Jan Stressenreuter: Weil wir hier sind

Buch

20 Jahre lang war Jan Stressenreuter ein literarischer Seismograf der schwulen Szene in Deutschland. Seine Bücher näherten sich dem Lebensgefühl seiner Generation aus immer wieder neuen, verblüffenden Richtungen an und hatten doch alle eins gemeinsam: Man merkte, hier schreibt jemand über Themen, die ihn selbst angehen, nicht abgehoben oder besserwisserisch, sondern bodenständig und im besten rheinischen Ton. Wenige Monate nach seinem plötzlichen Tod ist sein letzter, dystopischer Roman erschienen. Christian Lütjens hat ihn gelesen und verknüpft seine Besprechung mit einem persönlichen Nachruf.

Gegen das Vergessen

von Christian Lütjens

Seit seiner Teilnahme am Literaturpreis der Schwulen Buchläden im Jahr 1998 war Jan Stressenreuter in der schwulen (Literatur-)Szene dauerpräsent. Beinahe jährlich gab es ein neues Buch von ihm, alle erzählten direkt heraus aus dem Herzen der schwulen Identität, und auch wenn die Themen und Genres stark variierten (vom Aids-Drama bis zur Zeitreise in die 50er Jahre und von der Alzheimer-Parabel bis zur Köln-Krimi-Reihe war alles dabei), zeichneten sie sich vor allem durch zwei Qualitäten aus: Vitalität und Lebensnähe. Auch wenn Stressenreuter in Interviews stets bestritt, ein autobiografischer Autor zu sein, war er stets spürbar nah dran an seinen Figuren und Themen. Es waren halt schwule Themen und Figuren – erzählt von einem Mann, der sich wirklich für die (wie er es selbst nannte) „Nische“ der schwulen Literatur interessierte. Weil er selbst mittendrin stand im schwulen Leben. Deshalb war es ein Schock, als der Querverlag einen Tag vor Heiligabend 2018 den plötzlichen Tod von Jan Stressenreuter meldete. Keine Stressenreuter-Lesungen mehr in der queeren Buchhandlung um die Ecke? Kein Stirnrunzeln mehr darüber, was sich der Autor jetzt wieder für ein unerwartetes Sujet vorgenommen hat? Kein widerwilliges Tränenvergießen mehr beim Lesen seiner Bücher, weil er einen mit den ihm eigenen Pathossalven dann doch mal wieder gekriegt hat? Stattdessen Schweigen, für immer.

Aber wie es so ist: Menschen, die viel zu sagen haben, geben auch nach ihrem Ableben nicht so schnell Ruhe. Leerstellen, die sie reißen, werfen Fragen auf, Werke, die sie geschaffen haben, bekommen aus dem Blickwinkel der Endgültigkeit eine neue Dimension, Hinterlassenschaften schreiben ihre abgebrochene Geschichte fort. Im Fall von Jan Stressenreuter ist eine dieser Hinterlassenschaften der Roman „Weil wir hier sind“. Das Buch war zum Zeitpunkt des Todes bereits vollendet und wurde im März posthum veröffentlicht. Danach schien für kurze Zeit alles ein bisschen zu sein wie immer. Es wurden Lesungen anberaumt (bei denen der Autor diesmal zwar nicht selber am Pult saß, aber durch Schauspieler vertreten wurde), das Stirnrunzeln über den neuesten Genrewechsel stellte sich ein („Weil wir hier sind“ ist eine 400 Seiten lange Dystopie, die eine nahe Zukunft heraufbeschwört, in der Schwule und Lesben infolge weltweit grassierender Homosexuellenverfolgungen nur noch im Geheimen dahinvegetieren können), die Pathossalven prasselten und ein paar Tränen flossen. Letzteres vielleicht auch, weil die Vorzeichen diesmal etwas andere waren. Man liest nicht nur den neuen Stressenreuter, man liest den letzten. Dadurch bekommt eine Geschichte, der es an schweren Verlusten und endgültigen Abschieden nicht mangelt, ihren eigenen emotionalen Punch.

