Der Kreis

Trailerrbb QUEER DVD / VoD

Morgen startet rbb QUEER in die zweite Runde! Bis zum 15. August laufen dann wieder jeden Donnerstagabend queere Filme im rbb. Wie im letzten Jahr begleiten wir die Reihe mit einer Artikelserie. Den Anfang macht das preisgekrönte Schweizer Dokudrama „Der Kreis“ (23h25 im rbb). Stefan Haupts Film über die gleichnamige Zeitschrift, die in den 1940ern bis in die späten 1960er Leser in der ganzen Welt hatte und das Medium einer der wichtigsten europäischen Schwulenbewegungen war, ist keine Geschichtsstunde. Er setzt, als Spielfilmversion einer wahren Geschichte, auf die exemplarische und doch ganz besondere Liebe zwischen Ernst und Röbi, die im Umfeld des Kreises zueinander fanden. In kurzen Dokumentaraufnahmen tauchen die beiden selbst im Film ihres Lebens auf – und bereichern die berührende Geschichte um die Dimension der eigenen Erfahrungen. Zur diesjährigen Eröffnung seiner queeren Filmreihe hätte sich der rbb am Abend des 50. Jubiläums der Stonewall Riots wohl keinen besseren Film aussuchen können. Sebastian Markt hat „Der Kreis“ für uns besprochen.

Foto: Edition Salzgeber

Eine Liebe als Maß der Zeit

von Sebastian Markt

Zürich 1956: Ein junger Lehrer steht vor einer Klasse in einer Mädchenschule. Er beginnt den Anfang eines Romans zu rezitieren: „Heute ist meine Mutter gestorben. Oder vielleicht war es gestern, ich weiß es nicht.“ Es ist „Der Fremde“ von Albert Camus, erschienen 1942. Der Lehrer heißt Ernst Ostertag und wird postwendend vom Schuldirektor für seine Lektürevorstellungen gemaßregelt. Der schlägt vor, sich, was die Literaturauswahl belangt, doch besser auf das 19. Jahrhundert zu beschränken. Eine andere junge Lehrerin, die das Gespräch mit anhört, fragt neckisch, ob „Madame Bovary“ vielleicht eine Möglichkeit wäre und erkundigt sich enthusiastisch, ob er bei seinen existentialistischen Lektüren auch schon auf „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir gestoßen sei.

Szenenwechsel. Ein dunkles Hinterzimmer, vielleicht ein Keller, Bücher säumen die Wände, Schreibmaschinengeklapper, ein Mann sitzt an einem Tisch, vor Briefen und Fotografien. Er liest aus einem vor: „Alles, was ich mir vornehme, zerbricht an meiner Veranlagung. Schlaflos wälze ich mich in meinem Bett und warte auf ein Ende.“ Der Lehrer, abermals, wird hereingeführt und beginnt ein zaghaftes Gespräch. Er möchte die Zeitschrift abonnieren, die in diesen Räumen verfertigt wird. Der Mann am Tisch, er ist der Redakteur, mahnt zur Vorsicht. Das Abonnement könne er sich ja überlegen, den Veranstaltungen des Zirkels solle er auf’s Erste noch fern bleiben. Bis er als Lehrer fest angestellt ist zumindest, und „unsereins“ nicht mehr so leicht gekündigt werden kann. Er gibt dem Lehrer noch ein Exemplar der Zeitschrift mit. Sie heißt „Der Kreis / Le Circle“. Es gibt Zeichen von Aufbruch, es gibt Zeichen von Gegenwind. Über den letzten Augenblicken der Szene beginnt eine Stimme aus dem Off: „Ich habe schon mit zwölf gemerkt, dass ich schwul bin. Und eine gewisse Spannung, dass man es herausfinden könnte, dass man schwul ist, die hat’s natürlich immer gegeben. Mit der hat man gelebt, von dem Moment an, als man wusste, dass man schwul ist. (…) Ich habe nie darüber geredet, das ist einfach ein Tabubereich gewesen.“

Zürich 2013: Zwei alte Männer sitzen vor einer Kamera, auf einem Sofa, nah beieinander. Der, der erzählt, heißt Ernst Ostertag, 84. Neben ihm sitzt sein Partner Röbi Rapp, sie sind seit mehr als einem halben Jahrhundert ein Paar. Gemeinsam werden sie einen Film lang ihre Geschichte erzählen, von ihrem Kennenlernen und ihrer Beziehung, von leuchtenden Momenten und düsteren, aus dem sicheren Ort einer geglückten Gegenwart.

Stefan Haupts Film „Der Kreis“ spielt in zwei Zeiten: Aus der dokumentarischen Gegenwart eines schwulen Paares, zweier Männer, die seit fast 60 Jahren ihr Leben miteinander verbringen, holt er aus, um eine fiktionalisierte Geschichte zu inszenieren, die Geschichte einer Zeitschrift und einer losen Organisation, einer Gruppe von Menschen, die versuchen, ihr gemeinsames Leben zu gestalten in einer Gesellschaft, die ihnen das nicht immer leicht macht.

Foto: Edition Salzgeber

„Der Kreis“ war eine Zeitschrift, die zwischen 1943 und 1967 in Zürich erschien, eine Zeit lang als einzige reguläre schwule Zeitschrift der Welt. Ihr Programm bestand aus Betrachtungen zum Zeitgeschehen, Berichten und Kommentaren, Kurzgeschichten und Gedichten, vorsichtigen Plädoyers für Emanzipation und zaghafter Erotik. Der Radius ihrer Leserschaft war beachtlich, sie erschien phasenweise dreisprachig und wurde, teilweise illegal, auch im Ausland verbreitet. Ihre Besonderheit lag aber auch darin, dass sich um die Redaktion und unter den Abonnenten ein soziales Netzwerk entwickelte, das ein Kristallisationspunkt einer schwulen Szene wurde, und deren Kernstück die regelmäßig organisierten und vom hauptverantwortlichen Redakteur Karl Meier alias „Rolf“ selbst und aufwendig inszenierten Bälle waren. In der Schweiz war Homosexualität seit 1942 entkriminalisiert, was Zürich eine Zeit lang (im Vergleich zum benachbarten Ausland insbesondere) in den Stand eines schwulen Mekkas versetzte.

