Verfehlte Orte: Interview mit Christoph Geiser

Buch

Christoph Geiser, geboren 1949 in Basel, wurde als Spross einer alten Schweizer Familie mit autobiografisch geprägten Romanen schnell berühmt. „Wüstenfahrt“ (1984), sein literarisches Coming-out, leitete die erste Wende in seiner Schriftstellerlaufbahn ein. Es folgten Auseinandersetzungen mit Caravaggio, de Sade, Goethe und Piranesi, dann wieder Autobiografisches. So ist in 50 Jahren ein Werk entstanden, das so abwechslungsreich ist wie das richtige Leben und mindestens so intensiv und leidenschaftlich. Dabei ist Geisers Ringen mit dem literarischen Ausdruck und der Sinnhaftigkeit des Schreibens stets ebenso präsent wie die Durchdringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Perspektive des Außenseiters. Wir haben das Erscheinen des Erzählbands „Verfehlte Orte“ zum Anlass für ein Gespräch mit dem Autor genommen.

Haarscharf neben das erstrebte Glück

Interview: Joachim Bartholomae

Christoph, Du hast ein den letzten 50 Jahren viele Romane geschrieben, Bücher mit Titeln wie „Brachland“, „Wüstenfahrt“, „Gefängnis der Wünsche“. Nun hast Du eine Sammlung mit Erzählungen unter dem Titel „Verfehlte Orte“ veröffentlicht. Es scheint, als hättest Du damit einen Titel gefunden, der einen nennenswerten Teil Deines Werks ziemlich gut auf den Punkt bringt. Welche Rolle spielen verfehlte Orte für Dein Leben und Schreiben?

Es geht natürlich nicht nur um verfehlte Orte, verfehlte Orte sind auch verfehlte Liebschaften, verfehlte Utopien… mein Erzähler war immer ein Irrgänger, ein Außenseiter eben. Der Außenseiter ist überall fehl am Platz. Aus der Ordnung herausgefallen. Aus jeder Ordnung. Ganz konkret geht es mir aber in diesem Buch – und schon in den Romanen unmittelbar davor, die eben schon keine Romane mehr waren („Die Baumeister“, „Wenn der Mann im Mond erwacht“) – um Orientierungsverlust. Nach dem Untergang aller Utopien. Inbegriff dieser Perspektivlosigkeit sind doch die carceri d’inventione des Giovanni Battista Piranesi (Ausgangspunkt meiner „Baumeister“), diese Architekturphantasien, Raumfluchten als Kerker der Leere, in denen man sich verliert. Sich verlieren, sich verirren, nirgends ankommen… das ist das Thema der „Verfehlten Orte“. Gegenutopie wäre das verzielte Glück, laut Bazon Brock. Du musst haarscharf neben das erstrebte Glück zielen, dann wirst du glücklich!  Das ist vielleicht das literarische Glück, das die „Verfehlten Orte“ allenfalls zu bieten haben.

Du sagst, Dein Erzähler sei ein Außenseiter. Welche Rolle spielt die Autobiografie für Dein Schreiben, in der Vergangenheit und auch in „Verfehlte Orte“? Diese Erzählungen sind ja zum guten Teil im Alltag eines Bildungsbürgers angesiedelt, der bestimmten Segmenten der Wirklichkeit mit unglaublicher Detailversessenheit auf den Grund geht. Ist dieses Eindringen in den Mikrokosmos Deine Antwort auf den Perspektivverlust, den Du erwähnt hast?

