Das Mädchen mit den roten Haaren

TrailerDVD / VoD

Benny ist 17 und lebt mit ihrem Vater, einem strenggläubigen Religionsgelehrten, in der jüdischen Gemeinde von Silwan, einem vorwiegend von Palästinensern bewohnten Stadtteil Ost-Jerusalems. Ihr Haar ist so rot wie das Fell des gerade zur Welt gekommenen Kalbs, von dem sich ihr Vater und seine Anhänger die lang ersehnte Erlösung versprechen. Benny soll sich um das Jungtier kümmern – dabei fühlt sie sich im religiösen Dogmatismus ihres Vaters, mit dem sie groß geworden ist, schon seit langem nicht mehr zuhause. Als die gleichaltrige Yael in die Gemeinde kommt, um dort ihren Wehrersatzdienst zu leisten, gerät Bennys streng geregeltes Leben gänzlich aus den Fugen: Plötzlich ist da ein körperliches Begehren, das ihren eigenen Glauben in Frage stellt – und noch mehr den des Vaters… Tsivia Barkai Yacov erzählt in ihrem Langfilmdebüt vom sexuellen Erwachen eines Mädchens, das nicht nur einen Familien- sondern auch einen Glaubens- und Ideologiekonflikt überwinden muss, um zu sich selbst zu finden. Auf dem Jerusalem Film Festival wurde „Das Mädchen mit den roten Haaren“ mit gleich drei Preisen ausgezeichnet. Tania Witte hat den Film, den es jetzt als DVD und VoD gibt, für uns gesehen.

Foto: Edition Salzgeber

Ein Kalb namens Smaragd

von Tania Witte

Die Texttafel, mit der der Film beginnt, ist zunächst kryptisch. Zitiert wird das 4. Buch Mose, Kapitel 19. Um eine rote Kuh geht es da, besser noch ein Kalb, das geschlachtet und verbrannt werden und mit dessen Asche man sich reinigen solle, ehe man den Tempel auf dem Berg beträte, um zu beten. Den Tempel gibt es seit etwa 70 nach Christus nicht mehr, aber die Rote Kuh ist ein Symbol. Ein Symbol, das sich durch den gesamten Film zieht.

Dann füllen Haare das Bild, überall Haare, lang, rot – und schon ist die Verbindung zum Tora-Zitat gezogen. Das Haar gehört der siebzehnjährigen Binyamina, kurz Benny, die mit ihrem Vater Yehoshua in Silwan lebt, einem vorwiegend von Palästinensern bewohnten Stadtteil Ostjerusalems. Seitdem ihre Mutter bei der Geburt starb, führen die beiden ein vertrautes und streng religiöses Familienleben, das von gemeinsamen Gebeten und Ritualen bestimmt wird. Sogar den Gebetsriemen, den Tefillin, darf Benny anlegen – ein Ritual, das im orthodoxen Judentum ausschließlich Männern vorbehalten ist. In der kleinen Community, in der sie leben, sind Benny und Yehoshua Außenseiter. Auf sehr unterschiedliche Arten.

Doch in der gewachsenen Nähe zwischen Vater und Tochter zeichnen sich zarte Risse ab. Denn Yehoshua, so liebend und sorgend er sein mag, ist auch ein strenggläubiger Patriarch, und der Wiederaufbau des Tempels auf dem Tempelberg ist sein erklärtes Ziel, um jeden Preis.

Als die Großmutter, die Benny aufzog, stirbt, werden die Risse zu Brüchen. Mitten in den siebentägigen Trauerprozess hinein wird ein Kalb geboren, „rot, vollkommen rot“, und es verspricht Yehoshua die Erlösung, wie die Tora sie vorhersagt. In der Entscheidung, ausgerechnet seiner Tochter die Pflege dieses in seiner religiösen Bedeutung unschätzbar wertvollen Tieres zu übertragen, zeigt sich erneut eine Offenheit, die im Gegensatz zu Yehoshuas ansonsten extrem radikalen Denken steht.