Die Spannungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen dokumentarischen, lebensgeschichtlichen Interviews und Spielfilmszenen, die eine Geschichte inszenieren wie imaginieren, macht sich der Film dabei zunutze, um anders von seinem Gegenstand sprechen zu können. „Der Kreis“ erzählt eine schwule Geschichte im doppelten Sinn, als private Geschichte der Liebe zwischen Röbi und Ernst, als gesellschaftliche Geschichte der schwulen Subkultur in Zürich, als Geschichte der Bedingungen mithin, unter denen schwule Privatheit wie Öffentlichkeit möglich ist, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Seine spezifische Form, die als Dokudrama nur unzureichend charakterisiert wäre, weiß „Der Kreis“ einzusetzen, um aus der Zeitspanne zwischen erzählter und Erzählzeit eine Geschichte zu lösen, gerade in der Lücke zwischen Imagination und biographischer Erzählung etwas sichtbar werden zu lassen.

Foto: Edition Salzgeber

Das beginnt zuallererst damit, dass der Film die inszenierten Momente konsequenterweise nicht zur bloßen Animation historischer Oberflächen oder der schlichten Illustration historischer Überlieferung einsetzt. Die Referentialisierung von Vergangenheit zielt eher auf die Erfahrung historischer Intimität. Wenn Ostertag etwa zum ersten mal einen der ausschweifenden Maskenbälle besucht, auf dem er auch Röbi Rapp, der als Travestiekünstler oft der Star des Abends war, begegnet, dann spiegelt seine erstaunte Verwunderung ob dieser schwulen Opulenz auch das Glück eines Versteckes, in dem sich niemand verbergen muss.

Der Film verbringt die meiste Zeit mit den Anfangsjahren der Beziehung von Ernst und Röbi und den Glanzjahren der Zeitschrift. Er erzählt von den geschützten Räumen, die sich die Männer des „Kreises“ über die Jahre schaffen konnten, wie von den trotz Legalität noch ungeschützten, in denen man doch leben musste. Von den Versuchen, unter Bedingungen, die das eigentlich nicht zuließen, eine bürgerliche Existenz als schwules Paar zu schaffen, von Promiskuität aus Freiheit und solcher aus Unfreiheit. Er tut dies vor allem anhand seiner Charaktere und den Beziehungen, die sie eingehen, untereinander und zu der Umwelt draußen, zur Familie und an Arbeitsplätzen und in der Konfrontation mit den staatlichen Organen. Von „Rolf“, der zentralen Integrationsfigur, der sich mit nicht enden wollender Energie um seinen „Kreis“ und dessen Menschen kümmert, immer bemüht, die Spielräume, die die politische Situation zulässt, nicht allzu sehr auszureizen. Von Felix, einem anderen Mitstreiter, der als ungeduldiger Linker immer wieder darauf drängt, sich stärker für sein Recht einzusetzen. Von Ostertags Rektor, der sein Begehren unterdrückt, wo er nur kann. Von Ernst und Röbi und wie sie sich finden, zwischen den Zeiten. Im Raum zwischen den gealterten Männern, die vor der Kamera sprechen, und den inszenierten Vignetten vergangener Momente wird Geschichte als Gewordenes und Gemachtes erfahrbar.

Foto: Edition Salzgeber

Die repressive Toleranz, die die staatlichen Organe der schwulen Szene entgegenbrachten, fand mit zwei – mutmaßlich von Strichern begangenen – Morden und der einhergehenden medialen Dämonisierung ein jähes Ende. Es folgten bleierne Jahre, die von brutalen Razzien, Erpressungsversuchen und einer polizeilichen Registrierung von Homosexuellen gezeichnet waren. Zu den bestimmenden ästhetischen Entscheidungen des Films zählt auch, die stattgefunden habenden Erniedrigungen, Demütigungen und Misshandlungen durch die Polizei nicht erneut zu imaginieren und ins Bild zu setzen, sondern dort auf die Stimme derjenigen zu hören, denen diese Gewalt widerfahren ist. Von dem Ende der Zeitschrift, die unter den tektonischen Verschiebungen der 60er Jahre von offeneren und aggressiveren Magazinen immer mehr Leser verlor, erzählt der Film nur noch kurz.

Röbi und Ernst machten ihre Beziehung erst spät öffentlich, als Ernsts berufliche Stellung durch ein solches Coming-out nicht mehr gefährdet war. Eine gemeinsame Wohnung bezogen sie nach 30 zusammen verbrachten Jahren, 2003 waren sie das erste schwule Paar, das seine Partnerschaft am Standesamt in Zürich eintragen ließ. Karl Meier, der als „Rolf““den Kreis gegründet hatte und über zweieinhalb Jahrzehnte leitete, starb 1974 nach einer Reihe von Schlaganfällen. In den von Krankheit überschatteten Jahren pflegte ihn sein Freund Alfred Brauchli. Sein Grabstein trägt die Inschrift: „Einer der liebte, stirbt nicht aus der Zeit.“




Der Kreis
von Stefan Haupt
CH
2014, 100 Minuten, FSK 12,
deutsche SF, z.T. schweizerdeutsch OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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