – und das im Jahre 1968. Da hätten andere Regisseure die roten Fahnen schwenken lassen. Doch der Reihe nach.

Eine Familie lebt in ihrer Villa in Mailand vor sich hin. Vater, Mutter, Sohn, Tochter und Dienstmädchen haben einander nichts mehr zu sagen. Da klingelt der Postbote Angelino und überbringt ein Telegramm. Das Hausmädchen leitet die frohe Kunden an die Familie am Esstisch weiter, die Kamera fährt auf die Schrift: „Ankomme morgen.“ Und tatsächlich kommt ein schöner Fremder am nächsten Tag und macht sich in der reichen Einöde breit. Als sei er die Projektionsfläche der ungelebten Wünsche, hat nun jeder der Reihe nach Sex mit ihm. Alles ist plötzlich anders. Als der Gast so seltsam wieder verschwindet, wie er gekommen ist, weiß jeder in diesem Haus, so wie bisher kann ich nicht weiterleben. Das ist der Moment dieser Parabel.

Wie kann ein Leben ohne Dionysos aussehen, oder will ich selbst Dionysos sein? Der Vater wird nicht nur seine Fabrik verschenken. Er wird am Ende einen nahezu biblischen Abgang haben. Was wird aus seiner Frau, aus der Tochter, die eigentlich nur ihren Vater lieben will? Und dem Sohn, der mit dem Fremden die Bilder von Francis Bacon anschaut? Übrigens: Wer Pasolinis ersten Film „Accattone“ kennt, wird sich an die Szene erinnern, in der der kleine Zuhälter Accattone mit seinen Freunden auf der Straße kämpft: Sie schlagen sich nicht, sie boxen nicht gegeneinander, nein, sie ringen mit sich, einander fest umklammert, und wälzen sich im Dreck. Solche körperlichen Verkeilungen hat Bacon gemalt.

Den größten Sprung wagen der Vater und das Dienstmädchen in „Teorema“. Der eine verlässt seine Welt vollkommen, die andere kehrt um in ihre alte Welt des Glaubens und der Wunder. Der Film endet mit einem Schrei: „Was mein Schrei auch bedeuten mag, er soll jedes mögliche Ende überdauern.“

Foto: Screeshot / cmv-Laservision

Als ich an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin und der Theatre Academy in Helsinki unterrichtet habe, zeigte ich „Teorema“ den neuen Studenten immer genau bis zu dem Moment, an dem der Gast geht: Die Studenten sollten die Geschichte der Protagonisten weiter erzählen. So hatten wir am Ende so viele Versionen wie Studenten. Dann führte ich Pasolinis Wege des Vaters, der Mutter, der Tochter, des Sohnes und des Dienstmädchens vor. Die Phantasie der meisten jungen Leute, von denen keiner je einen Pasolini-Film gesehen hatte, erwies sich als ziemlich blass. Übrigens, machen wir alten Film-Hasen uns da nichts vor: Pasolini, Fassbinder, Tarkowski, Regisseure, zu deren Filmen wir in die Programmkinos gepilgert sind, sind offensichtlich selbst bei Hochschülern, die Regie oder Choreographie studieren, vergessen. Mir war das gar nicht so unrecht, konnte ich so doch ganz im Sinne Pasolinis gegen diese Generation polemisieren, die sich auch nur bürgerlich um sich selbst dreht. Wahrscheinlich werden ihre Kinder, die ihnen gerade den Ökobrei in den Nacken kotzen, eines Tages gegen diese Nichtssager ihre Stimme erheben und das 11. Gebot verkünden: Zornig sollst Du sein und ungerecht oder ein Fremder wie in Pasolinis „Teorema“!




Teorema
von Pier Paolo Pasolini
IT 1968,
105 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & italienische OF mit deutschen UT,
cmv-Laservision

 

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