Mark Merlis: Halbstark

Buch

Das schwule Bewegungsgedächtnis reicht bei den meisten von uns mit Ach und Krach bis zu den Stonewall Riots vor 50 Jahren zurück. Mark Merlis geht in seinem neuen Roman „Halbstark“ weiter zurück: in die frühen Sechzigerjahre, als New York noch ein chaotischer Moloch war, mit Stadtvierteln, um die selbst die Polizei einen weiten Bogen machte. Im Mittelpunkt seines Buchs steht der jüdische Intellektuelle Jonathan Ascher, der dem spießigen Alltag seine revolutionären Ideen entgegenstellt und für kurze Zeit zur landesweiten Berühmtheit wird. Gabriel Wolkenfeld, Jahrgang 1985, hat das Buch gelesen.

Andere Stimmen, andere Zeiten

von Gabriel Wolkenfeld

Jonathan Ascher ist ein überheblicher Charakter, egoistisch, allzu sehr im Bewusstsein seiner intellektuellen Überlegenheit, Dozent für komparative Literaturwissenschaft, der den Glauben an seine Studenten verloren hat. Als überzeugter Kriegsgegner entlarvt er ihren Aktionismus gegen den Einsatz der US-Truppen in Vietnam als ein laues Aufbegehren. Als Autor erfindet er sich eine von Jugendbanden in hautengen Bluejeans bevölkerte Welt, in der es herrlich zwanglos zugeht. Damit spricht er den sexuellen Minderheiten im Amerika unmittelbar vor Stonewall aus der Seele. Halbstark, das Buch im Buch, wird ein Erfolg und macht ihn für kurze Zeit zum Propheten der Weltverbesserer.

Erzählt wird, ziemlich originell, über weite Strecken aus der Perspektive von Aschers latent homophober Witwe Martha. Am Ende ihres Lebens angelangt, steht die Hinterbliebene vor der Entscheidung, den Nachlass ihres vor drei Jahrzehnten verstorbenen Mannes für einen Biografen freizugeben. Mit einem zugekniffenem, einem aufgerissenen Auge liest sie die Tagebücher des einst gefeierten, nunmehr fast vergessenen Autors. Sie hat, ganz zurecht, Angst davor, wie sie darin abschneidet – dass ihr Leben, seinem Schaffen und Treiben untergeordnet, in zwei mickrige Zeilen passt. Ein wenig Unsterblichkeit, so hofft sie, muss drin sein. Gleichzeitig bangt sie, bestätigt zu bekommen, was sie immer geahnt hat. Zu erfahren, was sie womöglich nicht wissen will: Was ist zwischen ihrem Mann und dem Sohn vorgefallen? Mickey, der Abtreibung knapp entkommen, zieht schon als Jugendlicher der allabendlichen Vorstellung einer heilen Familie das innere Exil vor und akzeptiert später ohne Widerwillen das befristete Dasein als Kanonenfutter in Vietnam.

Der verstorbene Literat, der in seinen Tagebucheintragungen Zeitgeschehen und alltägliches Erleben festhält und kommentiert, wechselt sich mit der in seinem Nachlass lesenden Witwe ab, die seinen Blick um die eigene Position ergänzt – und ebenfalls kommentiert, in Frage stellt, sich rechtfertigt oder den Darstellungen ihres Mannes sogar widerspricht. Merlis macht somit etwas, was in der deutschen Literatur ziemlich verpönt ist: Er lässt seine Figuren denken. Nicht in Geistesblitzen, sondern ausführlich.

Mark Merlis – Foto: Robert L. Ashe

Obgleich der textliche Aufbau eine Verwechslung der erzählenden Instanzen verhindert, verschmelzen die Stimmen von Jonathan Ascher und Witwe mitunter. Dies sollte dem Autor jedoch nicht voreilig als Schwäche angekreidet werden. Martha Axelrod nämlich ist, obwohl sie auch nach dessen Tod kaum aus seinem Schatten tritt, dem Schriftsteller ebenbürtig. Sie ist sein weiblicher Gegenpart. Vieles, wofür er steht, lehnt sie ab. Dennoch war sie es, die erst sein Doppelleben ermöglicht hat. Sie hat ihn gedeckt. Sie hat es ihm leicht gemacht, ein Arschloch zu sein. Obwohl sie gerade retrospektiv keine großen Stücke auf ihn hält, ist sie auch im Alter, in der Gegenwart angekommen, nicht bereit, ihn einem Biografen zu überlassen, dessen eigene Biografie darauf schließen lässt, ihr verstorbener Ehemann könnte zu einer Ikone der Schwulenbewegung stilisiert werden.