„Das Mädchen mit den roten Haaren“ zeigt die sozialen Konflikte Israels auf, die politischen, die religiösen. Für Menschen, die nicht um die Bedeutung roter Kühe wissen, nicht um die Brisanz des Tempelbergs, nicht um die Zerrissenheit zur Frage auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, nicht um die heiligen Stätten und Feste des Judentums, bleibt ein Großteil dieses Handlungsstranges unklar. Doch ungeachtet dieser Leerstellen und der diversen Metaebenen, die man aus Unwissenheit vielleicht verpasst, wird die Beklemmung spürbar: die Enge der kleinen Community, in der Benny auffällt, nicht nur ihres Namens oder des hellroten Haares wegen.

Foto: Edition Salzgeber

Natürlich besucht sie wie alle Mädchen Ehevorbereitungskurse und lernt die Reinigungsrituale kennen, sitzt sie mit ihnen ums Feuer und liest hebräische Gedichte, kifft und spielt Gitarre. Dass sie anders ist als die anderen Mädchen, wird deutlich, als Yael zu der Gruppe stößt. Yael leistet ihren Wehrersatzdienst im Ort und wird von Yehoshua zur Fremdenführerin ausgebildet. Benny ist fasziniert, ein Ausflug ins Ruinendorf Lifta bringt die beiden Mädchen nah … und näher. „Manchmal“, gesteht Benny Yael, als sie kiffend in einer Ruine sitzen, die anderen Mädchen werweißwo, „komme ich mir vor wie ein echter Goj.“ Ein Nichtjude also, ein Ungläubiger. Warum? „Weil ich androgyn bin.“ Yael überlegt kurz, dann sagt sie: „Sie sagen, dass Josef halb Mann, halb Frau war.“

Die unschuldige Nacht in der Ruine öffnet etwas in Bennys Bewusstsein. In den folgenden Tagen sorgen die beiden jungen Frauen gemeinsam für das Kalb, das Sinnbild für so vieles ist. Sie taufen es „Smaragd“. Yael offenbart Benny ihre Narben, Narben ganz realer, selbstzugefügter Schnitte. „Es beruhigt mich“, gesteht sie.

Foto: Edition Salzgeber

Kurz darauf offenbart sich Benny Yael, subtil, und in der Farblinie wieder rot. „Mein Körper steht in Flammen“, klagt sie und wenig später schlafen die beiden miteinander, in unprätentiösen, wenig reißerischen Bildern. Kurz schweigt die Welt, dann zieht sie sich immer enger.

„Etwas stimmt nicht mit uns“, sagt Yael. „Warum können wir nicht fröhlich sein?“, will Benny wissen. Und alles kippt. Aus den Brüchen zwischen Benny und ihrem Vater werden Spalten, aus den Spalten Welten. Bennys Leben implodiert, als Yael verschwindet, als ihr Vater sie wissen lässt, dass er ihre Liebe verabscheuungswürdig und sie selbst krank findet. Das Ende ist still, poetisch und zwangsläufig.

Foto: Edition Salzgeber

Die israelische Regisseurin Tsivia Barkai Yacov, die selbst in einer Siedlung orthodoxer Juden aufwuchs, fängt vieles ein und zeigt noch mehr auf – in staubigen Bildern, denen ausgerechnet die Farbe entzogen ist, um die es, buchstäblich und im übertragenen Sinne, im gesamten Film geht. Es gibt wenig Dialoge, noch weniger Erklärungen, dafür Stimmungen und Momente und lange, stille Bilder.

„Das Mädchen mit den roten Haaren“ ist ein vielfach ausgezeichneter Film, der von weit mehr handelt als nur von einem Coming-out. Es geht um Familienkonflikte, um Religion, Glauben und Ideologien, um Radikalismus und Toleranz, um Liebe verschiedenster Formen.




Das Mädchen mit den roten Haaren
von Tsivia Barkai Yacov
IL 2018, 90 Minuten, FSK 6,
hebräische OF mit deutschen UT
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD (deutsche Fassung): € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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