Jan Stressenreuter – Foto: Gernot Schubert

Man kann „Weil wir hier sind“ durchaus als eine Art erweitertes Best-of-Stressenreuter charakterisieren. „Best-of“, weil das Buch alle Spezialitäten des Autors vereint. Die realitätsnahe Beobachtung der Entstehung und Entwicklung schwuler Beziehungen ist ein ebenso zentrales Element wie ironische Dialoge, die allzu rührselige Passagen erden, während die unzensierte Beschreibung von Sex gleichsam selbstverständlich eine Rolle spielt wie auch ein tierischer Protagonist (der Affe Benji), der mehr ist als nur Beiwerk, sondern wesentlich zur Handlung beiträgt. „Erweitert“ ist das Ganze, weil der Autor diesmal mehr als sonst seinen eigenen (literarischen) Vorlieben Raum gegeben zu haben scheint. Dafür ist sowohl die Wahl des Stoffes bezeichnend (Stressenreuter outet sich im Vorwort selbst als Fan dystopischer Romane wie Orwells „1984“ und Cormac McCarthys „Die Straße“) als auch das Einbinden einer in die Handlung integrierten Hommage an Edgar Allan Poe sowie die Weiterverarbeitung einer Kurzgeschichte von Rick Hoyt aus „From a Burning House“, einer Anthologie des AIDS Project Los Angeles, die im Jahr 1996 erschien. Außerdem lässt Stressenreuter (bekennender Fan angloamerikanischer Literatur) erstmals einen Roman in den USA spielen. Oder besser: in Amerika. Denn die USA gibt es in „Weil wir hier sind“ nicht mehr.

Zum Zeitpunkt der Handlung (etwa 2036) sind die einstigen USA infolge von Bürgerkriegen und Putschen von einem wahnsinnigen Diktator (dem „Letzten Gesandten“) in „Republik Elysium“ umbenannt worden. Der Gewaltherrscher hat sich auf die Fahne geschrieben, das „wahre Amerika“ zu verwirklichen, wobei er sich neben Bücherverbrennungen und militärischer Unterdrückung der Meinungsfreiheit auch die Ausrottung von Schwulen und Lesben auf seine schwarze Fahne geschrieben hat. Das Regime ist das Produkt einer weltweiten „Ära des Populismus und Fundamentalismus (PopFun)“, im Rahmen derer in den 2030er Jahren auch in Europa und dem arabischen Raum homophobe Diktatoren das Ruder übernommen haben. Die Folge: Homosexuelle können nur noch im Untergrund leben. Allerdings sind sie selbst dort nicht sicher. Denn neben den politischen Gegnern werden Schwule und Lesben von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht, die „das Verschwinden“ genannt wird. Sie äußert sich durch Körpermale, die einfach nur ein Nichts, eine leere Stelle, hinterlassen und sich stetig ausbreiten – so lange, bis sich die Betroffenen sprichwörtlich in Luft auflösen. Da das Verschwinden nur Homosexuelle ereilt, ist es für die „Schwarzhemden“ des Letzten Gesandten ein untrügliches Erkennungsmerkmal. Die Betroffenen haben keine andere Wahl als unterzutauchen – bei couragierten Bürgern, die ihnen Unterschlupf bieten, oder auf unbewohnten Inseln, denen die Truppen des Letzten Gesandten keine Beachtung schenken.

Auf ein solches Eiland hat sich Luis gerettet, der seinen Freund John bereits an das Verschwinden verloren hat. Luis haust im Höhlenlabyrinth einer Felseninsel im Atlantik, gemeinsam mit einer Gruppe von 30 LeidensgenossInnen. Sie sind eine Zweckgemeinschaft aus Gestrandeten verschiedenster Nationalitäten und Hintergründe und ermähren sich von Lebensmittelreserven, die im Innern der Höhle lagern, weil die Insel früher als Militärbasis diente. Jeden Abend versammelt sich die Gemeinschaft um ein Feuer vor dem Höhleneingang, damit einer von ihnen seine Geschichte erzählen kann. Es sind schwer erträgliche Geschichten über Verfolgung, Folter und endlose Angst. Trotzdem hält die Gemeinschaft an diesem Ritual fest. Es ist ein Akt der Selbstvergewisserung, ein Manifest gegen das Vergessen. Jeder Bericht endet damit, dass die Zuhörer aufstehen und im Chor wie ein Mantra den trotzigen Satz ins Feuer sprechen, der ihnen allen Demütigungen und Anfeindungen zum Trotz das Gefühl einer Existenzberechtigung gibt: „Weil wir hier sind“.