Zum Idol taugt allenfalls der Autor, nicht die Privatperson. Jonathan Ascher ist ein eitler Gockel, ein intellektueller Quacksalber, der die Freiheit predigt und sich doch ganz in der Welt der Klappen eingerichtet hat, ein professioneller Weg- und Zuschauer. Umso mehr Einblick man in sein Handeln und Denken erhält, desto weniger möchte man ihn mögen. Trotzdem folgt man ihm gern, wenn er sich davonschleicht – wenn er Frau und Kind zurücklässt, um Dinge zu tun, die man, zumindest im Amerika der ausgehenden 1960er Jahre, nicht tut. Vielleicht, weil man sich in ihm wiedererkennt.  Weil man selbst immer wieder seine Ideale für ein wenig Komfort verrät. Nachdem er zu Hause verbissen den Sportteil des New Yorker studiert hat, pirscht er sich in Arbeiterkneipen an Heterokerle heran, und vor der Avantgarde vom anderen Ufer – Literaten samt hübschem Anhang – spielt er den Schriftsteller, der er gern wäre.

Mit dem Heranwachsen des Sohnes gewinnt das Buch noch einmal deutlich an Aufwind. Bald fühlt man sich als Zeuge eines Unfalls: Man weiß, das kann nicht gutgehen. Und hofft, der Vater möge sich besinnen und von dem Objekt der Begierde ablassen, das Fleisch von seinem Fleisch nicht anrühren, dieses Kind, das die Verwandlung zum Mann noch nicht vollzogen hat. Schließlich lässt man sich von der zerstörerischen Kraft, die dem Begehren innewohnt, doch mitreißen. Humbert Humbert, ebenfalls Literaturwissenschaftler, lässt grüßen. Merlis liefert, wie einst Nabokov, ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie wir zerstören, was wir lieben.

Dabei hätte es dieser tragischen Zuspitzung nicht unbedingt bedurft, zumal Merlis den Kern seiner Geschichte in eine Zeit bettet, als Vaterschaft und offene Homosexualität noch geradezu unvereinbar waren, eine Zeit, in der Männer, die mit Männern schlafen, noch nicht schwul waren, sondern: Männer, die mit Männern schlafen. Ascher selbst kommen die tanzenden Männer ziemlich albern vor. Stonewall schrumpft zu einer Notiz in seinem Tagebuch zusammen. Einem nachgeborenen Leser mögen die erwähnten Namen und Zusammenhänge nicht unbedingt geläufig sein, doch hilft das Buch, sich einmal vor Augen zu führen, was sich in den letzten fünfzig Jahren alles getan hat. Dennoch: Die Welt, die Ascher sich erdacht hat, ist Utopie geblieben. Sie wird Utopie bleiben. Merlis hat das erkannt und darauf verzichtet, das Buch einer Generation zu schreiben, die für Propheten keinerlei Verwendung hat.

In seinem Leben hat Merlis mehr Preise gewonnen, als Bücher veröffentlicht. Mit „Halbstark“, im englischen Original 2015 unter dem Titel „JD“ (kurz für Juvenile Delinquents) erschienen, liegt nun endlich – seit den 1980er Jahren! – wieder eines seiner Bücher in deutscher Übersetzung vor. Es handelt sich dabei keinesfalls um leichte Kost, aber eben auch nicht um Literatur, die erschöpft. Allenfalls am Ende eines Kapitels gelingt es dem Leser einmal, kurz auszusteigen. Solch einen Sog entfaltet dieser beneidenswert eloquent geschriebene Text. Mühelos kommt er daher. Kein Wort ist deplatziert. Keine unnötig verschachtelten Sätze nötigen den Leser zur Fahndung nach verlorengegangenen Satzgliedern. Nirgends gerät man ins Stocken. Gedanken werden nicht in schillernde Metaphern gekleidet. Die mitunter allzu scharfsinnigen Betrachtungen der Protagonisten werden durch Ironie, oft Selbstironie, gebrochen – oder durch einen Humor, hier fein und subtil, dort albernes Tuntengegacker. Nicht verwundern würde es, wenn der ein oder andere Schriftstellerkollege nach der Lektüre dieses wundervollen Buches sein Metier aufgeben würde.




Halbstark
von Mark Merlis
aus dem Amerikanischen von Joachim Bartholomae

Gebunden, 338 Seiten, 24 €,
Albino Verlag

 

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