Meine persönliche Geschichte und Erfahrungswelt ist immer der Ausgangspunkt meines Schreibens, das Autobiografische ist Material und Stoff meiner Literatur. Persönliche Erfahrung und Wahrnehmung sind auch die Grundlagen meiner Genauigkeit, meiner Detailversessenheit. Adolph Menzel, der Deutsche Realist des 19. Jahrhunderts, ein Zwerg, der durch diese Behinderung der Kleinwüchsigkeit unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen am sinnlichen Leben nicht körperlich teilhaben konnte, eignete sich die sinnliche Wirklichkeit durch zwanghaft akribische Detailgenauigkeit zeichnend an. Menzelchens Besessenheit der kleinen Einzelheiten im Alltäglichen ist eine Antwort auf die Völkerschlachten im Großen und Allgemeinen, dieser Weltumwälzungen… Menzel geistert durch meine verfehlten Orte, Menzel als Komplize gegen die Ideologien. Menzel als Antwort auf die Abwicklung der Utopien. Es ist kein Zufall, dass ich in den letzten Jahren Menzel entdeckt habe… Er kommt mir im Grunde mit seinem Konzept des kleinen Realen entgegen – als Befreiung vom großen Weltentwurf: der gescheitert ist. Menzels Überfülle der Dinge gegen Piranesis Kerker der Leere! Mich interessiert sein künstlerisches Konzept (genau so, wie mich auch Piranesis künstlerisches Konzept interessiert). Die Komplizität der Außenseiter, die – selbst wenn sie wirtschaftlich durchaus erfolgreich waren, Menzel und Piranesi waren keine Hungerleider – einen Mangel thematisieren, einen Mangel aufzeigen und damit der Kritik zugänglich machen.

Christoph Geiser – Foto: Yvonne Böhler

Du feierst nicht nur einen runden Geburtstag, sondern auch ein rundes Schriftstellerjubiläum: wenn ich mich nicht irre, hast Du vor gut 50 Jahren Dein erstes Buch veröffentlicht. Seitdem hat Deine Poetologie große Änderungen erfahren. Wie viel vom Christoph Geiser des „Brachland“, der „Wüstenfahrt“, des „Geheimen Fiebers“ steckt noch im Christoph Geiser der „Verfehlten Orte“?

Er selber – literarisch stilisiert. Der Clown mit seinem hilflosen Begehren; das, mit zunehmendem Alter, immer grotesker und hilfloser wird. Ohne Ironie wäre das nicht zu ertragen. Die Ironie ist geblieben… seit „Zimmer mit Frühstück“, meinem ersten Kurzroman.  Da begibt sich mein Ich als Marionette auf einen grotesk überorganisierten einsamen Urlaubstrip, der mit einem (simulierten) Selbstmord endet, der als Befreiung aus der bürgerlichen Zwangsjacke gemeint ist. In „Grünsee“ und „Brachland“ ist dieses isolierte Ich, das sich als Einzelgänger aus dem Familienverband absondert, eine Kamera für den Untergangsfilm seiner großbürgerlichen Familie, zudem wiederum ein unbeholfener Clown in fremden, geerbten Kleidungsstücken – der erkennt, dass er beständig dem „falschen“ Geschlecht nachschaut. „Wüstenfahrt“ – das Coming-out, endlich, dieser hölzernen Marionette als sinnliches Wesen; der Ausbruch aus der bürgerlichen Lebenslüge, das Aufbrechen des Konflikts zwischen Offenheit und Diskretion, der Zusammenbruch der bürgerlichen Fassaden. Das Coming-out führt dann aber doch wieder zu den unberührbaren Bildern… zu Eros und Thanatos, Liebe und Tod, dem unerfüllbaren, hilflosen Begehren: durch den plötzlichen Einbruch der Krankheit zum Tode in diesen Prozess einer Befreiung von der Angst. Die Angst kehrt zurück. Doch das Lächeln bleibt, die Distanz zur eigenen Vergeblichkeit. Der Außenseiter, der traurige Clown.
Und mit ihm, dem Erzähler, sind natürlich auch seine Themen geblieben, seine Motive, und, denke ich, auch ein Sprachduktus, selbst wenn sich dieser Sprachduktus verändert hat – mit zunehmendem Coming-out, zunehmendem Begehren (bei abnehmender Verwirklichung): die Verhaltenheit, die zwanghafte Genauigkeit, ist zunehmend einem Sprachduktus der Erregung gewichen. Jetzt bin ich eher wieder zu den Dingen zurückgekehrt, zur genaueren Betrachtung im Einzelnen. Und damit vielleicht auch wieder zur genaueren Betrachtung der bürgerlichen Lebenslüge, die in ihrer Extremform zum Mord führt – der letzte verfehlte Ort meiner neuen Erzählungen. Bliebe nicht die beständige Auseinandersetzung mit den eigenen Widersprüchen, die ich einige Romane lang durch eine sprachliche Explosion des Begehrens zu sprengen versucht habe, würde ich nicht weiterschreiben. Der letzte Bürger bin ich! Auch als Abtrünniger.