Alle, die zuvor nicht verstanden hatten, was mit „Pathossalven“ gemeint war, dürften jetzt im Bilde sein. Allerdings gehören die bemühte Feierlichkeit des Titel-Mantras und die Schicksalsberichte nicht zu jenen Stressenreuter-Momenten, die zu Tränen rühren können. Diese Passagen sind oft etwas überrecherchiert und wirken in ihrer drastischen Spiegelung realer Begebenheiten aus der Nazi-Zeit sowie aktuellen Verfolgungsszenarien in Tschetschenien, Russland und dem Irak zum Teil unangemessen für eine quasi-fantastische Geschichte wie diese. Die wirklich anrührenden Momente kommen somit erst, als Luis sich auf eine Beziehung zu dem jungen Querkopf Noah einlässt. Gegen sein besseres Wissen. Denn im Gegensatz zu Noah weiß Luis, dass ihrer beider Vergangenheit auf verhängnisvolle Weise miteinander verknüpft ist. Erst als diese Verknüpfung im letzten Viertel des Buches anhand von Rückblenden in die Zeit vor der Regentschaft des Letzten Gesandten aufgelöst wird, ist Stressenreuter wirklich in seinem Element. Die Figuren werden lebendig, zuvor angedeutete Querverbindungen und Motivationen ergeben Sinn, die Geschichte entwickelt einen Sog. Außerdem kommt nun auf stimmige Weise das zum Tragen, was der Autor im Vorwort so beschreibt: „dass Dystopien durchweg moralische Lehrstücke sind. Immer wieder wird in ihnen die Frage gestellt, wie Menschen in Grenzsituationen reagieren: Behalten wir im Angesicht des Untergangs unsere Menschlichkeit unsere Fähigkeit zum Mitgefühl, oder werfen wir diesen ‚Ballast‘ im Überlebenskampf einfach über Bord?“

Stressenreuter ist zu reflektiert, um mit „Weil wir hier sind“ eine eindeutige Antwort auf diese Frage liefern zu wollen. Stattdessen dekliniert er die fließenden Übergänge zwischen Täter- und Opferrollen in allen erdenklichen Konstellationen durch. Dass er das in den ersten drei Vierteln des Romans vornehmlich anhand der Konflikte innerhalb der Höhlengemeinschaft tut, ist eine klare Schwäche des Buches, denn diesen Passagen mangelt es an dramaturgischer Zugkraft. Weder verfolgt man als Leser das Zusammenwachsen der Gruppe oder ihre Erarbeitung einer Perspektive, noch verfolgt man ihren systematischen Zerfall. Stattdessen wechseln sich die Schicksalsberichte am Feuer mit Beschreibungen der Annäherung von Luis und Noah sowie von Expeditionen auf der verlassenen Insel ab. Letztere haben durchaus Hollywood-Format, entführen in gespenstische Wälder und eine ausgebombte Stadt, werden von Angriffen entfesselter Wildhunde und zerstörerischen Erdbeben erschüttert. Letztendlich kann all das aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Luis, Noah und ihre Leidensgenossen eigentlich keine Perspektive haben außer ihr unvermeidliches Verschwinden abzuwarten. In Anbetracht dieser existenziellen Situation ist manch moralischer Diskurs eher nervtötend als erhellend und die Grundstimmung beim Lesen eher Vergeblichkeit als Spannung. Dass der Text als Überlieferung von Luis‘ schriftlichen Aufzeichnungen angelegt ist und zwischendurch von wissenschaftlichen Einordnungen eines „Forschungszentrums Homosexualität im Historischen Archiv“ der Universität Helsinki kommentiert wird, ist ein interessanter Ansatz, der das Ganze in eine ungewisse Zukunft fortschreibt, allerdings beißen sich auch hier das Bemühen um Realismus und die teilweise fantastische Handlung.

So ist der drittletzte Abschnitt, „Brich mir dein Herz“, in dem die Vorgeschichte von Luis und Noah ohne pseudo-wissenschaftliche Einschübe, in klassischer Romanform und aus der Sicht eines auktorialen Erzählers geschildert wird, nicht nur das Herzstück von „Weil wir hier sind“, sondern auch das eigentliche Vermächtnis des Schriftstellers Jan Stressenreuter. Es sind Texte wie dieser, für die man ihn am meisten vermissen wird. Aber auch die Unmöglichkeit, mit diesem streitbaren und eigenwilligen, aber trotzdem kritikfähigen Geist über die Unzulänglichkeiten der Vorgängerkapitel streiten zu können, ist ein großer Verlust.

Um zum versöhnlichen Finale also eine eigene kleine Pathossalve abzufeuern: Danke für alles, Jan. Für jedes Wort, für jeden Satz, für jedes Lachen und jede Träne, für alle kleinen und großen Glücksmomente, die du uns, deinen Lesern, beschert hast. Wir werden dir nichts davon vergessen. Willst du wissen, warum nicht? Weil wir hier sind.



Weil wir hier sind
von Jan Stressenreuter
Kartoniert, 416 Seiten, 18 €,
Querverlag

 

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