Mord als Extremform der Lebenslüge – in der letzten und umfangreichsten Erzählung im Band „Verfehlte Orte“, „Step by Step“, reist der Erzähler zu einem Mordprozess nach Lenzburg im Aargau. Vor drei Jahren hast Du bereits einen ganzen Band mit Texten über wahre Mordgeschichten veröffentlicht, „Da bewegt sich nichts mehr“, dieses Thema verfolgt Dich also offenbar schon länger. Als Soziologe habe ich gelernt, dass man das Funktionieren einer Gesellschaft an der Selbstmordrate ablesen kann – aber Dich interessieren die Morde. Warum?

Zunächst war’s primär ein rein literarisches Interesse und ein Zufall im Grund. Als ich 2007 in der „Zeit“ auf eine Reportage über den Leipziger Knabenmord stieß, sah ich sofort eminent literarische Motive in dieser Tragödie und eine schicksalshafte Struktur – Grundlagen für eine Novelle in fast Kleist’scher Manier, überdies Verbindungen zu Büchner, zu Woyzeck. Dazu kamen auch noch Bezüge zu den „Jagdszenen in Niederbayern“ von Martin Sperr und dazu noch, abgesehen von der Gesellschaftskritik, die spezifische Medienkritik an der Boulevardpresse. Daraus ist dann die Erzählung „Und immer wär’ Februar“ in dem Band „Da bewegt sich nichts mehr“ geworden. Beim Schreiben dieser Geschichten habe ich gemerkt, wie die Beschäftigung mit diesen Mordfällen für mich eine Befreiung vom Autobiographischen ist, es sind Fremdgeschichten, Mord ist mir ziemlich fremd, zugleich aber sind es dramatische Zuspitzungen meiner Themen: Gesellschaftskritik, vergebliche Liebe, unmögliche Liebe, Eros und Thanatos, Sexualität und Gewalt. In der Rupperswiler Mordgeschichte „Step by Step“ im neuen Band hat sich diese Zuspitzung noch einmal verschärft und ist dem Knotenpunkt meiner ureigenen Themen noch näher gerückt: Wenn in dieser urerzbürgerlichen schweizerischen Mittellands- und Mittelstandsgesellschaft ein junger Mann, der nichts als überangepasst sein will, realisiert, dass er ein sexueller Außenseiter ist (in der gegenwärtig brisantesten Ausprägung: nämlich pädophil) und dieses Außenseitertum unter allen Umständen leugnen zu müssen glaubt, seine Sexualität aber dennoch leben muss, leben will, dann wird’s mörderisch. Die mörderische bürgerliche Lebenslüge. Und das große Autodafé am Ende, das alle Spuren auslöschen und alles ungeschehen machen soll, funktioniert nicht. Die Alternative wäre natürlich der Selbstmord. Mit dem Selbstmord als Folge der bürgerlichen Lebenslüge (respektive als Folge des bürgerlichen Anpassungszwangs, dem zerbrechen daran) habe ich mich ausführlichst in meinen literarischen Anfängen befasst, insbesondere in meinem ersten Roman „Grünsee“.  Der Selbstmord ist mir zu nah – zu nah an meinen eigenen Möglichkeiten – der Mord, das ist die „Lösung“ der anderen.




Verfehlte Orte
Erzählungen

von Christoph Geiser
Gebunden, 176 Seiten, 20 €,
Secession Verlag

 

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